Die lange Geschichte der Erde

Bis in das 18. Jahrhundert hinein überwog in Europa die Vorstellung, dass die Erde und die Menschheit ungefähr gleich alt seien. Man dachte, die Erde und ihre Flora und Fauna seien von Anfang an so gewesen, wie sie es heute sind. Diese Erwartung ist natürlich: Wir alle tendieren dazu zu denken, dass etwas immer schon so war, wie wir es gewohnt sind. Erst wenn wir mit Belegen für das Gegenteil konfrontiert werden, wird uns unser Vorurteil bewusst. Das Alter der Erde schätzte man auf einige Tausend Jahre. Auch das ist intuitiv erstmal naheliegend: alle unsere schriftlichen Aufzeichnungen und die mündliche Überlieferung über frühere Generationen bemessen sich in Tausenden von Jahren. Dies spiegelt sich auch in der Bibel wider: Wenn man die Listen über die frühen Generationen der Menschheit lückenlos und wörtlich versteht und auch die Schöpfungstage literalistisch als 24-Stunden-Tage versteht, kommt man ebenfalls auf Tausende von Jahren seit der Erschaffung der Welt.

Doch es gab auch andere Vorstellungen zum Alter der Erde. Die Sumerer haben eine Königsliste überliefert, in der sich die Herrschaft der vorsintflutlichen Könige auf über 200000 Jahre addiert, da jedem von ihnen mehrere Zehntausend Jahre zugeschrieben werden. Der Philosoph Aristoteles meinte sogar, die Erde sei ewig. Wissenschaftliche Erkenntnisse zum Alter der Erde gab es bis in die Neuzeit hinein nicht.

Die geologische Erforschung der Erde begann in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Der Däne Nicolaus Steno formulierte als Erster das stratigraphische Prinzip, dass die Gesteinsschichten eine zeitliche Abfolge widerspiegeln, wobei die jüngeren Schichten über den älteren abgelagert wurden. Man rätselte damals über die Natur von Fossilien und kam schließlich im frühen 18. Jh. zu dem Konsens, dass sie Überreste früherer Lebewesen sein müssen. Dass es Meeresfossilien hoch in den Bergen gibt, erklärten viele Naturforscher damals durch die Sintflut, doch es gab auch den Vorschlag, dass eine Serie von Erdbeben die Erdoberfläche zu Bergen angehoben und anderswo abgesenkt hat. Manche Forscher stellten die These auf, dass die Sintflut alle geologischen Schichten und Fossilien abgelegt hat. Doch schon recht bald erkannte man, dass dies nicht möglich ist, da weder die Menge des Materials noch die Anordnung der Fossilien sich durch eine einzige Flut erklären lässt – außer man postuliert eine Kette von Wundern. Um das Jahr 1750 herum war daher die „Flutgeologie“ zu einer Minderheitenmeinung geworden.

Um das Jahr 1800 war man in der Geologie zur Erkenntnis gelangt, dass die Erde sehr viel älter sein muss, als man früher dachte, nämlich viele Millionen oder gar Milliarden Jahre. Die verschiedenen Gesteinsschichten erzählen davon, dass die Erde eine lange und wechselvolle Geschichte hat und dass viele Gebiete der Erde sowohl mehrfach Landoberfläche waren, als auch mehrfach vom Meer bedeckt waren. Über die Natur der Prozesse, die die Schichten geformt haben, war man sich noch nicht einig: Die einen vertraten die These, dass praktisch alle geologischen Schichten durch Wasser abgelagert wurden, die anderen meinten, dass viele Gesteine aus geschmolzener Lava gebildet wurden. In den folgenden Jahrzehnten erkannte man, dass sowohl Sedimentation im Wasser, als auch Lavaflüsse Gesteinsschichten erzeugt haben.

Im frühen 19. Jh. entdeckte William Smith, ein Kanalingenieur in Südengland, dass in verschiedenen Schichten verschiedene Sorten von Fossilien dominieren, und dass dieselbe Schicht an verschiedenen geographischen Orten die gleichen Fossilien enthält. Auch einige Geologen stießen ungefähr zur selben Zeit auf diese Entdeckung. In der Folge zeigte sich, dass auch anderswo in Europa und sogar im Rest der Welt die Abfolge der Fossilien mit den geologischen Schichten dieselbe ist: Trilobiten treten in tieferen Schichten auf als marine Reptilien, Dinosaurier findet man immer über den ersten Landpflanzen, Insekten und Amphibien. Die ersten Farne findet man in tieferen Schichten als die ersten Blütenpflanzen, usw.

Solch ein systematischer Befund führt natürlich auf die Frage nach der Ursache der Veränderungen in Flora und Fauna von einer Schicht zur nächsten. Die Mehrzahl der Geologen vertraten in der ersten Hälfte des 19. Jh. die Auffassung, dass Katastrophen alte Spezies vernichtet haben. Zunächst dachte man an Fluten, doch dann wurden auch Gletscher, Erdbeben und Vulkanausbrüche für katastrophale Veränderungen verantwortlich gemacht. Man dachte, dass neue Arten danach von anderswo einwanderten oder dass Gott neue Arten schuf, die an die jeweilige veränderte Umgebung angepasst waren. Es gab zwar vor Darwins Buch auch schon evolutionäre Ideen (z.B. von Lamarck), doch diese schienen vielen damaligen Geologen nicht zum empirischen Befund zu passen. Während in der ersten Hälfte des 19. Jh. diese „Katastrophisten“ dominierten, gewannen in der zweiten Hälfte des 19. Jh. die „Uniformisten“ die Oberhand. Diese meinten, die geologischen Schichten seien durch sehr langsame, gleichförmige Prozesse gebildet worden. Im Laufe des 20. Jh. schließlich setzte sich die Erkenntnis durch, dass es beide Arten von Prozessen gab, und inzwischen kann man ganz gut unterscheiden, welche Schicht durch welchen Prozess entstanden ist.

Die meisten prominenten Geologen des 19. Jh. waren überzeugte Christen (z.B. Georges Cuvier und William Buckland), nicht wenige von ihnen (z.B. Adam Sedgwick und John Fleming) waren sogar evangelikal. Die Erkenntnisse dieser Geologen wurden von ihren jeweiligen Kirchen akzeptiert. Selbst die führenden evangelikalen Theologen nahmen deshalb die Schöpfungstage der Bibel nicht mehr wortwörtlich. Es hatte schon immer im Judentum und Christentum eine Vielfalt von Interpretationen der Schöpfungstage gegeben. Allerdings war vor den geologischen Entdeckungen ein wortwörtliches Verständnis recht weit verbreitet. Dieses Verständnis war im Lichte der geologischen Entdeckungen nun nicht mehr möglich. Es gab im Wesentlichen drei verschiedene Ansätze, das hohe Alter der Erde mit dem ersten Kapitel der Bibel zusammenzudenken:

  1. Die Lückentheorie („Gap Theory“ in der englischsprachigen Literatur): Hier wird zwischen dem ersten und zweiten Vers der Bibel eine zeitliche Lücke postuliert. Der zweite Vers wird dann übersetzt mit „Und die Erde wurde wüst und leer“ (statt „sie war wüst und leer“). Man geht davon aus, dass nach der ursprünglichen, in Vers 1 erwähnten Schöpfung („Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“) eine Katastrophe passierte, und dass die ab Vers 3 berichteten sechs Schöpfungstage eine Neuschöpfung beschreiben. Die Lückentheorie erfuhr viel Aufmerksamkeit, als sie im Jahr 1917 in die einflussreiche Scofield-Bibel aufgenommen wurde.

    Auch wenn diese Theorie mit einem hohen Erdalter verträglich ist, passt sie nicht so richtig zum geologischen Befund, da dieser dann ja vor der postulierten Neuschöpfung zu Beginn der Menschheit einen besonders deutlichen Einschnitt zeigen müsste. Außerdem ist die Lesart „wurde" statt „war" nicht die naheliegende Lesart des hebräischen Originaltextes. Zudem ist es ein fragwürdiges Unterfangen, in den Bibeltext die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse hineinlesen zu wollen. Die ursprünglichen Adressaten der ersten Kapitel der Bibel verstanden den Vers 2 ganz anders. (Dazu in einem späteren Blogeintrag mehr.)

  2. Die Tag-Zeitalter-Theorie („Day-Age Theory“): Hier werden die Schöpfungstage als längere Zeiträume aufgefasst. Ein beliebter Bibelvers hierzu ist „Vor Gott sind tausend Jahre wie ein Tag“ (aus Psalm 90). Außerdem weist man darauf hin, dass im Alten Testament das hebräische Wort für „Tag“ mit ganz verschiedenen Bedeutungen verwendet wird.

    Diese Interpretation hat einiges für sich, allerdings stößt sie an ihre Grenzen, wenn man sie zu eng versteht. Wenn man die sechs Schöpfungstage als sechs aufeinanderfolgende Zeiträume interpretiert, passt das wieder nicht mit dem geologischen Befund zusammen: Zum Beispiel werden in Bibeltext die Vögel vor den Reptilien geschaffen, doch in den geologischen Schichten ist die Reihenfolge umgekehrt. Wir sehen also auch bei dieser Interpretation, dass der Versuch, die modernen wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Bibel wiederzufinden, nicht wirklich funktioniert.

  3. Die schematische Sicht („Framework View“): Schon der Kirchenvater Augustinus war der Auffassung, dass die sechs Schöpfungstage als ein Gliederungsschema und nicht als aufeinanderfolgende Zeitabschnitte zu verstehen sind. Heutige Theologen weisen zur Unterstützung dieser Sicht auf die Gliederung der sechs Tage in zwei Dreiergruppen hin: An den ersten drei Tagen werden Trennungen vollzogen und dadurch Räume geschaffen: Am ersten Tag werden Licht und Finsternis getrennt, am zweiten Wasser und Luft und am dritten Land und Wasser. An den zweiten drei Tagen werden diese geschaffenen Räume in derselben Reihenfolge befüllt:Am vierten Tag werden Licht und Finsternis mit Sonne und Mond und Sternen befüllt, am fünften Tag Luft und Wasser mit Vögeln und Fischen und am sechsten Tag das Land mit den Landlebewesen und dem Menschen. Wir sehen daran, dass die Schöpfungstage ein Stilmittel sind, um die theologische Botschaft zu formulieren, und dass sie nicht den chronologischen Ablauf der Naturgeschichte erzählen wollen.

Die meisten evangelikalen Geologen vertraten damals allerdings entweder die Lückentheorie oder die Tag-Zeitalter-Theorie. Darwins Buch „On the Origin of Species“ war zu diesem Zeitpunkt noch nicht geschrieben. Es wurde erst 1859 veröffentlicht. Evolutionäre Ideen waren noch eine Minderheitenmeinung. Das sollte sich bald ändern, doch das Thema „Evolution“ möchte ich für andere Blogbeiträge aufheben und hier stattdessen noch kurz erzählen, wie es endlich gelang, das Alter der Erde genauer zu bestimmen. Lord Kelvin, der wesentlich an der Entwicklung der Thermodynamik beteiligt war, berechnete, wie die Temperatur an und unter der Erdoberfläche sich mit der Zeit ändert, wenn ein anfänglich aus geschmolzenem Stein bestehender Planet abkühlt. Durch Vergleich mit dem heutigen Temperaturprofil folgerte er, dass die Erde einige zehn Millionen Jahre alt ist, doch damit waren die Geologen seiner Zeit gar nicht glücklich, da sie an ein deutlich höheres Alter glaubten.

Heute wissen wir, dass Kelvins Rechnung auf falschen Annahmen beruht, da er nicht auf den Gedanken kam, dass es im Erdmantel Konvektionsströme gibt, die Wärme aus dem Erdinneren in die Nähe der Oberfläche transportieren, so dass die Oberfläche viel länger warm bleiben kann als seine Rechnung ergab. Wenn man diese Konvektionsströme berücksichtigt, kommt man auf ein Erdalter von mehreren Milliarden Jahren. Das hat übrigens Kelvins Assistent John Perry schon im Jahr 1895 erkannt und auch Gründe für diese Konvektionsströme genannt. Leider fand sein Artikel „The Age of the Earth“ in der Zeitschrift „Nature“ lange Zeit kaum Aufmerksamkeit, sonst hätte man vielleicht die Kontinentaldrift schon viel früher akzeptiert. Doch das ist wieder eine andere Geschichte…

Eine genaue Bestimmung des Alters der Erde und der verschiedenen geologischen Schichten wurde erst durch die Entdeckung der Radioaktivität und die Entwicklung der radiometrischen Datierung möglich. Daher wissen wir inzwischen, dass die Erde rund 4,5 Milliarden Jahre alt ist. Dieses Alter wurde mit mehreren verschiedenen Methoden bestimmt, die alle zum gleichen Ergebnis kommen. Es passt auch sehr gut zu dem, was wir durch ganz andere Überlegungen über das Alter der Sonne folgern können: Wenn man ausrechnet, wie lange ein Stern von der Größe der Sonne durch das Verbrennen von Wasserstoff zu Helium leuchten kann, kommt man auf ungefähr 10 Milliarden Jahre. Da unsere Sonne irgendwo in der Mitte ihres Lebens ist, kommt man also auf ein ähnliches Alter wie das der Erde, aber auf ganz anderem Wege.

Die Entdeckungen und Erkenntnisse der Geologie über das Alter und die Geschichte der Erde werfen interessante theologische Fragen auf: Die geologischen Schichten mit ihren Fossilien erzählen uns, dass viele Spezies kamen und gingen, bevor es Menschen auf der Erde gab. Also gab es von Anbeginn des Lebens schon Tod und Leid auf der Erde. Und dennoch heißt es am Ende vom ersten Schöpfungsbericht: „Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut.“ Über diesen scheinbaren Gegensatz werden wir in einem zukünftigen Blogbeitrag nachdenken müssen.

Literatur: Meine Hauptquelle für die Geschichte der Geologie und den Glauben der frühen Geologen ist das Buch „Reason, Science and Faith“ von Roger Forster und Paul Marston. (Wipf and Stock Publishers Eugene OR USA 2001).Paul Marston hat seine Doktorarbeit zum Thema dieses Blogs geschrieben.

Ein kurzer, guter Artikel über die vielfältigen Alterbestimmungsmethoden der Erde ist auf der Seite https://www.faraday.cam.ac.uk/resources/faraday-papers/ unter der Nummer 8 zu finden.

Diejenigen, die aus bestimmter christlicher Literatur eine andere als die oben erzählte Geschichte über das Alter der Erde und über die geologischen Schichten gelernt haben, finden auf der Webseite http://talkorigins.org/indexcc/list.html#CD Klarstellungen.


Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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