Tod und Leid in der Natur
Schon vor über 200 Jahren fanden Geologen heraus, dass viele biologischen Arten ausstarben, bevor es uns Menschen gab. Davon habe ich im Blogbeitrag vom 10.10. berichtet. Es gab also von Anbeginn des Lebens den Tod in der Welt. Tiere früherer erdgeschichtlicher Epochen starben durch Gefressenwerden, Kämpfe, Unfälle, Naturkatastrophen und Krankheiten. Hierzu wissen wir inzwischen einiges. Es gibt sogar ein eigenes Forschungsfeld, die Paläopathologie, die die Krankheiten und Verletzungen fossiler Tiere untersucht. So haben Wissenschaftler u.a. herausgefunden, dass manche Dinosaurier Krebs hatten.
Dies alles bedeutet, dass es nicht nur den Tod, sondern auch Krankheit und Leid von Anfang an in der Schöpfung gab. Es gibt Christen, die Tod und Leid in der Natur als Folge des menschlichen Sündenfalls betrachten. Doch das passt zeitlich nicht, da Tiere ja schon längst starben, bevor es Menschen gab – außer man will soweit gehen zu folgern, dass die Sünde der Menschen sich auch rückwirkend auf frühere Zeitalter auswirkt. (Über den Tod des Menschen und den menschlichen Sündenfall werden wir in zukünftigen Blogbeiträgen nachdenken. Dieses Thema wird heute nicht angeschnitten.) Andere schreiben den Tod und das Leid in der Natur dem Fall Satans und seiner Engel zu. Doch dies ist eine Spekulation. Weder über die Herkunft Satans und des Bösen, noch über die Herkunft von Tod und Leid wird in der Bibel explizit etwas gelehrt. Allerdings wird über Gottes zukünftige neue Schöpfung gesagt, dass es in ihr keinen Tod und kein Leid mehr geben wird; über die Vergangenheit wird das nicht explizit gesagt. Früher wurde diese Zukunftsverheißung allerdings oft zugleich als Aussage über den ursprünglichen Zustand der Schöpfung interpretiert, zu dem sie eines Tages zurückkehren wird.
Der Versuch, den Tod und das Leid in der Natur gänzlich dem Menschen oder dem Teufel anzulasten, ist theologisch nicht wirklich haltbar. Wenn Gott der allmächtige Schöpfer von allem ist, muss er die Möglichkeiten für Leid und Tod in der Natur angelegt haben. Außerdem muss er zugelassen haben, dass diese Möglichkeiten zur Tatsache werden. Im vorletzten Blogeintrag (vom 31.11., „Die verlorengegangene Welt von Genesis 1“) wurde die Bibelstelle Jesaja 45, 6+7 zitiert: „Ich bin der HERR, und sonst keiner mehr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil.“ Hier wird Gott sogar als Schöpfer von Unheil genannt. Ähnlich in Amos 3, 6: „Geschieht etwa ein Unglück in der Stadt, und der HERR hat es nicht getan?“ Doch diese Verse beziehen sich primär auf Unglück, das den Menschen trifft. Wenn wir bei den Tieren bleiben, ist Psalm 104 besonders aufschlussreich. Der ganze Psalm ist ein Loblied auf die Schöpfung Gottes und insbesondere darauf, dass Gott all seine Geschöpfe versorgt. Wer diesen Psalm im Lichte des vorletzten Blogeintrags bzw. des ersten Kapitels der Bibel liest, wird viele Dinge von dort wiederfinden. Doch es gibt auch weitere Gedanken: In Vers 21 heißt es: „Die Löwen brüllen nach Raub und suchen ihre Speise von Gott.“, und allgemeiner in Vers 27: „Es warten alle auf dich, dass du ihnen Speise gebest zur rechten Zeit“. (Vgl. auch Hiob 38, 39-41.) Hier wird das Jagen und Fressen von Beute als Teil der Schöpfungsordnung Gottes beschrieben. Der Psalm 104 preist also die uns heute vorliegende Schöpfung als gute Schöpfung Gottes. Auch andere Schöpfungstexte im Alten Testament beziehen sich auf die uns vorliegende Schöpfung. Daher ist auch das erste Kapitel der Bibel auf die jetzige Schöpfung zu beziehen und nicht auf eine völlig andere ohne fleischfressende Tiere. Ist der zum Jagen gemachte Körperbau der Raubtiere nicht genauso großartig und schön wie andere Dinge, die wir in der Schöpfung bewundern? Und werden Ökosysteme nicht erst dadurch so beeindruckend komplex und üppig, dass die Nahrung auf so effiziente und vielfältige Weise verwertet wird, über Nahrungsketten und Symbiosen, und nach dem Absterben auch noch mit Hilfe von Aasfressern und Zersetzergemeinschaften?
Die Auffassung, dass die ursprüngliche Schöpfung keine Fleischfresser enthielt,
wird oft auf die biblische Aussage gegründet, dass
Gott den Tieren und Menschen die Pflanzen als Nahrung gegeben hat (1.
Mose 1, 29+30). Doch diese Formulierung schließt das Essen von Fleisch nicht explizit aus.
Auch hier hilft der Psalm 104: In den Versen 14+15 wird ebenfalls
gesagt, dass Gott die Pflanzen als Nahrung für Tiere und Menschen
wachsen lässt. Doch anderswo im Psalm ist von Tieren die Rede, die
Fleisch fressen (Vers 21).
Ein weiteres Argument, das immer wieder gegen Tod und Leid der Tiere vor dem Sündenfall angeführt wird, ist die Aussage „Siehe, es war sehr gut“ am Ende des Schöpfungsberichts. Im vorletzten Blogbeitrag habe ich John Walton zu diesem Vers zitiert. „Gut“ oder „Sehr Gut“ bedeutet, dass etwas seiner Bestimmung gemäß funktioniert und den beabsichtigten Zwecken dient. In 4. Mose 14, 7 und in Richter 18, 9 wird das Land Kanaan, in dem die Israeliten künftig wohnen sollten, als „sehr gut“ bezeichnet. Doch es war damals schon ein Land, das auch Dornen und Disteln und gefährliche Tiere und feindliche Bewohner enthielt.
Auch mein Fach, die Physik, zeigt uns, dass die Schöpfung früher nicht grundlegend anders funktioniert hat als heute: Nach allem, was wir wissen, gab es in unserem Universum niemals eine Zeit, in der die Gesetze der Physik anders waren als heute. Wenn wir mit den Weltraumteleskopen in die Tiefen des Universums und damit in die Vergangenheit blicken, sehen wir, dass die Naturkonstanten damals so waren wie heute und dass die Prozesse im Universum nach denselben Gesetzen abliefen wie heute. Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik, also der Entropiesatz, und die Expansion des Universums sind zusammen verantwortlich dafür, dass Sterne unter der Wirkung der Gravitationskraft geboren werden und dann durch Kernfusion leuchten und am Ende je nach Größe z.B. durch eine Supernovaexplosion sterben. In allen Stadien des Sternenlebens wird die Entropie durch das Abgeben von Energie an das immer größer und kälter werdende Weltall erhöht. Auch die Erde gibt Wärme aus ihrem Inneren an das Universum ab (wodurch ebenfalls die Entropie des Universums erhöht wird), mit gewaltigen Konsequenzen: Durch den Temperaturunterschied zwischen dem heißen Erdinneren und der Oberfläche werden die Konvektionsströme im Erdmantel angetrieben, die dafür verantwortlich sind, dass die Kontinente sich verschieben, zusammenstoßen und wieder auseinanderbrechen. Erdbeben und Vulkanausbrüche sind eine direkte Folge dieser Prozesse. Die durch die Sonneneinstrahlung verursachten Temperaturunterschiede in verschiedenen Teilen der Atmosphäre und der Ozeane bedingen die Luft- und Meeresströmungen und damit auch den Wasserkreislauf und das Klima. Durch Kontinentaldrift und das Wetter entstehen Berge, Seen und Flüsse; sie vergehen wieder durch Erosionsprozesse. All diese Prozesse sind die Grundlage dafür, dass es fruchtbare Erde und Regen gibt. Im vorletzten Blogbeitrag vom 21.11. haben wir gesehen, dass der biblische Schöpfungsbericht das Erschaffen genau dieser Lebensvoraussetzungen (Zeit, Wetter, Gedeihen von Pflanzen) beschreibt. Die geologischen und klimatischen Prozesse auf der Erde sind demnach Teil von Gottes guter Schöpfung. Gleichzeitig sind sie die Ursache für Naturkatastrophen: Ereignisse wie Erdbeben, Tsunamis, Vulkanausbrüche, Feuer und Hagel müssen wir daher zumindest als von Gott mit in Kauf genommene „Nebenwirkungen“ ansehen. Wenn heutzutage solche Ereignisse sich besonders schlimm auswirken, hat allerdings der Mensch einen großen Teil Mitschuld: Wir wissen, wie wir Häuser bauen müssen, damit sie Erdbeben und Feuer besser überstehen können, aber wir tun das nicht immer. Und dass es in letzter Zeit vermehrt schlimme Dürren, Feuer und Stürme gibt, liegt am menschengemachten Klimawandel. (Hierzu plane ich auch einen Blogbeitrag.)
Die Gesetze der Physik und die erwähnten Prozesse auf der Erde sind auch dafür verantwortlich, dass das Leben zerbrechlich ist: Lebewesen sind „dissipative Strukturen“. Das bedeutet, dass Lebewesen beständig aus ihrer Umgebung Energie aufnehmen und diese Energie in anderer Form wieder an die Umgebung abgeben müssen, um zu existieren. Ohne diese Energiezufuhr würde der Entropiesatz schnell dafür sorgen, dass komplexe Strukturen, die eine hohe Ordnung und damit eine niedrige Entropie haben, zusammenbrechen. Menschen und Tiere bekommen ihre Energiezufuhr durch das Einatmen sauerstoffhaltiger Luft und durch die Aufnahme von Nahrung. Die aufgenommene Energie wird an die Umgebung wieder in Form von Wärme, kohlendioxidreicher Luft und Ausscheidungen abgegeben. Lebewesen sind nicht nur durch Atmung und Nahrungsaufnahme, sondern auch auf vielfältige andere Weise mit ihrer Umgebung verflochten: Sie ist der Lebensraum eines Lebewesens und beherbergt die anderen Lebewesen, von denen es abhängt. Wegen dieser starken Verflechtung stirbt ein Lebewesen oder ein Ökosystem nicht nur, wenn es von seiner Umgebung getrennt wird, sondern auch, wenn sich seine Umgebung genügend stark verändert.
Wir sehen also, dass dieselben Gesetze der Physik, die Sterne und Planeten, Wetter und Leben ermöglichen, auch dafür verantwortlich sind, dass es Werden und Vergehen, Aufbau und Zerstörung in der Natur gibt. Es scheint, dass unsere Schöpfung ein Gesamtpaket ist, das man nicht nur zum Teil haben kann. Doch mit dieser wissenschaftlichen Schlussfolgerung und dem Verweis auf Psalm 104 sind längst nicht alle Fragen beantwortet. Oft genug finden wir Prozesse in der Natur viel zu grausam und zerstörerisch, um sie gut zu heißen. Sehr viele Lebewesen bekommen nie die Möglichkeit, ihr volles Potenzial zu entfalten. Ein Beispiel ist das jüngere der meist zwei Pelikanküken: Es wird nur dann großgezogen, wenn das ältere stirbt. Ansonsten wird das jüngere vom älteren aus dem Nest geschmissen. Auch wenn der Nutzen für das Überleben der Pelikane offensichtlich ist, empfinden wir dies als etwas, das nicht sein soll. Selbst wenn Tiere, vor allem die weniger hoch entwickelten Tiere, Schmerz und Verlust nicht so leidvoll wie wir Menschen wahrnehmen, sehnen wir uns danach, dass die gesamte Schöpfung vom Leid erlöst wird.
Wegen seiner vielen Facetten wird uns dieses Themengebiet noch mehrfach in künftigen Blogbeiträgen beschäftigen. Wir können es letztlich nicht loslösen von Gottes großem Plan für Erlösung und Neuschöpfung, um den es in der Bibel geht.
Literaturhinweise: Ein gutes Buch zum Thema Naturkatastrophen ist „Who Is to Blame?: Disasters, Nature, and Acts of God“ von dem Geologen Robert White (Monarch Books 2014). Er betont besonders den Beitrag der Menschen dazu, dass Naturereignisse sich so schlimm auswirken. Ein wichtiger Sammelband mit Fachbeiträgen von Theologen und Naturwissenschaftlern zum Thema „Leid in der Natur“ ist „Physics and Cosmology. Scientific Perspectives on the Problem of Natural Evil“, herausgegeben von N. Murphy, R.J. Russell, W.R. Stoeger ( Libreria Editrice Vaticana 2008). Ich habe durch dieses Buch viele Gedankenanstöße bekommen. Gute kürzere Texte zum Thema findet man auf den Webseiten von Biologos, z.B. diesen.