Lassen die Naturgesetze Raum für Gottes Wirken?

Manchmal begegnet mir die Auffassung, dass Gott keine Gebete erhören kann, weil die Naturgesetze alles festlegen, was passiert. Dahinter steckt eine veraltete, aber immer noch weit verbreitete Sicht der Naturgesetze. Sie geht auf den Erfolg der Newtonschen Mechanik zurück. Die drei Gesetze Newtons, verbunden mit dem Gravitationsgesetz, konnten sowohl die Keplerschen Gesetze über die Planetenbahnen, als auch die Gesetze von Galilei über das Verhalten fallender und geworfener Objekte erklären. Viel mehr noch: Wenn man den Ort und die Geschwindigkeit aller Objekte kennt und alle Kräfte zwischen ihnen, legen die Newtonschen Gesetze fest, wie sie sich zukünftig bewegen. Diese Einsichten führten im 18. Jahrhundert zu einem mechanistischen Weltbild: Man stellte sich die Welt wie ein Uhrwerk vor, das Gott bei der Schöpfung aufgebaut hat, und das seitdem seinen von Anfang festgelegten unabänderlichen Verlauf nimmt. Einige gingen sogar noch einen Schritt weiter und schafften Gott ganz ab und postulierten, dass die Welt nicht geschaffen, sondern ewig sei.

Obwohl im 20. Jahrhundert die Chaostheorie und die Quantentheorie dieses mechanistische Weltbild erschüttert haben, halten eine Reihe von Physikern weiterhin an einer abgewandelten Version fest. Sie möchten die gesamte Physik zurückführen auf die vier fundamentalen Kräfte (Gravitation, elektromagnetische Kräfte, starke und schwache Kernkraft) und die Elementarteilchen, aus denen sich die Materie zusammensetzt. Das, was sich auf der „fundamentalen“ mikroskopischen Ebene abspielt, legt also nach Auffassung vieler Physiker alles fest, was in unserer Alltagswelt passiert, weil diese ja aus den Materiebausteinen zusammengesetzt ist. Man spricht heute allerdings nicht mehr von einem mechanistischen Verständnis der Natur, sondern von einem reduktionistischen oder physikalistischen Weltbild. Alles Geschehen in der Natur ist letztlich reduzierbar auf die fundamentalen Gesetze der Physik. Manche Wissenschaftler zählen zu den 'fundamentalen Gesetzen' nicht nur diejenigen, die die Elementarteilchen und die vier Kräfte beschreiben, aber meinen dennoch, dass ausschließlich Gesetze der Physik den Lauf der Dinge bestimmen. Auch sie haben eine physikalistische Sicht (die allerdings nicht reduktionistisch ist).

Auch viele Christen akzeptieren dieses Verständnis der Natur. Damit ergibt sich die Frage, ob und wie Gott in der Welt handeln kann, wenn die fundamentalen Naturgesetze alles Geschehen festlegen. Ich habe eingangs erwähnt, dass einige an Gott Glaubende weitgehend ausschließen, dass Gott Gebete erhören kann. Doch es gibt auch mehrere Denkansätze, die ein physikalistisches Verständnis der Natur mit Gottes persönliches Handeln vereinbaren: Der erste Ansatz geht davon aus, dass während alle Atome exakt und vollständig den Gesetzen der Physik gehorchen, gleichzeitig die Bewegung der Atome den von Gott gewollten Handlungen entspricht (Kompatibilismus). Dies klingt allerdings für viele, auch für mich, sehr unplausibel, ja mysteriös. Der zweite Ansatz meint, dass Gott bei der Erschaffung des Universums aufgrund seiner Allwissenheit schon all sein zukünftiges Handeln, inklusive der Gebetserhörungen, von Anfang an mit eingebaut hat (Determinismus). Dies würde allerdings bedeuten, dass die detaillierte Position der Elementarteilchen und die Quantenfluktuationen kurz nach dem Urknall schon in irgendeiner Form alles beinhaltet haben, was später passieren würde. Dies passt nicht zu der Erkenntnis, dass das frühe Universum im thermischen Gleichgewicht war, also keine versteckte Information über die Zukunft enthalten konnte. Ein dritter Ansatz postuliert, dass Gott jederzeit eingreifen und den Lauf der Dinge ändern könne (Interventionalismus). Sein Eingreifen sei wie eine zusätzliche Kraft, die vorübergehend einwirkt. Dadurch würde der künftige Lauf der Dinge anders, als er ohne diese Einwirkung gewesen wäre. Eine brillante Verteidigung dieser Sicht findet man im Buch „Miracles“ („Wunder“) von C.S. Lewis. Ich kenne persönlich einige Wissenschaftler und Philosophen, die diese Sicht vertreten.

Ich teile das diesen drei Sichtweisen zugrunde liegende Verständnis der Natur nicht und damit auch keine dieser Sichtweisen. Der Ausgangspunkt für all diese Überlegungen ist nämlich, dass die Naturgesetze allein ausreichen, um den Lauf der Welt festzulegen. Dafür müssten die Naturgesetze wirklich allumfassend und vollständig präzise sein. Die Philosophen sprechen auch von der „Kausalen Geschlossenheit“ der Physik: Sie bedeutet, dass jedes Geschehen in der physikalischen Welt, also z.B. jede Bewegung eines Objekts, eine rein physikalische Ursache hat. Doch dem ist nicht so. Betrachten wir als Beispiel die Abläufe im menschlichen Gehirn. Wir können naturwissenschaftlich beschreiben, wie elektrische und chemische Signale durch das hochverknüpfte Netzwerk von Gehirnzellen laufen. Wenn wir ganz genau messen könnten, was in jeder Zelle und an jeder Synapse passiert, würden wir gewiss keinen Verstoß gegen die Gesetze der Physik und Chemie finden. Viele Details würden allerdings unberechenbar, also zufällig, erscheinen, wie es in der mikroskopischen Welt üblich ist.

Nun fokussieren wir uns konkret auf meine Gehirnaktivität, während ich diesen Text schreibe. Mein Schreiben ist geleitet von einer Vorstellung darüber, welche Botschaft ich vermitteln möchte und wie der logische Aufbau meiner Argumentation sein soll. Wo in meiner Gehirnaktivität stecken die Absicht und die Logik, die mein Schreiben leiten? Wir können beides nicht dingfest machen und nicht mit physikalischen Messmethoden nachweisen. Und trotzdem beeinflusst beides mein Gehirn. Die physikalischen und chemischen Abläufe in meinem Gehirn sind also „kausal offen“ für Einflüsse aus einer nichtphysikalischen, ja sogar nichtmateriellen Welt. Das Gehirn ist so beschaffen, dass es diese Einflüsse aufnehmen kann, so dass wir logisch denken, Entscheidungen fällen und Ziele verfolgen können. Eine wenn auch schwache Analogie hierfür ist ein Computer: während er rechnet, passiert in seinem Innenleben bestimmt nichts, was gegen die Gesetze der Physik verstößt. Gleichzeitig führt er aber Berechnungen aus, deren Logik eine ganz eigene, nicht materielle ist.

Diese Überlegungen helfen uns bei der Eingangsfrage, ob die Naturgesetze Raum für Gottes Wirken lassen. Die Überlegungen zeigen, dass die Naturgesetze nicht so engmaschig und umfassend sind, dass sie das gleichzeitige Wirken weiterer Einflussfaktoren ausschließen. Es wäre auch extrem seltsam, wenn Gott eine Welt geschaffen hätte, zu der er eine liebende Beziehung möchte, aber die Naturgesetze so eingerichtet hätte, dass sie nicht für sein beständiges Wirken in der Welt offen sind. Freilich sind die Naturgesetze an sich auch schon ein Ausdruck von Gottes Handeln. Sie sind sein erhaltendes Wirken. Der zuverlässige Ablauf der Natur ist eine Grundlage dafür, dass wir Menschen planen und handeln, Geräte konstruieren und medizinische Behandlungen entwickeln können u.s.w. Doch nach christlichem Verständnis beschränkt sich Gottes Beziehung zu seiner Welt nicht darauf, sie am Laufen zu erhalten. Gott kann uns führen, Umstände lenken, Gebete erhören, Heilung und Kraft schenken. Meiner Meinung nach kann Gott dies tun, ohne dass hierbei irgendein physikalisches Messinstrument eine Abweichung von dem gesetzmäßigen Ablauf der Natur feststellen könnte, ganz analog zu dem, was ich weiter oben zum Gehirn geschrieben habe. Hier liegt der Unterschied zwischen der von mir vertretenen Auffassung und der oben erwähnten interventionalistischen Sicht: Bei der interventionalistischen Sicht könnte man im Prinzip nachweisen, dass eine zusätzliche Kraft eingewirkt hat, die von außerhalb der Physik kommt, weil sie eine Abweichung von dem durch die Physik vorgegebenen Ablauf hervorruft. Wer die kausale Offenheit vertritt, meint dagegen, dass die Gesetze der Physik gar nicht ausreichend sind, um einen Lauf der Dinge vorzugeben.

Hierbei meine ich aber nicht, dass Gott sein Handeln im Quantenzufall versteckt. Manche stellen es sich ja so vor, dass Gott den Ausgang jedes Quantenereignisses so lenkt, dass viele Quantenereignisse in Kombination genau das hervorbringen, was Gott möchte. Nein, Gott wirkt nicht vom Mikroskopischen nach oben in der Hierarchie der Dinge, sondern er wirkt von oben nach unten, also vom Gesamten auf die Teile. Kein Teil der physikalischen Welt ist völlig isoliert und allein seinen inneren Abläufen überlassen. In Laborexperimenten schaffen wir es näherungsweise, einen Teil der Welt zu isolieren und auf diese Weise physikalische Gesetze ungestört von der Außenwelt dingfest zu machen. Doch selbst im Labor können wir nicht den Einfluss der Gravitation ausschalten oder verhindern, dass jede Sekunde einige Trillionen Neutrinos den Raum durchqueren. Alle Objekte sind in eine Umgebung eingebettet, von der sie nicht vollständig getrennt werden können. Viele Objekte sind für ihr Fortbestehen sogar auf eine beständige Interaktion mit der Umgebung angewiesen. Lebewesen sind das deutlichste Beispiel hierfür: Ohne Nahrung und Sauerstoff, ohne Kontakt zu anderen Lebewesen und ohne Signale aus der Außenwelt müssen sie eingehen. Einflüsse aus der Umgebung haben alle heute existierenden Objekte gestaltet. Die Umgebung hat auch einen großen Einfluss darauf, welche Veränderungen (inklusive Quantenereignissen!) überhaupt in einem Objekt stattfinden können.

Die Einflüsse vom Größeren Ganzen auf ein Objekt nennt man „abwärtsgerichtete Kausalität“ (auf Englisch „Top-Down Causation“). Diese abwärtsgerichtete Kausalität ist für mich das beste Erklärungsmodell dafür, wie Gott in dieser Welt wirkt. Freilich ist Gott kein innerweltlicher Einfluss. Doch wir haben im Zusammenhang mit dem Gehirn erwähnt, dass auch aus der nichtmateriellen Welt Einwirkungen auf die materielle Welt stattfinden. Wie genau das passiert, ist freilich nicht verstanden. Mir genügt es zunächst einmal, gute Gründe dafür zu haben, dass es diese Einflüsse gibt.

Jetzt werden sich manche Leser die Frage stellen, ob Gott wirklich nie gegen die Gesetze der Natur verstößt, wenn er in dieser Welt handelt. In Bezug auf Gottes „alltägliches“ Handeln bin ich hiervon überzeugt. Doch was ist mit Gottes besonderem Handeln in besonderen Wundern? Wie ist es insbesondere bei der Auferstehung Jesu? Manchmal frage ich mich tatsächlich, was ein Team von Physikerinnen gemessen hätte, die bei der Auferstehung Jesu daneben gestanden wären und alles hätten messen dürfen, was man messen kann. Vielleicht hätte dieses Team gar keinen Verstoß gegen ein Gesetz finden können? Doch da die Auferstehung Jesu und auch seine anderen Wunder ein Vorgeschmack auf Gottes Neue Schöpfung sind, halte ich es für sehr plausibel, dass hierbei tatsächlich die naturgesetzlichen Abläufe der alten, jetzigen Schöpfung gesprengt wurden. Hier sind wir an der Grenze unserer Erkenntnismöglichkeit angelangt….

Hinweis: Einen ähnlichen Text wie diesen habe ich kürzlich auf Englisch für das Creation Projekt am Henry Center geschrieben. Dort stehen noch vier weitere Texte von anderen Autoren.

Ein Beispiel dafür, wie Gottes Handeln im Leben eines Menschen konkret aussehen kann, habe ich am 1.1.21 („Der Schmuggler Gottes“) gepostet.

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