Der Sündenfall

Die Geschichte vom Sündenfall im dritten Kapitel der Bibel ist für viele Christen ein Grund, die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Abstammung des Menschen von tierischen Vorfahren abzulehnen. Der Sündenfall ist Teil der großen Geschichte von Schuld und Erlösung, die die Bibel erzählt: Der Mensch wurde für die ungetrübte Gemeinschaft mit Gott geschaffen. Er hat sich aber von Gott gelöst und wird seitdem von der Sünde beherrscht. Jesus brachte uns durch seinen Tod am Kreuz nicht nur die Vergebung unserer Sünden, sondern er erlöste uns auch aus der Macht der Sünde.

Steht dieser grundlegende Teil christlicher Lehre im Konflikt mit den Erkenntnissen der Naturwissenschaft? Wie schon vor vier Wochen (zum Thema „Der Mensch als Ebenbild Gottes“) möchte ich auch zu diesem Thema wieder auf das Buch „Finding ourselves after Darwin“ zurückgreifen. Der zweite große Themenblock dieses Buchs befasst sich mit dem Sündenfall. Die Hauptbotschaft ist: Der Kern der christlichen Lehre von Sünde und Erlösung wird durch die tierische Abstammung des Menschen nicht berührt. Allerdings haben sich die zeit- und kulturabhängigen Vorstellungen, die wir uns zu dieser Lehre machen, verändert. In ihrer Interpretation der Geschichte vom Sündenfall gehen die Schreiber der verschiedenen Beiträge auseinander und bieten uns daher eine Vielfalt von Auslegungsmöglichkeiten.

Die Lehre von der Sündhaftigkeit des Menschen hat mehrere Facetten: (a) Alle Menschen sind Sünder. Dies führt der Apostel Paulus im Brief an die Römer aus: „Alle haben ja gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren.“ (Kap. 3, 23, Einheitsübersetzung). Das bedeutet nicht nur, dass alle Menschen sündigen, sondern auch, dass sie von Beginn ihres Lebens an eine Neigung zum Sündigen haben. (b) Die Neigung zur Sünde wird von Generation zu Generation weitergegeben. (c) Die Menschen fielen dadurch in Sünde, dass sie sich bewusst dafür entschieden, sich aus der Abhängigkeit von Gott zu lösen. Dies erzählt die Geschichte vom Sündenfall in 1. Mose 3.

Betrachten wir nun der Reihe nach, wie diese drei Facetten der Sündhaftigkeit des Menschen zur Entwicklungsgeschichte des Menschen passen.

  1. Das Urteil, dass alle Menschen Sünder sind, kann man völlig unabhängig von der Entwicklungsgeschichte des Menschen fällen. Es bezieht sich auf den jetzigen Zustand der Menschen. Unser Gefallensein ist offenkundig durch unsere Begierden und unser Verhalten. Manche sagen, die Lehre, dass alle Menschen Sünder sind, sei die am besten empirisch belegte Lehre des Christentums. (Man findet diese Aussage sowohl bei G.K. Chesterton, als auch bei Reinhold Niebuhr.) Tiere sind nicht zur Sünde fähig. Um zu sündigen, braucht man ein moralisches Bewusstsein und die Fähigkeit, sich für oder gegen eine Handlung zu entscheiden. Diese Fähigkeiten haben nur wir Menschen.

  2. Es gibt zwei Arten, wie die Neigung zur Sünde von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird: Über die Gene und über die Kultur. Die verschiedenen Autoren des Buchs gewichten diese beiden Übertragungswege verschieden. Von der früheren Lehre, dass die Sündhaftigkeit durch den Geschlechtsverkehr übertragen wird, distanzieren sich die Schreiber des Buchs. Es ist allerdings unstrittig, dass viele unserer Veranlagungen in den Genen stecken, insbesondere unsere Neigung zu Agression, Egoismus und sexueller Promiskuität. All dies findet man auch schon in der Tierwelt. Unsere Abstammung von Tieren liefert also eine natürliche Erklärung dafür, dass auch wir diese Veranlagungen haben. Doch das heißt nicht, dass unsere Gene unser Verhalten so stark bestimmen, dass wir gar nicht anders können. Unsere Triebe können sowohl zum Guten, als auch zum Bösen eingesetzt werden. Wir sind verantwortlich dafür, wie wir mit unserer Veranlagung umgehen.

    Alle Autoren wenden sich gegen das auf den Kirchenvater Augustinus zurückgehende Verständnis von der Erbsünde. Nach diesem Verständnis wird jedem Menschen, schon bevor er selbst sündigt, die Sünde Adams angerechnet. Dies führte früher sogar zu der Auffassung, dass Säuglinge, die ungetauft sterben, in die Hölle kommen. Die Autoren halten dagegen, dass nicht die Sünde selbst, sondern die Veranlagung dazu (die unvermeidlich zum Sündigen führt) an die nächste Generation weitergegeben wird.

    Neben der genetischen Komponente gibt es auch eine kulturelle. Wir Menschen werden viele Jahre lang durch unsere Eltern, die Schule und die Gesellschaft erzogen. Wer wir sind, hängt von der Geschichte der Generationen vor uns ab. Von unseren Eltern lernen wir, was wir erstreben sollen und wie wir es erreichen können, und diese haben es von ihren Eltern gelernt. Lange bevor wir anfangen, kritisch darüber nachzudenken, ahmen wir einfach das nach, was man uns vorlebt. Außerdem sind wir in die strukturelle Ungerechtigkeit und Schuld unserer Gesellschaft verstrickt, z.B. in die Ausbeutung von Mensch und Natur durch unseren Lebensstandard.

  3. Am stärksten gehen die Meinungen der Autoren bei der Frage auseinander, wie es historisch dazu kam, dass wir Menschen von Gott getrennt sind, also wann und wie der „Sündenfall“ passiert ist. Grundsätzlich sind sich alle einig darin, dass irgendwann in der Geschichte der Menschheit der Moment kam, in dem das moralische Bewusstsein entstand. Damit wurde den Menschen zum ersten Mal bewusst, was sie taten. Erst seitdem sind sie Rechenschaft schuldig und können zur Verantwortung gezogen werden. Es gibt im Wesentlichen vier verschiedene Modelle dafür, wie die Geschichte von Sündenfall historisch einzuordnen ist.

    1. Ein einzelnes Menschenpaar hat den Sündenfall erlebt. Wir haben diese Auffassung schon bei John Walton im Blogbeitrag „Adam und Eva“ vom 16.1. kennengelernt. Dieses Menschenpaar war nicht das erste oder einzige Menschenpaar. Nach allem, was wir wissen, gab es zu keiner Zeit nur zwei Menschen, sondern immer mindestens tausende, und auch der Bibeltext 1. Mose 4 setzt voraus, dass es damals noch mehr Menschen gab. Adam und Eva waren Priester (so bei John Walton) oder König und Königin (so C. John Collins im erwähnten Buch), die die damalige Menschheit oder eine Untergruppe repräsentierten und eine besondere Verbindung zu Gott und Verantwortung vor Gott hatten. Da die Söhne Kain und Abel laut 1. Mose 4 Ackerbau und Viehzucht betrieben, muss das besondere Menschenpaar nach der Meinung einiger Gelehrter in der Jungsteinzeit gelebt haben. Im Zweistromland gibt es seit ca. 8500 Jahren Ackerbau und Viehzucht. Für dieses Modell ist die kulturelle Übertragung der Sünde wichtig: Sünde kann über die Kultur auch zu Menschen übertragen werden, die nicht die direkten Nachkommen sind. So konnte sich die Sünde auch „seitlich“ zu den anderen damals in der betreffenden Region lebenden Menschen ausbreiten.

    2. Die gesamte Menschheit hat den Sündenfall erlebt: Dieses und alle weiteren Modelle betrachten die Geschichte vom Sündenfall nicht als die Geschichte zweier Menschen, sondern verstehen „Adam“ und „Eva“ (deren Namen „Mensch“ und „Leben“ bedeuten) als personifizierte Bezeichnung für die (damaligen) Menschen insgesamt. Alle Autoren des Buchs weisen darauf hin, dass wir Menschen auch nach den Erkenntnissen der Naturwissenschaft genetisch eine Einheit sind und unseren Ursprung in derselben Gruppe von Vorfahren haben. Wenn wir zeitlich weit genug zurückgehen, gibt es sogar eine Frau, die die gemeinsame Vorfahrin aller heute lebenden Menschen ist, und ebenso einen Mann, der der gemeinsame Vorfahre aller heute lebenden Menschen ist. Das war vor 100000 bis 200000 Jahren. Andrew Pinsent schlägt in seinem Buchbeitrag vor, dass in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit irgendwann der Moment kam, in dem die Fähigkeit zum abstrakten Denken und zu moralischen Entscheidungen erweckt wurde. Dies ist der Moment, in dem der Mensch „Gottes Ebenbild“ wurde. Gleichzeitig empfingen die Menschen von Gott auch die Fähigkeit, ihn zu kennen und zu lieben und ihre natürlichen Triebe zu kontrollieren, so dass sie zur Entfaltung und nicht Zerstörung dienen. Sie sollten ihre tiefste Erfüllung in einem Leben im Gehorsam zu seinem perfekten Willen finden. Doch sie entschieden sich gegen Gottes Liebe und verloren die Nähe zu Gott. Von diesem Modell gibt es auch die Variante, das verschiedene Menschengruppen an verschiedenen Orten dieses Erlebnis unabhängig voneinander hatten.

    3. Gradueller Fall: Beim graduellen Fall wird der Sündenfall als längerer Prozess verstanden, während dessen das moralische Bewusstsein der Menschen erwachte und sie anfingen, Gott zu erkennen und die Verantwortung zu begreifen, die sie für ihr Verhalten haben. Damit wuchs auch das Sündenbewusstsein und die Erkenntnis, dass sie nicht sind, was sie sein sollten, sondern von Gott getrennt sind. Wenn die Menschheit durch einen langen Prozess aus tierischen Vorfahren geformt wurde, scheint solch ein gradueller Fall auf den ersten Blick plausibler als das Modell ii. Doch Modell ii. ist damit nicht ausgeschieden, denn auch allmähliche Änderungen der Gehirnstruktur könnten plötzliche Übergänge in den geistigen Fähigkeiten ermöglichen. Eine Analogie aus der Physik kann dies plausibel machen, nämlich das Verhalten von Wasser bei einem allmählichen Erhöhen der Temperatur: Wenn die Temperatur den Schwellwert 100 Grad erreicht (bei Normaldruck), wechselt das Wasser sprunghaft seine Struktur und seine Eigenschaften und geht von der Flüssigkeit zum Dampf über.

    4. Das nicht-historische Modell: Vertreter dieses Modells, wie z.B. Christopher Hays in „Finding ourselves after Darwin“, argumentieren, dass das zweite und dritte Kapitel der Bibel nicht historisch zu verstehen sind, weder als das Erlebnis zweier Menschen, noch als das Erlebnis einer Gruppe von Menschen. Dies zeigt die symbolische, bildhafte Sprache des Textes: In der Geschichte vom Sündenfall kommt eine sprechende Schlange vor, zwei Sorten von magischen Früchten (vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen und vom Baum des Lebens) und zwei Personen mit Namen „Mensch“ und „Leben“. Diese Geschichte vermittelt tiefe Wahrheiten über das Wesen der Sünde und unseren gefallenen Zustand. Ebenso zeigt sie uns, dass dies nicht der Zustand ist, für den wir eigentlich geschaffen sind, denn wir sind für die Gemeinschaft mit Gott und ein Leben in Abhängigkeit von ihm geschaffen.

Mir fällt es schwer, mich zwischen diesen Modellen zu entscheiden. Modelle ii. und iii. konkretisieren die bildliche Beschreibung des Sündenfalls des biblischen Texts im Lichte der uns inzwischen bekannt gewordenen Vorgeschichte der Menschheit. Modell i. hat den Charme, dass es nah an der traditionellen Interpretation der Geschichte vom Sündenfall ist und dass es keine Interpretationsprobleme damit gibt, dass Adam später in der Bibel in Stammbäumen und in den Paulusbriefen als Individuum auftritt. Der Gedanke, dass Gott einen bestimmten Menschen erwählt und mit ihm seine Geschichte beginnt, passt sehr gut zum Rest des Alten Testaments (Noah, Abraham, Mose). Für Modell iv. spricht neben den bildlichen und symbolischen Elementen auch die Tatsache, dass die Geschichte vom Sündenfall im ganzen Rest des Alten Testaments nie wieder erwähnt wird, was für eine Überlieferung aus der Frühzeit der Menschen unwahrscheinlich ist. Viele Theologen vertreten die Auffassung, dass die Geschichte vom Sündenfall recht spät entstanden ist (womöglich während oder nach der babylonischen Gefangenschaft).

Allerdings geht es mir in diesem Blogbeitrag nicht darum, ein bestimmtes Modell zu bewerben, sondern die vielfältigen Möglichkeiten aufzuzeigen, die biblische Geschichte vom Sündenfall im Lichte der wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Vorgeschichte des Menschen zu interpretieren, ohne dabei das traditionelle christliche Verständnis von Sünde und Erlösung aufzugeben. Mancher Leser wird sich nun fragen, wie im Lichte der Modelle ii. bis iv. die Aussagen des Apostels Paulus über Adam im Römerbrief und ersten Korintherbrief zu verstehen sind. Auch zu diesen Stellen gibt es mehrere Auslegungsmöglichkeiten. Doch dies ist der Stoff für einen eigenen Blogbeitrag, der in vier Wochen erscheinen wird.

Literaturhinweise: Neben dem Buch „Finding Ourselves after Darwin“ (Baker Academic, Grand Rapids, Michigan, 2018, Hrg. Stanley P. Rosenberg) finde ich auch „Creation or Evolution: Do We Have to Choose“ von Denis Alexander (Monarch Books 2008) und „The Lost World of Adam and Eve“ von John Walton (InterVarsity Press Academic 2015) für dieses Thema sehr hilfreich.


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