Die verlorengegangene Welt von Genesis 1

Der biblische Schöpfungsbericht (d.h. das erste Kapitel der Bibel) wurde im Laufe der Jahrhunderte auf vielfältige Art ausgelegt. Sowohl die jüdischen Ausleger, als auch die Kirchenväter hatten hierbei eine große Offenheit für die verschiedenen möglichen Lesarten des Textes. Die Hauptbotschaft dieses Textes ist klar: Gott hat alles durch sein Wort geschaffen, selbst Sonne und Mond, die in anderen Kulturen als Götter angesehen wurden. Doch über das „Wie?“ und die dabei verflossenen Zeiträume gibt es verschiedene Auffassungen. Ich habe im Blogbeitrag vom 10.10. („Die lange Geschichte der Erde“) erwähnt, dass die wortwörtliche 7-Tage-Auslegung durch die Entdeckungen der Geologen seit ca. 1800 nicht mehr in Frage kam. Stattdessen kamen die Lückentheorie, die Tag-Zeitalter-Theorie und die schematische Sicht ins Gespräch. Oft wird der Text dabei mit der Brille unserer Kultur und unseres Naturverständnisses gelesen, ohne dass man sich bewusst macht, was er den ursprünglichen Adressaten des ersten Kapitels der Bibel gesagt hat.

Deshalb ist es so wichtig zu hören, was Kenner der Literatur und Kultur des Alten Orients über den biblischen Schöpfungsbericht sagen. In der Literatur Mesopotamiens und Ägyptens gibt es viele Parallelen zum biblischen Text; dies wirft auf viele Stellen des biblischen Schöpfungsberichts ein neues Licht. Ein evangelikaler Theologe, der sich schon seit Jahrzehnten mit dem Alten Orient beschäftigt und die ersten Kapitel der Bibel im Lichte der so gewonnenen Erkenntnisse auslegt, ist John Walton. Er ist Professor für Altes Testament am Wheaton College und war vorher jahrelang Dozent am Moody Bible Institute. Ihm geht es darum, die eigentliche Botschaft des Textes, so wie sie damals von den Hörern mit ihrer kulturellen Prägung verstanden wurde, zu erforschen. Vor mir liegt das Buch „The Lost World of Genesis One“ (Intervarsity Press 2010), das in 18 Kapitel („Propositions“, also Thesen) unterteilt ist. Wer sich nicht das Buch kaufen, aber doch einen direkten Eindruck von Waltons Position gewinnen möchte, kann sich hier einen Vortrag anhören. Im Folgenden fasse ich wichtige Aussagen aus den ersten sieben Thesen zusammen. Wer den Bibeltext nicht im Kopf hat, sollte ihn vorher lesen, z.B. hier. Das hebräische Original samt interlinearer Übersetzung findet man z.B. hier. (Nicht vergessen, dass man von rechts nach links lesen muss!)

These 1: Genesis 1 (= 1. Mose 1) verwendet die damaligen kosmologischen Vorstellungen: Die damaligen Israeliten hatten nicht unser heutiges Wissen über die Erde und die himmlischen Gestirne. Für sie und die anderen Völker des Alten Orients war z.B. die Erde eine Scheibe und der Himmel ein festes Gewölbe, welches das darüberliegende Wasser zurückhielt. Der biblische Text unternimmt nichts, um ihre Vorstellungen zu korrigieren. (Das erkennt man auch an vielen anderen Stellen des Alten Testaments. Ich werde hierzu voraussichtlich im Februar einen Blogbeitrag schreiben.) Offensichtlich verfolgt der Text nicht das Ziel, die Israeliten in kosmischer Geographie zu unterweisen; seine Botschaft ist eine ganz andere, die weiter unten ausgeführt wird.

Auch die heute übliche Unterscheidung zwischen Gottes Handeln und naturgesetzlichen Abläufen oder zwischen natürlichen und übernatürlichen Ereignissen gab es damals nicht. Gott war in der gesamten Welt gegenwärtig. Nichts passierte unabhängig von ihm. Damals war die Vorstellung, dass Gott in die Natur „eingreift“, absurd, denn das würde voraussetzen, dass es Abläufe in der Welt gibt, die ohne ihn stattfinden. Die Israeliten und ihre Zeitgenossen im Alten Orient betrachteten jedes Ereignis als Gottes (oder der Götter) Tat: Das Wachsen der Pflanzen, die Geburt jedes Babys, das Fallen der Regentropfen und auch Naturkatastrophen. Daher gab es auch keine „Wunder“ (in dem Sinn, dass Abweichungen vom „natürlichen“ Lauf der Dinge auftraten), sondern nur Zeichen von Gottes Handeln. Walton plädiert dafür, diese Vorstellung von Gottes Verhältnis zur Natur auch heute zu übernehmen. Dies soll nicht bedeuten, dass Gott jedes Detail in dieser Welt aktiv bestimmt, aber dass er in alle Abläufe und Bereiche der Welt durch und durch involviert ist.

These 2: In der Kosmologie des Alten Orients geht es primär um die Funktion oder Aufgabe, nicht um die materiellen Eigenschaften: Ein guter Vergleich ist hier eine Firma: Wir können zwar im Prinzip darüber reden, wie das Gebäude der Firma entstanden ist, doch viel wichtiger zur Beschreibung einer Firma ist ihr Zweck, ihre Strategie und ihre organisatorische Struktur. Eine Firma existiert nicht primär als materielles Objekt (z.B. ihr Gebäude), sondern dadurch, dass sie funktioniert und ihren Geschäften nachgeht. So ist es auch in der biblischen Kosmologie: Die Sonne existiert im damaligen Verständnis dadurch, dass sie ihre Aufgabe im Universum und insbesondere für uns Menschen erfüllt, nämlich der Erde Licht zu geben und den Rhythmus von Tag und Nacht. Die Erschaffung der Sonne bezieht sich demnach nicht auf ihre materielle Erschaffung, sondern auf das Zuweisen ihrer Aufgabe.

Fast alle damaligen Schöpfungstexte beginnen damit, dass die Welt in einem nicht funktionierenden Zustand ist. Es gibt noch keine Unterschiede oder Veränderungen. Es gibt nur Wasser. Die am häufigsten erwähnte schöpferische Handlung in ägyptischen Texten und auch in einigen mesopotamischen Texten ist das Trennen. Meist werden in diesen Texten Himmel und Erde getrennt, aber auch das Wasser oberhalb und unterhalb des Firmaments oder Wasser und Land.

These 3: Das hebräische Verb „bara“ bezieht sich primär auf Funktionen, nicht Materie: Dieses Verb bedeutet „(er)schaffen“ und wird im Alten Testament immer nur mit Gott als Subjekt verwendet. Walton bringt einen Überblick über die 50 Bibelstellen, in denen dieses Verb auftritt. Besonders interessant finde ich die folgenden Stellen (das übersetzte Verb „bara“ ist jeweils kursiv gesetzt): 2. Mose 34, 10: „Vor deinem ganzen Volk will ich Wunder tun, wie sie nicht geschehen sind“; Psalm 51, 10: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz“, Jesaja 43, 1: „Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel“, Jesaja 45, 6+7: „Ich bin der HERR, und sonst keiner mehr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil.“ In diesen Beispielen bedeutet „schaffen“ nicht die materielle Erzeugung, sondern das gestaltende und wirkende Handeln Gottes. Den ersten Vers der Bibel („Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“) versteht Walton nicht als Aussage über die materielle Erschaffung der Welt, die dem in den folgenden Versen beschriebenen Schaffen zeitlich vorangeht, sondern als Überschrift oder einführenden Satz für das Kapitel.

These 4: Der Ausgangszustand für die Schöpfung Gottes ist ein nicht funktionierender Zustand: Im Vers 2 von 1. Mose 1 ist vom anfänglichen „Tohuwabohu“ die Rede, in der Lutherbibel mit „wüst und leer“ übersetzt, in anderen Übersetzungen steht statt „wüst“ (für „tohu“) auch „ungestaltet“ oder „formlos“. Um der Bedeutung dieses Begriffs auf die Spur zu kommen, untersucht Walton wieder andere Bibelstellen, in denen er verwendet wird. („bohu“ tritt selten auf, und wenn, dann immer mit „tohu“, deshalb konzentriert er sich auf „tohu“.) „tohu“ bezeichnet mehrfach wüstes, unnützes Land, aber auch nichts nutzende Dinge oder Personen oder Worte. Manchmal wird es auch mit „Nichts“ übersetzt. Der Ausgangspunkt für die sechs Schöpfungstage ist also ein ungeordneter, unstrukturierter, nicht funktioneller Zustand der Welt. Ähnlich ist es in Schöpfungstexten anderer altorientalischer Kulturen. Ein wichtiger Unterschied zwischen den Texten dieser Kulturen und dem biblischen Schöpfungsbericht ist, dass der Nutzen oder die Funktion des Geschaffenen im biblischen Schöpfungsbericht auf den Menschen bezogen ist (s. These 5), während in den außerbiblischen Quellen alles den Göttern dienen muss.

Am Ende jedes Schöpfungstages, an dem Gott gestaltend und Funktionen schaffend wirkt, heißt es: „Es war gut“. Laut Walton bedeutet das, dass das neu Geschaffene Gottes Plan und Bestimmung gemäß war und seine Aufgabe, den Menschen die Lebensgrundlage zu schaffen, erfüllte. Er illustriert dies anhand des Verses „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (1. Mose 2, 18), in dem das Fehlen von etwas, das zum Menschsein nötig ist, als „nicht gut“ bezeichnet wird.

These 5: Die ersten drei Schöpfungstage legen Funktionen fest: Am ersten Tag wird das Licht geschaffen und „Tag“ genannt. Walton folgert daraus, dass man statt „Licht“ besser „eine Periode von Licht“ (nach der Dunkelheit folgt) lesen sollte. Denn am Ende des ersten Schöpfungstages heißt es, dass aus Abend und Morgen der erste Tag wurde: Der Wechsel von Tag und Nacht war nun etabliert, also der Takt, in dem für uns Menschen die Zeit abläuft.

Am zweiten Tag wurde das Wasser oberhalb des Firmaments von dem unterhalb des Firmaments getrennt. Dies erfüllt zwei Funktionen. Zum einen wird der Raum geschaffen, in dem wir leben können, und zum zweiten wird das Wasser, das von oben kommt, kontrolliert. Es wird also das Wettersystem eingerichtet, das für den Ackerbau so wichtig ist. Am dritten Tag trennt Gott Wasser und Land und sagt zu dem Land, dass es Pflanzen hervorbringen soll. Damit wird der Raum für die Landlebewesen geschaffen und die Grundlage für ihre Nahrung gelegt.

Die an den ersten drei Tagen geschaffenen Lebensvoraussetzungen (Zeit, Wetter, Nahrung) spielen auch in außerbiblischen Schöpfungstexten eine wichtige Rolle. Interessant ist auch, dass diese drei Dinge in Kapitel 8, nach der vorübergehenden Rückkehr zum ungeordneten und nicht funktionierenden Zustand durch die Sintflut, nochmals erwähnt werden. Da heißt es (Vers 22): „Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“. Hier sind also Nahrung, Wetter und Zeit in der umgekehrten Reihenfolge erwähnt. Dies bestätigt die Auslegung, dass der Text in Genesis 1 die Etablierung dieser drei Grundlagen des Lebens beschreibt.

These 6: In den Tagen 4 bis 6 werden Funktionsträger eingesetzt: Die Tage 4-6 sind parallel zu den Tagen 1-3 aufgebaut und setzen in die entstandenen Bereiche Funktionsträger ein. Am vierten Tag werden Sonne und Mond eingesetzt, dass sie Licht geben und Zeiten, Tagen und Jahre anzeigen sollen. Es geht hier also nicht primär um das materielle Schaffen, sondern um das Zuweisen einer Aufgabe. Am fünften Tag werden die Bewohner der Luft und des Meeres geschaffen, nämlich Vögel und Fische. Luft und Meer entstanden ja am zweiten Tag durch die Trennung der Wasser unter- und oberhalb des Firmaments. Ihnen wird auch ihre Aufgabe (=Funktion) zugewiesen: Sie sollen „fruchtbar sein und sich mehren“, also ihren Lebensraum ausfüllen. Am sechsten Tag wird das (am dritten Tag entstandene) trockene Land mit Landlebewesen gefüllt. Interessant ist die parallele Konstruktion: „Gott sprach, die Erde bringe hervor lebendiges Getier“ und dann „Und Gott machte die Tiere des Feldes“. Dass die Erde etwas hervorbringt und dass Gott es erschafft sind hier also zwei Sichtweisen auf dieselbe Sache.

Am sechsten Tag werden schließlich auch die Menschen geschaffen. Auch sie bekommen die Aufgabe, fruchtbar zu sein und sich zu mehren (Vers 28), und außerdem die Aufgabe, über den Rest der Schöpfung zu herrschen (Vers 26). Denn (Vers 27): Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ Die Menschen sollen also Gottes Vize-Regenten auf der Erde sein. Wie wir Menschen diese Aufgabe verantwortungsvoll wahrnehmen können, ist gerade heutzutage angesichts der Umweltzerstörung durch uns Menschen eine brennende Frage. Nicht nur damit, sondern auch mit der Erschaffung des Menschen und der Bedeutung der Gottesebenbildlichkeit werden wir uns in zukünftigen Blogbeiträgen noch weiter befassen, da die Evolutionstheorie hier einige Fragen aufwirft. (Walton selbst geht in den späteren Kapiteln des Buchs auch auf diese Fragen ein. Hier betont er insbesondere, dass der biblische Schöpfungsbericht in keinem Konflikt zu den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Geschichte des Universums und der Erde und des Lebens steht. Der biblische Schöpfungsbericht adressiert nämlich ganz andere Fragen und nicht die des materiellen Ursprungs. Walton erwähnt auch, dass die in Genesis 2 beschriebene Erschaffung von Tieren und Menschen aus Erde damals ein allgemein gebräuchliches Bild war und sich nicht etwa nur auf die ersten, sondern auf alle Tiere und Menschen bezog.)

These 7: Der Ort, an dem Gott ruht, ist sein Tempel: Nach den sechs Schöpfungstagen kommt im biblischen Text der siebte Tag, an dem Gott ruht. Jeder altorientalische Hörer verstand das „Ruhen“ Gottes als das Wohnen in seinem Tempel. Dies erkennen wir auch an verschiedenen Stellen im Alten Testament, z.B. Psalm 132, 8 („Mach dich auf zur Stätte deiner Ruhe“) oder 2. Chronik 6, 41 („Und nun mache dich auf, Herr, Gott, zu deiner Ruhe“). Natürlich „ruht“ Gott dort nicht in unserem Sinn, sondern er wohnt dort und regiert von dort aus. Walton argumentiert weiterhin, dass mit dem Tempel, den Gott am siebten Schöpfungstag bezogen hat, der ganze Kosmos gemeint ist, den er nun fertig gestaltet und mit seinen Aufgaben versehen hat. In der Tat gibt es eine Reihe von alttestamentlichen Stellen, die sagen, dass Gott im ganzen Kosmos wohnt und dass der Tempel ihn gar nicht fassen kann (z.B. Jesaja 66, 1-2). Entsprechend diesem Verständnis waren Tempel der damaligen Zeit, und genauso die Stiftshütte Israels und der Tempel Salomos, voll von Symbolen, die den Kosmos darstellten.

In den folgenden Thesen spezifiziert Walton seine Interpretation des Schöpfungsberichts weiter und argumentiert, dass die sieben Tage die Einweihung des kosmischen Tempels, in dem Gott wohnt, beschreiben. Diese sieben Tage des Schöpfungsberichts versteht er also als sieben 24-Stunden-Tage, denn eine Einweihungsfeier dauerte, wie alle großen Feste, eine Woche. Ab hier finde ich seine Auslegung recht spekulativ. Nach dem Verständnis fast aller anderen Ausleger beschreibt der Schöpfungsbericht, wenn auch in der damaligen Sprache, ein echtes Schaffen und nicht nur eine Feier. Es gibt auch keine Hinweise darauf, dass man in Israel solch ein Fest gefeiert hat. Den Besprechungen seines Buchs im Internet entnehme ich, dass es anderen Lesern ähnlich geht.

Doch dies schmälert nicht den großen Gewinn, den ich aus den oben zusammengefassten Ausführungen bezogen habe. Die im Blogeintrag vom 10.10. erwähnte „Schematische Sicht“ („Framework View“) des Schöpfungsberichts nimmt hierdurch erst richtig Gestalt an, und viele Details des Textes werden nun lebendig. Ich hoffe, dass Sie von diesen Erklärungen ebenso wie ich profitieren konnten.

Weitere Literatur: Zu diesem Thema gibt es auch ein gutes Faraday-Paper hier unter der Nummer 11. (Dort ist auch eine deutsche Version.)




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