Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik

Kaum ein Gesetz der Physik wurde so oft für theologische Zwecke herangezogen wie der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der auch ‚Entropiesatz‘ genannt wird. Die einen behaupten, dass er Wunder verbietet, insbesondere die Auferstehung der Toten. Andere sagen, dass er erst nach dem Sündenfall in Kraft trat oder dass er die Entstehung von Leben auf der Erde durch natürliche Prozesse unmöglich macht. Bevor ich diskutiere, was an diesen Behauptungen dran ist, möchte ich den Entropiesatz ein wenig erklären:

Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass in einem abgeschlossenen System nur solche Prozesse ablaufen, bei denen sich die Entropie erhöht. ‚Entropie‘ wird oft mit ‚Unordnung‘ gleichgesetzt, doch das trifft es nicht ganz. Die Entropie eines Zustands ist größer, wenn er durch eine größere Zahl von Anordnungen realisiert werden kann. Für ein Gas in einer Kammer heißt das, dass eine gleichmäßige Verteilung der Atome über die Kammer die größte Entropie hat; denn wenn man alle denkbaren Anordnungen der Atome in der Kammer betrachtet, haben die allermeisten dieser Anordnungen ungefähr gleich viele Atome in jedem Teil der Kammer. Selbst wenn man am Anfang alle Atome des Gases in eine Ecke der Kammer setzt, bleiben sie nicht dort, denn durch die Stöße untereinander und mit der Wand wird jedes Atom im Laufe der Zeit an alle Orte in der Kammer gebracht. Der Entropiesatz ist auch dafür zuständig, dass die Milch sich im Kaffee gleichmäßig verteilt. Auch überall, wo es Reibung gibt, wird die Entropie erhöht, da Reibung Wärme erzeugt, also ungeordnete Bewegung von Atomen. Diese hat viel mehr Entropie als die systematische Bewegung, die durch die Reibung abgebremst wird.

Wenn ich in der Küche aufräume, muss ich oft an den Entropiesatz denken: Unordentliche Verteilungen des Geschirrs in der Küche lassen sich leider auf viel mehr Arten realisieren als ordentliche Verteilungen, und deshalb siegen die unordentlichen Verteilungen mit der Zeit – wenn man nicht Energie investiert, um Ordnung zu schaffen. Und das bringt mich zu einem wichtigen Punkt: Der Entropiesatz verbietet nicht das Entstehen von Ordnung, aber er sagt, dass das etwas kostet: Wenn an einer Stelle die Entropie reduziert wird, muss sie an anderer Stelle anwachsen, damit sich insgesamt die Entropie des Universums erhöht. Wenn ich in der Küche aufräume, verbrauche ich Energie aus der Nahrung und dem eingeatmeten Sauerstoff, und ich gebe Wärme, Kohlendioxid und Wasserdampf nach außen ab. Diese drei Prozesse erhöhen die Entropie meiner Umgebung. Ähnlich ist es, wenn Leben entsteht: Wenn ein Lebewesen heranwächst, wird zwar eine hochgeordnete Anordnung von Atomen erzeugt; doch bei diesem Prozess wird Nahrung in kleinere Bestandteile zerlegt und als unordentlicher brauner Haufen wieder abgegeben; Kohlendioxid und Wasserdampf werden ausgeatmet, und Wärme wird an die Umgebung abgegeben. All dies lässt die Entropie anwachsen.

Auch die Erde als Ganzes ist kein abgeschlossenes System. Sie erhält ja Energie durch die Sonnenstrahlung, die alle Lebensprozesse auf der Erde antreibt. Dabei erhöht sich die Entropie des Universums, denn die Erde strahlt all die Energie, die sie von der Sonne bekommt, als Wärmestrahlung wieder ans kalte Weltall ab. Diese Wärmestrahlung hat eine viel größere Wellenlänge und damit eine kleinere Frequenz als die Strahlung, die von der Sonne kommt. Nun besteht Strahlung aus lauter keinen Energiepaketen, deren Größe proportional zur Frequenz ist. Das sagt uns die Quantenphysik. Das Leben auf der Erde verwandelt also die großen Energiepakete der Sonne in viele kleinere um. Folglich strahlt die Erde viel mehr Energiepakete in den Weltraum ab, als sie von der Sonne empfängt, und gibt dem Universum mehr Entropie ab, als sie selbst aufnimmt. Das Entstehen und Fortbestehen des Lebens steht somit nicht im Widerspruch zum Entropiesatz. Im Gegenteil: Die Entropie des Universums wird durch das Leben stärker erhöht, als es ohne das Leben der Fall wäre, weil eine unbelebte Erde weniger kalte und mehr warme Strahlung ans Weltall abgeben würde.

Was ist von dem Gedanken zu halten, dass es eine Zeit gab, in der der Entropiesatz nicht galt? Das behaupten ja diejenigen, die den Entropiesatz auf den Sündenfall des Menschen zurückführen. Diese These ist unhaltbar. Sie beruht auf der irrigen Vorstellung, dass der Entropiesatz nur Unordnung und Zerstörung anrichtet. Doch er ist die Grundlage aller Abläufe im Universum. Er treibt sogar das Entstehen von Sternen an: Wenn Materie sich zu Sternen verdichtet, folgt sie der Gravitationskraft und wird dabei beschleunigt. Dabei wird ein Teil der Materie nach außen weggeschleudert, und durch Stoß- und Reibungsprozesse wird viel Strahlung abgegeben. So erhöht sich die Entropie des Universums bei der Entstehung eines Sterns, auch wenn die Sternmaterie selbst auf ein kleineres Volumen (und damit eine kleinere Entropie) eingeschränkt wird. In der Folgezeit wird durch die Kernfusion im Inneren der Sterne viel weitere Energie frei, die nach außen abgegeben wird und ebenfalls die Entropie des Universums erhöht. Wenn wir mit unseren Teleskopen in die Tiefen des Weltalls blicken, sehen wir, dass diese Abläufe im Universum früher nicht anders waren als heute und dass die Naturgesetze folglich immer dieselben waren. Dies habe ich auch im Blogbeitrag über Tod und Leid in der Natur ausgeführt.

Eingangs erwähnte ich, dass der Entropiesatz in abgeschlossenen Systemen gilt. Dasselbe gilt auch für den Energieerhaltungssatz. Aber ist das Universum ein abgeschlossenes System? Geht keine Energie und keine Materie (die wegen E=mc2 ja auch eine Energieform ist) hinein oder heraus? Mit Sicherheit können wir dies nicht sagen, doch wir beobachten bisher nichts Gegenteiliges bei unseren physikalischen Untersuchungen. Diese Beobachtung wird manchmal dazu verwendet zu argumentieren, dass Gott nicht in der Welt handeln kann, da er ansonsten die Energieerhaltung oder den Entropiesatz verletzten müsste. Doch müsste er das wirklich? Wenn wir Menschen in der Welt handeln, werden diese beiden Sätze ja auch nicht verletzt, obwohl auch dabei nichtmaterielle Realitäten (unsere Ideen, Visionen, Werte, …) materielle Auswirkungen haben. Daher sehe ich keinen Grund, warum Gottes Handeln in der Welt in Konflikt mit den von ihm der Welt auferlegten Naturgesetzen stehen sollte. Das habe ich ausführlich im Blogbeitrag „Lassen die Naturgesetze Raum für Gottes Wirken?“ besprochen. Anders sieht es bei bestimmten Wundern aus, insbesondere der Auferstehung Jesu aus dem Grab. Das geht schwerlich ohne Verstoß gegen den Entropiesatz, auch wenn man Szenarien konstruieren kann, bei denen die Entropie des Universums dennoch anwächst. Ähnlich ist es mit der Energieerhaltung: Wenn der auferstandene Körper Jesu aus der Welt geht, verschwindet Materie aus ihr. Das könnte freilich durch Erzeugung von Materie oder Strahlung kompensiert werden, doch ich sehe keinen Grund, warum dieses außergewöhnliche Ereignis den gewöhnlichen Naturgesetzen gehorchen sollte: Die Auferstehung Jesu ist ein Vorgeschmack der neuen Schöpfung, und diese wird anderen Gesetzen gehorchen als die alte.

Hinweise: In früheren Blogbeiträgen habe ich erwähnt, dass der Entropiesatz nicht die biologische Unsterblichkeit verbieten würde, dass wegen ihm schon vor der Entdeckung des Urknalls ein Anfang des Universums postuliert wurde, und dass er von einigen Physikern für das wichtigste Gesetz der Physik gehalten wird.

In diesem Blogbeitrag war kein Platz, die ungeklärten wissenschaftlichen Fragen, die den Entropiesatz umgeben, anzusprechen. Sie hängen damit zusammen, dass es keine universelle Formel für die Entropie gibt, wenn ein System nicht im thermischen Gleichgewicht ist.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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