Der Kosmos im Alten Testament
Manche Christen versuchen, im Schöpfungsbericht der Bibel moderne wissenschaftliche Erkenntnisse wiederzufinden. Im Blogbeitrag vom 10.10. („Die lange Geschichte der Erde“) habe ich zwei solche Theorien, die Tag-Zeitalter-Theorie und die Lückentheorie, vorgestellt. Hier versucht man, die verschiedenen Zeitalter der Erdgeschichte verschiedenen Teilen des Schöpfungsberichts zuzuordnen. Ich habe auch schon Bücher gelesen, in denen die Autoren meinten, die Expansion des Universums, die Kontinentaldrift oder die Abstammung aller Lebewesen von gemeinsamen Vorfahren in Texten des Alten Testaments wiederzufinden. Man nennt diese Art, mit der Bibel umzugehen, Konkordismus: Man sucht eine Übereinstimmung (=Konkordanz) zwischen dem Bibeltext und der modernen Naturwissenschaft. Doch wenn der Bibeltext diese Dinge wirklich lehren würde, hätten Bibelleser schon längst vor den Naturwissenschaftlern diese Dinge in der Bibel finden und verkündigen müssen. Nach Ansicht vieler Ausleger gehen solche Versuche an den Aussagen und der Absicht der biblischen Texte vorbei. John Walton, den ich in den Beiträgen vom 22.11.2020 und 16.1.2021 zu den ersten Kapiteln der Bibel schon ausführlich zitiert habe, betont, dass an keiner Stelle im Alten Testament Aussagen über die Natur gemacht werden, die über das hinausgehen, was die damals gängige Auffassung war. Gott hat zu seinem Volk in einer Sprache gesprochen, die es verstehen konnte und die zu seiner Vorstellungswelt passte. Wie hätten sie auch sonst die Aussagen der Texte verstehen sollen? Man kann John Walton keinesfalls vorwerfen, von der modernen Bibelkritik geprägt zu sein, denn er ist sogar ein Vertreter der „Irrtumslosigkeit“ (auf Englisch „inerrancy“) der Bibel.
Im Blogbeitrag vom 26.10.2020 (Kopernikus, Galilei und die Bibel) wurden schon einige Bibelstellen erwähnt, in denen die damalige Vorstellung über die Welt sichtbar wird: Damals schien die Erde unbewegt zu sein und die Sonne um die Erde zu kreisen. Die Botschaft dieser Bibeltexte ist freilich eine ganz andere. Die Formulierung in der Sprache und den Vorstellungen der damaligen Zeit ist das Vehikel, mit dessen Hilfe diese Botschaft vermittelt wird.
Mit dem heutigen Beitrag möchte ich zeigen, dass es im Alten Testament eine Reihe von weiteren Stellen gibt, aus denen ersichtlich wird, dass die Israeliten das Weltbild ihrer damaligen Umgebung übernommen haben. Die Vorstellungen der Israeliten über Erde und Gestirne stimmten mit denen der Ägypter und Babylonier überein. Meine Quelle für diese Information ist der Artikel „The Bible and Ancient Science“ des evangelikalen Theologen und Biologen Denis O. Lamoureux (Science and Christian Belief 31, 168-193 (2019)).
Mesopotamische und ägyptische Texte und Tafeln zeigen, dass in der damaligen Vorstellung die Erde eine Scheibe ist, umgeben von Wasser. Darüber ist eine Kuppel gewölbt, entlang derer Sonne, Mond und Sterne wandern. Über der Kuppel ist Wasser, und darüber sind die Götter. Unter der Erde ist ebenfalls Wasser, und darunter das Totenreich. Diese Vorstellungen sind sehr naheliegend: Die Erde sieht für einen stehenden Beobachter flach aus, und in jeder Richtung erreicht man irgendwann Wasser. Der Himmel sieht aus wie eine Kuppel und ist blau wie Wasser. Donner und Blitz müssen von Göttern verursacht werden, die über der Himmelskuppel wohnen. Aus der Erde entspringen Quellen, also muss es unter der Erde Wasser geben.
Das feste Firmament, oberhalb dessen sich Wasser befindet, wird schon im ersten Kapitel der Bibel erwähnt, in 1. Mose 1, 6-8: „Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern, die da scheide zwischen den Wassern. Da machte Gott die Feste und schied das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste. Und es geschah so. Und Gott nannte die Feste Himmel.“ Die Feste, also das Firmament, wird auch an anderen Stellen erwähnt. In Hiob 37, 18 heißt es: „Kannst du gleich ihm die Wolkendecke ausbreiten, die fest ist wie ein gegossener Spiegel?“ Und Psalm 19, 2 sagt: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.“ Psalm 148, 4 erwähnt das Wasser über der Feste: „Lobet ihn, ihr Himmel aller Himmel und ihr Wasser über dem Himmel!“ Das Wasser über der Feste und auch das Wasser unter der Erde kommt im Sintflutbericht prominent vor. In 1. Mose 7, 11 steht: „In dem sechshundertsten Lebensjahr Noahs am siebzehnten Tag des zweiten Monats, an diesem Tag brachen alle Brunnen der großen Tiefe auf und taten sich die Fenster des Himmels auf.“ Auch das Wasser unter der Erde wird noch mehrfach erwähnt, z.B. in Psalm 24, 2: „Denn er hat ihn (den Erdkreis) über den Meeren gegründet und über den Wassern bereitet.“
Sonne, Mond und Sterne sind gemäß der damaligen Vorstellung an der Feste angebracht: 1. Mose 1, 16-18: „Und Gott machte zwei große Lichter: ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch die Sterne. Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, dass sie schienen auf die Erde und den Tag und die Nacht regierten und schieden Licht und Finsternis.“
Das Himmelsgewölbe wird nach der damaligen Vorstellung an seinem Rand von Säulen getragen: Zwei Stellen hierzu sind Hiob 26, 11: „Die Säulen des Himmels zittern und entsetzen sich vor seinem Schelten.“ und 2. Samuel 22, 8: „Die Erde bebte und wankte, die Grundfesten des Himmels bewegten sich und bebten, da er zornig war.“
Der Himmel besteht aus dem unteren Himmel (bestehend aus Firmament, Wolken und Luft unter, sowie Wasser über dem Firmament) und dem oberen Himmel, in dem Gott mit seinen Engeln wohnt. Das hebräische Wort für Himmel „schamajim“ ist ein Dual, also ein Plural, der immer dann verwendet wird, wenn es zwei gibt (z.B. auch für Augen, Ohren und Hände). Dass Gott über dem Wasser (übrigens auch ein Dual, „majim“) wohnt, steht z.B. in Psalm 104, 3: „Du baust deine Gemächer über den Wassern.“
Wenn das Himmelsgewölbe eine Kuppel ist, ist die Grenze des Meeres ein Kreis. Diese Grenze des Meeres oder ihre Kreisform wird in mehreren Bibelversen erwähnt. In Hiob 26, 10 heißt es: „Er hat am Rand des Wassers eine Grenze gezogen.“ und in Sprüche 8, 27 steht: „Als er die Himmel bereitete, war ich (die Weisheit) da, als er den Kreis zog über den Fluten der Tiefe.“
Dass das Totenreich unter der Erde angesiedelt ist, geht aus vielen Bibelstellen hervor, z.B. aus Jes. 14, 9: „Das Totenreich drunten erzittert vor dir“ oder 5. Mose 32, 22: „Ein Feuer ist durch meinen Zorn angezündet, das wird bis in die unterste Tiefe des Totenreichs hinab brennen“. (Nach der Schlachter-Übersetzung zitiert, da Luther an dieser Stelle „scheol“ nicht als „Totenreich“ wiedergibt.)
Übrigens spiegelt auch das Neue Testament das dreistöckige Weltbild mit dem Himmel oben und dem Totenreich unten wider: Paulus schreibt in Philipper 2, 9-10: „Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“ Und in Epheser 4, 9+10 heißt es: „Dass er (Jesus) aber aufgefahren ist, was heißt das anderes, als dass er auch hinabgefahren ist in die Tiefen der Erde? Der hinabgefahren ist, das ist derselbe, der aufgefahren ist über alle Himmel, damit er alles erfülle.“
Mit diesen Beispielen ist zur Genüge belegt, dass die Botschaft der Bibel in der Sprache und den Vorstellungen der damaligen Zeit formuliert wurde. Besonders interessant finde ich die Verschiedenheit derjenigen Texte, die über die Schöpfung reden. Es gibt nicht nur den Schöpfungstext in 1. Mose 1, sondern eine Reihe weiterer Schöpfungstexte, darunter Hiob 26, 7-14, Psalm 104, 2-9, Sprüche 8, 22-31, 1. Mose 2, Hiob 38, 4-11. (Die letzten beiden wurden oben noch nicht zitiert.) Es gibt sogar einen Schöpfungstext, der die heidnische Vorstellung aufgreift, dass zu Beginn der Schöpfung zunächst die Chaosmächte oder Seeungeheuer, nämlich die „Drachen“ (taninim) und der „Leviatan“ besiegt werden mussten. In den Versen 13 und 14 von Psalm 74 steht: „Du hast das Meer aufgewühlt durch deine Kraft, zerschmettert die Köpfe der Drachen über den Wassern. Du hast die Köpfe des Leviatan zerschlagen und ihn zum Fraß gegeben dem wilden Getier.“ (Doch in 1. Mose 1, 21 werden die „Taninim“ und in Psalm 104, 26 der „Leviathan“ als Gottes Geschöpfe bezeichnet – ganz im Kontrast zu der heidnischen Vorstellung.)
Die erwähnten Texte beschreiben die Schöpfung also auf verschiedene Weise und betonen verschiedene Aspekte. Es ist unmöglich, daraus eine einheitliche Beschreibung über den Ablauf des Schöpfungsprozesses abzulesen. Allein dies zeigt schon, dass man die biblischen Schöpfungstexte nicht verwenden kann, um daraus naturgeschichtliche Auffassungen abzuleiten. All diese Texte proklamieren und preisen auf verschiedene Weise Gottes Schöpfermacht und sein ordnendes und versorgendes Handeln in der Schöpfung. Den Autoren der biblischen Texte ging es dabei offensichtlich nicht um einen faktischen Bericht über die Reihenfolge und materielle Beschaffenheit der geschaffenen Dinge, sonst hätten spätestens die Redakteure der nachexilischen Zeit die Schöpfungstexte miteinander harmonisiert. Und Gott, der die Schreiber der Bibel bewegt hat, hat uns nicht auf übernatürlichem Weg Kenntnisse über die Geschichte und Beschaffenheit seiner Schöpfung vermittelt. Diese Dinge dürfen und können wir selbst herausfinden, indem wir unseren gottgegebenen Verstand benutzen, um die Natur zu erforschen. Im Gegensatz dazu kann unser Verstand nichts über Gottes Wesen und seinen Heilsplan erkennen, wenn Gott uns dies nicht mitteilt. Und hier liegt der eigentliche Zweck der Bibel. Wenn ich sie lese, spricht Gott zu mir, und ich lerne ihn besser kennen.
Literaturhinweis: Ein ins Deutsche übersetzter Artikel von Denis Lamoureux, der u.a. auch Informationen zum alttestamentlichen Weltbild ähnlich wie in dem von mir verwendeten Artikel enthält, ist hier zu finden. Zum Thema „Schöpfungstexte der Bibel“ gibt hier einen interessanten englischsprachigen Vortrag von Mark Harris.