Noah und die Sintflut
Die Geschichte von Noahs Arche kennt fast jeder: Die Menschen auf der Erde taten soviel Böses, dass Gott beschloss, die Erde durch eine große Flut zu zerstören. Er befahl Noah, ein riesiges Holzboot zu bauen, weil er ihn vor der Flut retten wollte. Noah baute die Arche, und in ihr verbrachte er mit seiner Familie und (mindestens) einem Männchen und Weibchen von allen Landtieren die Zeit der Flut. Nach einem Jahr konnten Noahs Familie und die Tiere die Arche wieder verlassen und die Erde neu bevölkern.
Wer diese biblische Geschichte wortwörtlich nimmt, steht vor einem riesigen Berg an Schwierigkeiten. Wie kamen die Kängurus von Australien zu Noah und nach der Flut wieder zurück nach Hause? (Aus Fossilien wissen wir, dass Kängurus schon lange, bevor es Menschen gab, in Australien lebten.) Wie wurden die vielen Tiere während der 365 Tage in der Arche gefüttert, und wie wurden die Löwen daran gehindert, die Antilopen zu töten? Wieso haben wir keine genetischen Belege dafür, dass alle heutigen Tiere und Menschen jeweils von einem einzigen Paar, das vor wenigen Tausend Jahren lebte, abstammen? Wieso gibt es keine geologischen Belege für eine weltweite Flut?
Müssen wir also folgern, dass die Flutgeschichte ein reiner Mythos ist, ohne jeden historischen Hintergrund? Um welche Art von Literatur handelt es sich hier? Wie wurde sie von damaligen Lesern verstanden? Welche Botschaft wollten die Schreiber vermitteln?
Eine gute Antwort auf diese Fragen gibt das Buch „The Lost World of the Flood“ der beiden evangelikalen Alttestamentler Tremper Longman III und John Walton. Die folgenden Gedanken habe ich hauptsächlich diesem Buch entnommen. Einiges entnahm ich zudem dem Buch „On the Reliability of the Old Testament“ des Ägyptologen Kenneth Kitchen, das ich vor neun Wochen im Zusammenhang mit dem Auszug aus Ägypten schon einmal erwähnt habe. Die Autoren beider Bücher argumentieren, dass die ersten 11 Kapitel der Bibel, die auch die Sintflutgeschichte (1. Mose 6-9) beinhalten, einen anderen Charakter haben als das, was danach kommt (ab der Abrahams-Erzählung). Die ersten 11 Kapitel beziehen sich auf eine graue Vorzeit lange, bevor die Schrift erfunden wurde. Sie beruhen auf Erinnerungen und Erzählungen, die über viele Generationen mündlich überliefert und gestaltet wurden. Diese Geschichten wurden erzählt, weil ihnen eine Bedeutung beigemessen wurde, und sie wurden so gestaltet, dass diese Bedeutung klar herausgearbeitet wurde.
Die Erinnerung an eine verheerende Flut finden wir nicht nur in der Bibel, sondern auch in mehreren Texten aus Mesopotamien. Die Eridu-Genesis der Sumerer enthält ebenso wie die ersten Kapitel der Bibel Erzählungen über die Erschaffung der Menschen und die Flut. Auch das akkadische Atrahasis-Epos enthält eine Schöpfungs- und eine Flutgeschichte. Die Flutgeschichte aus dem Atrahasis-Epos wurde später ins Gilgamesch-Epos aufgenommen. Die sumerische Königsliste erwähnt ebenfalls die Flut und teilt die Könige ein in diejenigen vor der Flut und diejenigen nach der Flut. All diese Texte sind in der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr. niedergeschrieben worden (2000-1600). Die Flutgeschichten der Eridu-Genesis, des Atrahasis-Epos und der Bibel haben soviele Gemeinsamkeiten, dass sie auf dasselbe Ereignis und dieselbe Überlieferung zurückgehen müssen. Gleichzeitig haben sie soviele Unterschiede in den Details und der Gesamtbotschaft, dass sie nicht einfach voneinander abgeschrieben sein können.
Doch bevor wir auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede eingehen, betrachten wir die biblische Flutgeschichte näher. Die Flut wird als eine kosmische Katastrophe beschrieben. Die Wasser der Flut kamen aus „allen Brunnen der großen Tiefe“ und allen „Fenstern des Himmels“, bis die Flut „alle hohen Berge bedeckte“ und „alles vertilgte, was auf dem Erdboden war, vom Menschen an bis hin zum Vieh und zum Gewürm und zu den Vögeln unter dem Himmel“. Die Geschichte enthält noch mehr Superlative: Die Größe der Arche war mit über 130 Metern Länge viel größer als jedes Holzboot, das es damals gab oder seither gegeben hat. Die Schlechtigkeit der Menschen vor der Flut war so groß, „dass alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar“.
Longman und Walton schreiben, dass diese übertriebene Darstellung ein wohlbekanntes Stilmittel der damaligen Zeit ist, das die Schreiber bewusst eingesetzt haben, um die Schrecklichkeit der Flut zu unterstreichen. Die damaligen Leser kannten und verstanden dieses Stilmittel und wussten, dass der Text nicht wortwörtlich gemeint ist. Man nennt diese Art von Übertreibung auch „Hyperbel“. Wir kennen sie aus unserer Umgangssprache: „Dein Koffer wiegt eine Tonne“, „Das habe ich dir schon tausend Mal gesagt“, „Wir haben die Gegner fix und fertig gemacht“. Wir finden die Hyperbel in vielen Texten des Alten Orients und auch an vielen weiteren Stellen in der Bibel: 1. Mose 41, 57: „Alle Welt kam nach Ägypten“ (um in der Hungersnot Getreide zu kaufen); 2. Mose 9, 6: „Da starb alles Vieh der Ägypter“ (aber 13 Verse weiter gibt es doch noch ägyptisches Vieh); 5. Mose 2, 25: „Von heute an will ich Furcht und Schrecken vor dir auf alle Völker unter dem ganzen Himmel legen“; Josua 11, 16: „Josua nahm das ganze Land und fing all ihre Könige und tötete sie.“ (Vgl. mit Jos. 13, wo klar wird, dass große Teile des Landes noch gar nicht erobert waren); Klagelieder 2, 22: „Du hast von allen Seiten her meine Feinde gerufen wie zu einem Feiertag, sodass niemand am Tage des Zorns des Herrn entronnen und übrig geblieben ist.“ (Doch aus anderen Bibelstellen wird klar, dass es viele Überlebende der Zerstörung Jerusalems gab.)
Der ganze Sintflutbericht ist also so gestaltet, dass allen Lesern deutlich wird, dass die Flut in ihrem Umfang und ihrer Bedeutung für die damaligen Menschen und die sie umgebende Natur eine überwältigende Katastrophe war. Longman und Walton schreiben, dass es den Autoren nicht darum geht, die Geschichte auf eine Weise zu erzählen, dass wir die tatsächlichen Ereignisse rekonstruieren können, sondern es geht um die Bedeutung der Ereignisse. Die Interpretationen der Ereignisse, die der Text gibt, sind göttlich inspiriert, aber wir erhalten keinen göttlich offenbarten Einblick in die tatsächlichen Geschehnisse.
Was ist also die Bedeutung der biblischen Flutgeschichte? Longman und Walton arbeiten zwei große Botschaften heraus. Die eine Botschaft ist die von Sünde, Gericht und Gnade. Die Bosheit der Menschen war so groß geworden, dass Gott sie durch die Flut bestrafen wollte. Doch er will die Menschheit nicht völlig vernichten. Noah und seine Familie werden gerettet, auch wenn der weitere Verlauf der Erzählung zeigt, dass sie auch keine Engel waren. Nach der Flut macht Gott einen Bund mit Noah und bestimmt den Regenbogen als Zeichen dafür, dass er nie wieder die Menschheit und ihre Lebensgrundlage zerstören wird. Einen ähnlichen Dreiklang von Schuld, Gericht und Gnade findet man auch in den früheren Kapiteln des 1. Buchs Mose: Adam und Eva werden für ihre Sünde mit der Verbannung aus dem Paradies bestraft. Doch vorher versorgt Gott sie noch und macht ihnen Kleidung. Ähnlich ist es bei Kain, der seinen Bruder Abel erschlug: Er wird mit der Verbannung bestraft, doch er bekommt auch ein Schutzzeichen, damit ihn niemand umbringt. Walton und Longman schreiben, dass die ersten 11 Kapitel der Bibel die großen Themen einführen, um die es im Rest der Bibel gehen wird.
Die zweite Bedeutung der Sintflutgeschichte betrachtet die Sünde des Menschen und das Gericht Gottes aus der Perspektive der Schöpfung: Gottes schaffendes Handeln hatte anfänglich aus dem ungeordneten Anfang, dem Tohuwabohu, eine geordnete Welt gemacht, vgl. den Blogbeitrag über Waltons Buch „The Lost World of Genesis One“. Die Menschen zerstören durch ihre Sünde diese Ordnung und bringen Un-Ordnung („disorder“ bei Walton) in die Welt. Durch die Flut hat Gott die Schöpfung deshalb rückgängig gemacht und die Welt wieder in den wasserbedeckten Anfangszustand, die Nicht-Ordnung („nonorder“ bei Walton), zurückgeführt. Nach der Flut hat Gott die Ordnung neu hergestellt und verheißen, dass „Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ nicht mehr aufhören werden.
Diese zweite Interpretation der Flut teilen die anderen erwähnten Sintflutberichte des Alten Orients. Die „Unordnung“, die die Menschen in die von den Göttern geschaffene Welt gebracht haben, besteht dort allerdings nicht in ihrer Sünde, sondern in dem Lärm, den die Menschen machen. Weil die Götter diesen Lärm nicht ausstehen konnten, schickten sie die Flut. Sie verbargen ihren Plan vor den Menschen, doch ein Mensch wird heimlich durch einen Gott gewarnt (was natürlich nach der Flut Ärger verursacht, als die anderen Götter merken, dass nicht alle Menschen umkamen). Auch der Fortgang der mesopotamischen Flutgeschichte weist viele Ähnlichkeiten mit dem biblischen Bericht und gleichzeitig Abweichungen in den Details auf: Während die biblische Arche die Form eines Quaders hat, ist die Grundfläche bei den anderen quadratisch oder rund. Die Größe der Fläche ist aber in allen Berichten vergleichbar. Die Dauer der Flut ist jeweils verschieden. Im Gilgamesch-Epos gibt es wie im biblischen Bericht eine Aussendung von Vögeln gegen Ende der Flut. In allen Berichten bringen die Menschen nach der Flut Gott bzw. den Göttern ein Opfer. Während im biblischen Bericht die überlebenden Tiere und Menschen anschließend die Erde neu bevölkern, helfen in den anderen Berichten die Götter mit Neuerschaffungen nach.
Der tiefgehendste Unterschied ist die Darstellung des Verhältnisses zwischen Gott bzw. den Göttern und den Menschen. Der biblische Gott sorgt für die Menschen und gestaltet die Erde für die Menschen. Er ist betrübt über ihre Sünde und möchte sie durch Gericht und Gnade erziehen. Er macht einen Bund mit ihnen, damit sie an seine Gegenwart erinnert werden und in einer Beziehung zu ihm leben. Die mesopotamischen Götter dagegen benutzen die Menschen, um von ihnen durch Opfer mit Nahrung versorgt zu werden. Die Menschen müssen für die Götter die Erde bearbeiten, damit sie etwas zum Opfern haben. Deshalb sind die Götter, als sie nach der Flut das Opfer riechen, letztendlich froh, dass doch nicht alle Menschen umgebracht wurden.
Da fällt mir die Entscheidung nicht schwer, welchem Gott ich gehören möchte...
Literaturhinweise: Der hintere Teil des Buchs von Longman III und Walton geht auf eine Reihe von Fragen ein, die durch die Flutgeschichte und gewisse christliche Literatur aufgeworfen werden: Welches historische Ereignis könnte hinter der biblischen Flut stecken? (Kurze Antwort: Es gibt ein paar Hypothesen, aber nichts Gewisses.) Was sagt die Geologie über vergangene Fluten? Welche Fluterzählungen gibt es anderswo auf der Welt? Einen Vortrag eines christlichen Geographen über mögliche Kandidaten für die historische Sintflut kann man hier hören.
Das Kapitel zu 1. Mose 1-11 aus dem Buch von Kitchen geht auf die interessante Frage nach dem hohen Alter von mehreren hundert Jahren ein, das der biblische Bericht Noah und anderen damaligen Menschen zuschreibt. Archäologische Forschungen an alten Gräbern zeigen nämlich, dass die Menschen damals nicht älter wurden als heute. Kitchen macht ein paar Vorschläge dafür, wie diese Zahlen zustande kamen. Mehr dazu in sechs Wochen. In anderen Texten des Alten Orients wurden die vorsintflutlichen Menschen übrigens auch extrem alt. Die sumerische Königsliste schreibt den vorsintflutlichen Königen gar mehrere zehntausend Jahre an Herrschaftszeiten zu….