Wie alt wurden Noah, Jakob und Mose?
Haben Sie sich schon einmal bewusst gemacht, dass laut dem biblischen Text der Erzvater Jakob über 70 Jahre alt war, als er von zuhause abhaute, um der Rache seines Zwillingsbruders Esau zu entgehen? Er floh in diesem reifen Alter zu seinem Onkel Laban, dessen beide Töchter er sieben Jahre später, also mit ca. 80 heiratete. In den darauf folgenden 13 Jahren wurde er Vater von 11 Söhnen, bevor er in seine Heimat zurückkehrte.
Das klingt seltsam, oder? Es steht auch nicht direkt so da, lässt sich aber aus verschiedenen anderen Angaben berechnen: Jakob war 130 Jahre alt, als er nach Ägypten zu seinem Sohn Josef zog (1. Mose 47,9). Josef war zu diesem Zeitpunkt knapp 40 Jahre alt. (Mit 30 Jahren wurde er Minister des Pharao, s. 1. Mose 41,46, und nach sieben Jahre mit reicher Ernte und zwei kargen Jahren holte er seine Brüder und seinen Vater zu sich nach Ägypten, s. 1. Mose 45,9). Also war Jakob bei Josefs Geburt 90 Jahre alt. Josef wurde gegen Ende des 20-jährigen Aufenthalts bei Laban (1. Mose 31,41) geboren. Also war Jakob, wie eingangs erwähnt, über 70, als er zu Laban kam.
Wenn man die Altersangaben als Kalenderjahre versteht, passt das einfach nicht. Und die Unstimmigkeiten gehen noch weiter: Zu dem Zeitpunkt, als Jakob zu Laban floh, war sein Zwillingsbruder Esau schon über 30 Jahre lang verheiratet, denn er heiratete mit 40 (1. Mose 26,35). Seine Eltern sagten also dem über 70-jährigen Jakob, er solle nicht, wie es Esau dreißig Jahre zuvor tat, eine fremde Frau nehmen, sondern eine aus der Verwandtschaft.
Weil diese ganzen Überlegungen daran hängen, dass Jakob mit 130 nach Ägypten kam, könnte man versuchen, die Unstimmigkeiten dadurch zu lösen, dass Jakob erst nach langer Zeit in Ägypten dem Pharao vorgestellt wurde, auch wenn dies unwahrscheinlich klingt. Mehr als 10 Jahre lassen sich damit allerdings nicht gewinnen, denn als Jakobs Vater Isaak mit 180 Jahren starb (1. Mose 35,28), war Jakob zwar von Laban heimgekehrt, aber noch nicht in Ägypten, denn er beerdigte seinen Vater zusammen mit Esau. Die Zwillinge Jakob und Esau waren zu diesem Zeitpunkt 120 Jahre alt, denn Isaak war bei ihrer Geburt 60 Jahre alt (1. Mose 25,26). Das bedeutet übrigens auch, dass Isaak noch 50 Jahre lang weiterlebte, nachdem er in Erwartung seines baldigen Todes seine Söhne gesegnet hatte - was ja der Anlass für Jakobs Flucht war, da Jakob seinen Bruder Esau dabei um den Erstgeburtssegen betrog.
Nicht nur Isaak wurde laut dem biblischen Text sehr alt (180 Jahre), sondern auch Abraham (175 Jahre, s. 1. Mose 25, 7) und Jakob (147 Jahre, s. 1. Mose 47,28). Wie bei Jakob ist auch bei Abraham nicht nur seine Lebensdauer unplausibel, sondern auch weitere Altersangaben, sowohl bei ihm als auch bei seiner 10 Jahre jüngeren Frau Sara. Sara war mit 65 noch so attraktiv, dass der Pharao sie haben wollte (1. Mose 12). Selbst mit 90 war sie immer noch sehr attraktiv, denn da wollte der König von Gerar, Abimelech, sie nehmen (1. Mose 20). Und in diesem hohen Alter gebar sie auch ihr erstes Kind, den Isaak. Selbst wenn man berücksichtigt, dass dies als besondere Gebetserhörung und Wunder beschrieben wird, ist 90 sehr unplausibel, ein paar Jahrzehnte vorher wäre Sara auch schon alt und nicht mehr gebärfähig gewesen, so dass ein jüngeres Alter auch zu der Geschichte passen würde. Nach Saras Tod (mit 127) nahm Abraham eine neue Frau (1. Mose 25), und mit dieser hatte er noch weitere Kinder.
Mit diesen unplausiblen Altersangaben kann man verschieden umgehen. Ein wortwörtliches Verständnis widerspricht Untersuchungen von Knochen und Zähnen in alten Gräbern. Diese Untersuchungen zeigen, dass die Menschen damals nicht älter wurden als heute. Eine Interpretation der Erzvätergeschichten, die auch viele Theologen vertreten, besteht darin, die Geschichten von Abraham, Isaak und Jakob und seinen Söhnen als weitgehend erfunden zu betrachten. Begründungen hierfür sind, dass es keine außerbiblischen Quellen gibt und dass einige Elemente der Geschichten unrealistisch sind. Aber der Ägyptologe Kenneth Kitchen hält dem entgegen, dass die Erzvätergeschichten genau in die Zeit passen, in der sie spielen: Die Art, wie Verträge gemacht, Götter verehrt, Erben bestimmt, Ehen geschlossen und Kinder mit Dienstmädchen gezeugt werden, ist für diese Zeit charakteristisch. Selbst der Preis, zu dem Josef als Sklave verkauft wird, passt genau in diese Zeit. Auch mir widerstrebt es anzunehmen, dass diese Geschichten erfunden sind. Die Erinnerung an die Vorfahren und Stammväter sollte doch ein kostbares Gut sein, das sorgfältig von Generation zu Generation weitererzählt wird. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Vorfahrengeschichten einfach erfunden wurden, auch wenn sie durch die lange Überlieferung gestaltet und auf eine intendierte Botschaft zugeschnitten sein können. Abraham, Isaak und Jakob werden in verschiedenen Büchern des Alten Testaments erwähnt als diejenigen, mit denen Gott einen Bund schloss. Selbst im neuen Testament merkt man etwas von der langen mündlichen Überlieferung über die Erzväter, als die Samariterin, der Jesus an einem Brunnen begegnet, erwähnt, dass dieser Brunnen vom Stammvater Jakob gegraben wurde (Joh 4,12). Daher möchte ich an der Historizität von Abraham, Isaak, Jakob und seinen Söhnen festhalten.
Darüber, wie die Altersangaben zustande kamen, gibt es verschiedene mögliche Erklärungen. In der damaligen Zeit oder bei der Überlieferung der Geschichte hat man das Alter vielleicht in anderen Einheiten gezählt. Zudem scheinen die Zahlen zumindest teilweise eine symbolische Bedeutung zu haben, denn bestimmte Zahlen kommen besonders häufig vor, z.B. die 40. Das ist auch bei Mose so: Mose flieht mit 40 (Apg. 7, 23) nach Midian (nachdem er den Ägypter erschlagen hat) und kehrt mit 80 (2. Mose 7,7) zurück, in Begleitung seiner zu Beginn des Aufenthalts in Midian geheirateten Frau und ihres kleinen Kindes, das unterwegs beschnitten wird. Mit 120 stirbt er (5. Mose 34,7).
Erst Recht geben die Altersangaben der vorsintflutlichen Zeit in 1. Mose 5 Rätsel auf. Laut dem Bibeltext lebten die damaligen Personen viele hundert Jahre. Kenneth Kitchen meint, dass man aus der damaligen Zeit wenig Namen, aber das Wissen um lange Zeitspannen hatte und deshalb die Altersangaben mit einem bestimmten Faktor multiplizierte. In der Tat sind die meisten Altersangaben durch 5 teilbar, also könnte mit 5 multipliziert worden sein. Wenn man die vorsintflutlichen Altersangaben durch 5 teilt, passt das Alter bei der Geburt des ersten Kindes in vielen Fällen ganz gut, aber nicht in allen, insbesondere nicht bei Noah, der erst mit 500 Vater wurde (1. Mose 5,32). Die Lebensdauer nach der Geburt des ersten Kindes ist auch nach dem Teilen durch 5 bei den meisten Personen unrealistisch groß, da viele Personen über 600 Jahre alt wurden. Kitchen schlägt vor, dass lange Lebenszeit nach dem Zeugen der Nachkommen (und, wie bei Noah, auch manchmal vorher) den ganzen Klan einschließen könnte. Ein ähnliches Zahlenproblem hat man auch in der außerbiblischen Literatur des Alten Orients: In der sumerischen Königsliste werden für die vorsintflutlichen Herrscher Herrschaftsdauern von mehreren 10000 Jahren genannt. Sie sind alle durch 600 teilbar. Das legt den Gedanken nahe, dass die ursprünglichen Zahlen mit 600 multipliziert wurden, um die langen Zeiträume vor der Flut abzudecken, von denen man eine Ahnung hatte, aber nicht genügend Namen. In der Tat führt das Teilen durch 600 auf plausible Regierungsdauern. Doch all dies bleibt Spekulation. So müssen wir uns am Ende damit begnügen, dass wir nicht alles nachvollziehen können und mit offenen Fragen leben müssen...
Literaturhinweis: Die Verweise auf Kenneth Kitchen betreffen wieder sein Buch „On the Reliability of the Old Testament“, das ich schon im Zusammenhang mit dem Exodus und der Sintflut erwähnt habe.
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