Kopernikus, Galilei und die Bibel

Der Fortschritt der Wissenschaft brachte mehrfach althergebrachte Vorstellungen über die Welt ins Wanken und zwang die Menschen dazu, ihr Weltbild zu revidieren. In mehreren Blogbeiträgen möchte ich vier dieser wissenschaftlichen Entdeckungen behandeln: die Entdeckung, dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Kosmos steht, die Entdeckung, dass die Erde sehr viel älter ist als die Geschichte der Menschheit, die Entdeckung der Geschichte des Universums und die Entdeckung, dass alle Lebewesen durch einen gemeinsamen Stammbaum miteinander verwandt sind. Diese Entdeckungen und die damit einhergehenden Umwälzungen bisheriger Vorstellungen wirkten sich auch auf die Kirchen aus und die Art, wie man die Bibel verstand. Ich finde es sehr lehrreich, diese historischen Umwälzungen zu betrachten, denn sie helfen uns zu unterscheiden zwischen dem, was der Kern des christlichen Glaubens und was die zeit- und kulturbedingte Verpackung ist, die sich bestimmt auch in Zukunft wieder verändern wird.

Die Geschichte von Galileo Galilei wird oft als Beleg für die Behauptung herangezogen, dass Glaube und Naturwissenschaft im Konflikt miteinander stehen. Galilei wurde im Jahr 1633 von der katholischen Kirche gezwungen, die Lehre, dass die Erde um die Sonne kreise, zu widerrufen, und danach wurde er bis an sein Lebensende unter Hausarrest gestellt. Dabei hatte Nikolaus Kopernikus das heliozentrische Weltbild schon fast 100 Jahre vorher, also 1543, vorgeschlagen. Bis es sich aber endgültig durchsetzte, dauerte es noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts, als Newton zeigte, dass sich die Bahnen der Planeten um die Sonne aus dem Gravitationsgesetz berechnen lassen.

Die Auseinandersetzung um das heliozentrische Weltbild als Konflikt zwischen Glaube und Wissenschaft darzustellen, wird den historischen Verhältnissen nicht gerecht. Das alte, geozentrische Weltbild war seit 2000 Jahren eine unumstößliche scheinende, unmittelbar durch die Anschauung belegte Tatsache. Es war nicht nur in der Kirche, sondern auch an den Universitäten, im philosophischen Denken und im Naturverständnis fest verankert. Dass die Erde sich bewegt, war gegen jede Vernunft, denn jedes bewegte Objekt kommt nach einer Weile zur Ruhe. Außerdem: Wenn die Erde sich bewegen würde, würde ein Gegenstand, der von einem Turm fallengelassen wird, nicht direkt unterhalb des Anfangspunkts seines Falls aufkommen, sondern seitlich davon entfernt, weil die Erde sich während des Falls ja unter dem fallenden Gegenstand weiterbewegt haben würde. Inzwischen wissen wir natürlich, dass das nicht stimmt, doch damals kannte man das Trägheitsgesetz (das erste Newtonsche Gesetz) noch nicht. Außerdem müssten die Fixsterne am Himmel kleine scheinbare Kreisbahnen beschreiben, wenn die Erde sich um die Sonne bewegt (das ist die sogenannte Parallaxe), aber man beobachtete diese Parallaxe nicht. Die einzige alternative Erklärung, dass die Fixsterne extrem weit von der Erde entfernt sind, schien total verrückt.

Neben diesen naturwissenschaftlichen Argumenten gab es philosophische Argumente: Seit Aristoteles war man davon überzeugt, dass der Kosmos zwei verschiedene Bereiche hat: den ewigen, unveränderlichen und vollkommenen Bereich jenseits der Sphäre des Mondes, und den vergänglichen, veränderlichen, verdorbenen Bereich innerhalb dieser Sphäre und insbesondere auf der Erde. Die Hölle wurde im Inneren der Erde angesiedelt, der Himmel jenseits der Fixsternsphäre. Damals schien es offensichtlich, dass fallende Gegenstände sich deshalb zur Erde hin bewegen, weil die Erde ihr natürlicher Aufenthaltsort ist, da sie selbst aus irdischem Material gemacht sind.

Die Bibel scheint dieses Weltbild zu unterstützen. Hier ein paar Beispieltexte:

  • Psalm 19,7: Sie (die Sonne) geht auf an einem Ende des Himmels und läuft um bis wieder an sein Ende (Also: die Sonne kreist um die Erde)

  • Psalm 93,1: Der Herr hat den Erdkreis gegründet, dass er nicht wankt (Also: die Erde bewegt sich nicht)

  • Josua 10,13: (Josua sprach) Sonne, steh still zu Gibeon (Also: die Sonne bewegt sich um die Erde)

  • Epheser 4,9+10: (Jesus ist) hinabgefahren in die Tiefen der Erde ….. aufgefahren über alle Himmel (Also: das Totenreich ist im Inneren der Erde, der Himmel oberhalb der Sterne)

  • 1. Mose 3: Die Geschichte vom Sündenfall, die oft so interpretiert wurde, dass durch den Sündenfall des Menschen die Erde verdorben und der Vergänglichkeit preisgegeben wurde.

Wir sehen also, wie damals Anschauung, physikalische Vorstellung, philosophische Konzepte, Jahrhunderte alte Tradition und Bibelinterpretation Hand in Hand gingen, so dass das alte geozentrische Weltbild felsenfest stand. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass es 150 Jahre dauerte, bis das neue Weltbild sich etablierte. Anfangs gab es vor allem mathematische, ästhetische Argumente für das neue Weltbild: Die Bahnen der Planeten werden einfacher, wenn man davon ausgeht, dass sich alle Planeten und auch die Erde um die Sonne bewegen. Erst nach Erfindung des Fernrohrs zu Beginn des 17. Jahrhunderts kamen immer mehr empirische Belege dazu: Galileis Entdeckung der Phasen der Venus und der Monde des Jupiter weckten Zweifel an der Vorstellung, dass alle Himmelskörper ausschließlich um die Erde kreisen und dass sie keine Veränderungen erfahren. Seine Entdeckung der Sonnenflecken und der Krater auf dem Mond zeigte, dass die Welt außerhalb der Erde auch nicht rein und perfekt ist. Die Entdeckung, dass Kometen durch die Bahnen mehrerer Planeten wandern, erschütterte den Glauben an die kugelförmigen Sphären, an die die Planeten geheftet sein sollten. Die Entdeckung des Trägheitsgesetzes und des Gravitationsgesetzes durch Isaac Newton schließlich konnte die verbleibenden wissenschaftlichen Einwände ausräumen und die Bahnen aller Planeten und Monde auf ein einheitliches Prinzip zurückführen. Bis man endlich die Fixsternparallaxe nachweisen konnte, dauerte es zwar noch bis zum 19. Jahrhundert, doch da war man schon seit langem aus den genannten anderen Gründen überzeugt, dass die Erde um die Sonne kreist.

Die Christenheit musste sich an den Gedanken gewöhnen, dass die Erde nun zu einem himmlischen Gestirn, gleichberechtigt mit den anderen Planeten, avancierte. Man musste lernen, die wichtigen Inhalte des Glaubens zu trennen von den konkreten, zeitgebundenen Vorstellungen, die man sich dazu machte. Das war freilich nichts völlig Neues. Die Kirchenväter hatten schon immer die verschiedenen Auslegungsmöglichkeiten der Bibel betont. Augustinus hatte schon um das Jahr 400 die Christen davor gewarnt, im Namen der Bibel Aussagen über die Gestirne zu machen, von denen gelehrte Menschen wissen, dass sie falsch sind. Dadurch würden diese Menschen vom Glauben abgehalten. Die Reformatoren des 16. Jahrhunderts dachten ähnlich: Sie betrachteten die Bibel als Autorität in Fragen des Glaubens und der Lebensführung, aber nicht in Bezug auf alles unter der Sonne. Der Reformator Calvin betonte, dass diejenigen, die Astronomie lernen wollen, sich nicht an die Bibel wenden sollen. Galileo selbst hat in der Diskussion mit der katholischen Kirche gesagt, dass die Bibel uns nicht lehrt, wie die Himmel gehen, sondern wie wir zum Himmel gehen. Die Schreiber der Bibel hätten ihre Sprache dem Verständnis und den Vorstellungen ihrer Leser angepasst. Doch zu Galileos Zeit waren diese Aussagen der Kirchenväter und Reformatoren zum Teil in Vergessenheit geraten, und es gab sowohl in der evangelischen, als auch in der katholischen Kirche ein Festhalten am wortwörtlichen Verständnis der Bibelverse über Sonne und Erde. In protestantischen Kreisen lag das daran, dass man das „sola scriptura“ der Reformatoren auch auf nicht die Heilsbotschaft betreffende Aussagen anwandte. In katholischen Kreisen hielt man im Kampf gegen die Reformation an der Tradition fest und damit am bisherigen Bibelverständnis. Doch in beiden Kirchen gab es auch eine Reihe von Unterstützern für die neue Lehre. Zudem dürfen wir nicht vergessen, dass die Hauptvertreter der neuen Lehre, Kopernikus, Kepler, Galilei und Newton, tief gläubige Männer waren und zwischen ihrer wissenschaftlichen Überzeugung und der Bibel keinen Widerspruch sahen.

Heutzutage gibt es wohl kaum einen Christen, der einen Widerspruch zwischen der Bibel sieht und der Erkenntnis, dass die Erde um die Sonne kreist. Uns allen ist klar, dass die in der Sprache verwendeten Bilder nicht gleichzusetzen sind mit Aussagen über die Realität. Wir reden ja heute noch vom Aufgang und Untergang der Sonne, obwohl wir wissen, dass die Sonne nicht auf- und untergeht, sondern dass die Erde sich um ihre Achse dreht und deshalb die Sonne sich mal über und mal unter dem Horizont befindet. Doch leider gibt es auch heute wieder in freikirchlichen Kreisen einen ungesunden Literalismus, wenn es um andere Themen als die Planetenbahnen geht. Doch dies ist der Stoff für andere Blogbeiträge… Ich wünsche uns allen, dass wir die Lektionen, die die kopernikanische Revolution mit sich brachte, gut verinnerlichen!

Literaturhinweise: Die wikipedia-Einträge zum geozentrischen Weltbild, zum heliozentrischen Weltbild und zu Galileo Galilei sind recht gut. Meine Hauptquellen waren das Buch „Science and Religion. Some Historical Perspectives“ (Cambridge University Press 1991, 2014) von John Hedley Brooke, einem der weltweit führenden Experten zur Geschichte des Verhältnisses von Christentum und Naturwissenschaft, und der Artikel „The Galileo Affair“ von Ernan McMullin, den man unter https://www.faraday.cam.ac.uk/resources/faraday-papers/ als Nr. 15 findet.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

Nachtrag vom 11.10.: Strenggenommen landet ein fallengelassener Gegenstand nicht exakt unter dem Punkt, an dem er losgelassen wird. Es gibt aufgrund der höheren Rotationsgeschwindigkeit der Erde in der Abwurfhöhe gegenüber der Rotationsgeschwindigkeit an der Erdoberfläche eine kleine Ostablenkung

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