Long Covid

Es hat mich getroffen: Long Covid. Genaugenommen kann ich nicht nachweisen, dass es Long Covid ist, denn die Schnelltests waren immer negativ. Und weil die Infektion, die im August im Urlaub geschah, so leicht war, machte ich keinen PCR-Test. Doch die Symptome passen nach Aussage mehrerer Ärzte genau zum Corona-Virus. Seit der Infektion war ich nur wenig körperlich belastbar und hatte insbesondere Mühe beim Treppensteigen. Da ich mich wohl nicht genügend schonte, verschlimmerte sich mein Zustand mehrfach. Nach acht Wochen ging gar nichts mehr: Ungefähr sechs Wochen lang lag ich tagsüber fast nur auf dem Sofa. Selbst der Weg ins Bad war anstrengend und trieb Blutdruck und Puls in die Höhe. Zum Waschen und Zähneputzen setzte ich mich, weil Stehen zu viel Kraft kostete. Mein Mann machte den gesamten Haushalt und brachte sogar das Essen ans Sofa, weil der Weg zum Hocker in der Küche zu mühsam war. Lesen und Email-Schreiben konnte ich nur in kleinen Portionen. Zoom-Besprechungen gingen gar nicht. Ich musste sämtliche Termine und beruflichen Verpflichtungen absagen. Zum ersten Mal in mehr als 20 Jahren konnte ich meine Vorlesung wegen Krankheit nicht halten. Zum Glück hatte ich genau diese Vorlesung einige Semester vorher per Zoom gehalten und aufgezeichnet. So konnte ich die Videos hochladen – schrittweise, wann immer ich ein wenig Kraft dafür hatte. Neue Blogeinträge erschienen nur deshalb, weil ich sie schon Monate vorher geschrieben und das Erscheinungsdatum programmiert hatte. Zu Arztbesuchen musste ich mich mit dem Auto fahren lassen. Die 200 Meter zur Straßenbahn waren viel zu weit, und an Fahrradfahren war gar nicht zu denken. Ein Arzt hatte mir gesagt, dass ich nichts tun könne außer zu warten und meinem Körper so viel Ruhe zu gönnen, wie er verlangt. Dieser Zustand würde wahrscheinlich mehrere Wochen anhalten.

Die Besserung kam schleichend langsam und mit viel Auf und Ab. Irgendwann konnte ich wieder in die Küche gehen für die Mahlzeiten. Zunächst nur ab und zu, und später dann regelmäßig. Der Tag, an dem ich ein wenig beim Kochen helfen konnte, indem ich Zwiebeln kleinschnitt, war schon fast ein Fest. Anfang Dezember versuchte ich den ersten Spaziergang. Ich schaffte 100 Meter, dann musste ich umdrehen. Eine Woche später kam ich schon doppelt so weit. Ab Weihnachten konnte ich eine 20-minütige Runde gehen. Als ich zum ersten Mal zur Straßenbahn gehen und zum Weihnachtsmarkt fahren konnte, war ich unendlich dankbar. Denn nichts mehr ist selbstverständlich nach der Erfahrung, die ich gemacht habe. Leider gibt es auch immer wieder Rückschritte, so dass noch nicht absehbar ist, wann ich wieder ganz gesund sein werde... (Nachtrag vom 25.1.: Inzwischen hab ich einen Rückfall in den Zustand von vor 3 Monaten.)

Was machte diese Erfahrung mit mir als Wissenschaftlerin und als Christin? Die Wissenschaftlerin in mir war zunächst froh, dass das Krankheitsbild „Long Covid“ inzwischen bekannt ist. In der Anfangszeit von Corona haben viele Patienten erlebt, dass ihre Schwäche als psychisch abgetan wurde oder dass sie in der Reha an Trainingsgeräten ausgepowert wurden und ihr Zustand sich dadurch nur verschlimmerte. Auch ich erlebte einiges Unverständnis für meinen Zustand. Ich konnte es manchmal selbst kaum glauben und fühlte mich, als wäre ich in einem Traum, aus dem ich bald erwachen würde. Als Wissenschaftlerin bedaure ich aber auch, dass die medizinische Forschung noch nicht weiter ist und noch keine echte Heilungsbehandlung kennt. Schon vor Corona gab es postvirale Erschöpfungen, und unzählige Menschen leiden schon seit Jahren an sehr starken Einschränkungen durch ME/CFS (umgangsprachlich oft „chronic fatigue syndrom“ genannt). Und natürlich wurde meine wissenschaftliche Arbeit stark durch die Krankheit eingeschränkt. Ich musste Reisen zu Vorträgen und Workshops und sogar Zoom-Diskussionen, auf die ich mich sehr gefreut hatte, absagen. Der fachliche Austausch war für einige Monate unmöglich geworden. Ebenso unmöglich konnte ich meine Arbeitsgruppe betreuen, und das in einer Phase, in der ich drei Doktoranden frisch eingestellt hatte... Doch meine Arbeitsgruppe arrangierte sich beeindruckend mit der Situation; sie organisierten Treffen untereinander, und die Erfahreneren halfen den Neuen. Wenn mir jemand per Email eine Zusammenstellung der neuesten Ergebnisse schickte, dauerte es anfangs länger, bis ich genug Energie zumindest für eine kurze Antwort hatte. Im Laufe der Wochen kamen meine Antworten schneller und wurden ausführlicher.

Als Christin forderte mich die Krankheit sehr heraus. Ich glaubte zwar im Kopf, dass ich in Gottes Hand bin und ihm vertrauen darf, doch der Sorgengeist packte mich immer wieder. Mein Mann war ebenfalls recht erschöpft, und ich erschrak vor der Vorstellung, dass er auch ausfallen könnte. Dann wären wir ganz auf Hilfe von außen angewiesen. Und ich hatte keine Garantie, dass meine Genesung schnell gehen würde oder dass ich überhaupt jemals ganz genesen würde. Gleichzeitig mit den Sorgen empfand ich eine tiefe Dankbarkeit: Ich habe einen Mann, der mich in dieser Situation versorgt; die Krankheit verursachte mir keine finanziellen Probleme oder Sorgen um meinen Arbeitsplatz; ich hatte keine Schmerzen, sondern „nur“ einen extrem kleinen Energietank; mehrere Leute aus unserer Kirchengemeinde boten Hilfe an, falls wir sie benötigen; als meine Hausärztin in Urlaub war, geriet ich an einen Vertretungsarzt, der meine Symptome sehr treffsicher einordnete und mir die richtigen Tipps zum Umgang mit der Krankheit gab; eine weitere Ärztin kam auf Hausbesuch und gab mir eine kräftigende Infusion; selbst wenn ich nicht mehr ganz gesund werden sollte, habe ich einen beträchtlichen Teil meines Lebens schon gelebt. Eine junge alleinerziehende Mutter in einem prekären Anstellungsverhältnis wäre mit dieser Krankheit unendlich viel schlechter dran als ich. Ich nehme mir vor, in Zukunft viel mehr die Augen offen zu halten, wo ich anderen helfen kann, denn es gibt so viele Menschen in Not…

Die Krankheit vertiefte meinen Glauben. Weil ich zeitenweise nur dalag und nichts tun konnte, betete ich viel. Ich schüttete Gott mein Herz aus. Ich sprach mit ihm über mein Leben und darüber, was sich in Zukunft ändern sollte. Ich übte mich im Loslassen und im Erleben des Augenblicks. Ich betete für die Menschen aus meiner Umgebung. Und ich lernte Psalmen auswendig. Besonders sprachen mich Psalm 103 und Psalm 116 an. Ich machte sie zu meinen eigenen Gebeten und meditierte nachts vor dem Einschlafen über einige Verse dieser Psalmen. Ich nahm mir vor, in Zukunft mehr in Abhängigkeit von Gott zu leben und in Alltagssituationen mehr mit Ihm im Gespräch zu bleiben und mich von Ihm leiten zu lassen.

Die Krankheit veränderte auch meine Prioritäten. Obwohl ich in den vergangenen Jahren einige Maßnahmen ergriffen hatte, um Stress zu reduzierten, war dies noch nicht genug. Ich möchte noch entspannter leben und mehr Zeit für Menschen haben. Selbst wenn ich verglichen mit manchen Kollegen wenig Dienstreisen machte, möchte ich noch bewusster überlegen, welche Reisen und Vorträge nötig und wichtig sind, und wo mehr Zeit für private Dinge bleiben soll. Der Vorsatz, Stress zu reduzieren, wirkt sich auch auf meinen Blog aus: Ich werde mich ab jetzt nicht mehr unter Druck setzen, alle 14 Tage einen Blogbeitrag zu veröffentlichen und für drei Monate im Voraus Beiträge fertig zu haben. Mein Vorrat ist nun ganz aufgebraucht, und ich werde nur dann am Blog schreiben, wenn trotz der neuen Prioritätensetzung Zeit und Kraft dafür übrig bleibt oder mir ein Thema so wichtig ist, dass ich etwas dazu schreiben muss. In Zukunft werden neue Blogeinträge also voraussichtlich unregelmäßig erscheinen. Lassen Sie sich überraschen….


Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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