Paulus, Adam und der Tod

An diesem Sonntag feiern wir die Auferstehung Jesu von den Toten. Noch mehr: Wir feiern den Sieg über den Tod und die Verheißung des ewigen Lebens. Der Apostel Paulus formuliert es sehr eindrücklich in seinem ersten Brief an die Korinther im 15. Kapitel (Verse 54+55): „Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“ Das Osterfest ist ein guter Anlass, über die Bedeutung des Todes in der Bibel, und insbesondere bei Paulus, nachzudenken.

Paulus macht an zwei Stellen Aussagen, die oft so verstanden werden, dass erst durch die Sünde Adams der Tod in die Welt kam. Die eine Stelle ist 1. Kor. 15,21: „Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden.“ Die andere Stelle ist Röm. 5,12: „Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben.“

Ein Artikel, den ich zum Verständnis dieser beiden Stellen besonders hilfreich finde, ist „Death through Adam: Two Different Senses in Two Different Pauline Letters“ des Theologen William Horst in Science and Christian Belief 32, 111-127 (2020). Viele der folgenden Gedanken sind aus diesem Artikel übernommen.

Betrachten wir zunächst, wie der Tod vor und zur Zeit des Paulus im Judentum gesehen wurde. Jüdische Schriften vor Paulus und zur Zeit des Paulus behandeln die Sterblichkeit des Menschen als einen natürlichen Teil der geschaffenen Ordnung. Wir sehen das schon im Alten Testament. In dem Abschnitt, der den neuen Himmel und die neue Erde beschreibt, heißt es (Jes. 65,20): „Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt, und wer die hundert Jahre nicht erreicht, gilt als verflucht.“ Alt und lebenssatt sterben zu dürfen, wurde zu der Zeit als ein Zeichen von Gottes Segen angesehen. Nicht der Tod selbst, sondern der vorzeitige Tod wurde oft als Strafe für Sünde angesehen. So wird dem von Gott abgefallenen König Saul, der am nächsten Tag im Kampf starb, gesagt (2. Samuel 28,18): „Weil du der Stimme des Herrn nicht gehorcht hast, wird der Herr dich in die Hand der Philister geben.“ In den Spätschriften des Alten Testaments (von Protestanten auch als „Apokryphen“ bezeichnet) wird der Tod ebenfalls als etwas Natürliches beschrieben. Ein Beispiel ist Sirach 17,1+2: „Der Herr hat den Menschen aus Erde geschaffen und ihn wieder zur Erde zurückkehren lassen. Er bestimmte ihnen die Zeit ihres Lebens und gab ihnen Macht über das, was auf Erden ist, und verlieh ihnen Kraft, wie er selber sie hat, und schuf sie nach seinem Bilde.“ Beim jüdischen Gelehrten Philo von Alexandria, einem Zeitgenossen des Paulus, finden wir ebenfalls diese Sicht. Er unterscheidet zwei Arten von Tod: Den körperlichen Tod, der ein natürliches Phänomen ist, und den seelischen Tod, der eine göttliche Strafe ist. Der seelischen Tod ist derjenige, den Adam und Eva laut Philo nach dem Sündenfall erlitten. Auch in den Schriftrollen vom Toten Meer findet man Hinweise darauf, dass für das Judentum der damaligen Zeit die Sterblichkeit von Anfang an zum Menschen gehörte, weil er aus Staub gemacht ist.

Ähnlich klingt es bei Paulus im 15. Kapitel des ersten Korintherbriefs (Verse 42-47): „Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich. […] Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib. Gibt es einen natürlichen Leib, so gibt es auch einen geistlichen Leib. Wie geschrieben steht: Der erste Mensch, Adam, »wurde zu einem lebendigen Wesen« (1. Mose 2,7), und der letzte Adam zum Geist, der lebendig macht. Aber nicht der geistliche Leib ist der erste, sondern der natürliche; danach der geistliche. Der erste Mensch ist von der Erde und irdisch; der zweite Mensch ist vom Himmel.“ Mit diesen Worten kontrastiert Paulus den sterblichen Leib des ersten und aller weiteren Menschen mit dem 'geistlichen' Leib, den Jesus nach der Auferstehung hatte und den alle Menschen bei der Auferstehung bekommen werden. Der sterbliche Leib Adams und aller anderen Menschen ist also ein natürlicher Teil der Schöpfung Gottes.

Mit diesem Hintergrundwissen kommen wir nun zu den oben zitierten Versen 1. Kor. 15,21-22: „Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden.“ Dass „durch einen Menschen der Tod gekommen ist“, wird oft auf den Sündenfall bezogen, da die Formulierung „gekommen ist“ danach klingt, als hätte es den Tod vorher nicht gegeben. Doch im griechischen Originaltext fehlt das „gekommen ist“, da steht nur: „durch einen Menschen der Tod, und durch einen Menschen die Auferstehung“. William Horst und andere Ausleger lesen dies im Lichte des bisher Gesagten. Demnach bringt Paulus wieder die Gegenüberstellung von Adam und Christus: mit Adam stellt er die erste, vergängliche Schöpfung, in der die Menschen von Anfang an sterblich sind, der zweiten Schöpfung ohne Tod gegenüber, die mit dem auferstandenen Christus ihren Anfang genommen hat. Er sagt nicht, dass Adam die Ursache dafür ist, dass wir alle sterben.

Es gibt in 1. Kor. 15 allerdings noch einen weiteren Vers, der scheinbar der Interpretation des Todes als intrinsisches Element der ersten Schöpfung widerspricht. In Vers 56 heißt es „Der Stachel des Todes aber ist die Sünde“. Da dieser Satz ohne weitere Erklärungen dasteht, ist er nicht einfach zu interpretieren. William Horst versteht dies so, dass erst die Sünde den Tod richtig tragisch macht. Um dies zu zeigen, geht er zurück zu den Versen 17-19: „Ist Christus aber nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden; dann sind auch die, die in Christus entschlafen sind, verloren. Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen.“ Paulus sagt hier, dass die Auferstehung Jesu die Gläubigen davon befreit, 'in ihren Sünden' zu sein. Jesu Kreuzestod bringt erst in Verbindung mit der Auferstehung die Erlösung von den Sünden. Ohne die Auferstehung Jesu würden auch die Menschen nicht auferstehen, und dann wären die Gläubigen, die gestorben sind, für immer verloren. Die Trennung von Gott wäre unumkehrbar.

Diese Interpretationen sind im Kontext des betrachteten Kapitels 1. Kor. 15 schlüssig, doch sie passen scheinbar nicht zu dem anderen oben zitierten Vers des Paulus über Adam, den wir nun samt seinen Folgeversen betrachten (Röm. 5,12-17):

„Deshalb, wie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und der Tod durch die Sünde, so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, weil sie alle gesündigt haben. […] Aber nicht verhält sich's mit der Gnadengabe wie mit der Sünde. Denn wenn durch die Sünde des Einen die Vielen gestorben sind, um wie viel mehr ist Gottes Gnade und Gabe den Vielen überreich zuteil geworden in der Gnade des einen Menschen Jesus Christus. Und nicht verhält es sich mit der Gabe wie mit dem, was durch den einen Sünder geschehen ist. Denn das Urteil hat von dem Einen her zur Verdammnis geführt, die Gnade aber hilft aus vielen Sünden zur Gerechtigkeit. Denn wenn wegen der Sünde des Einen der Tod geherrscht hat durch den Einen, um wie viel mehr werden die, welche die Fülle der Gnade und der Gabe der Gerechtigkeit empfangen, herrschen im Leben durch den Einen, Jesus Christus.“

Um zu verstehen, was Paulus in diesem Abschnitt mit „Tod“ meint, hilft es, die nachfolgenden Kapitel zu lesen: Kap. 7,9-11: „Ich lebte einst ohne Gesetz; als aber das Gebot kam, wurde die Sünde lebendig, ich aber starb. Und so fand sich's, dass das Gebot mir den Tod brachte, das doch zum Leben gegeben war. Denn die Sünde nahm das Gebot zum Anlass und betrog mich und tötete mich durch das Gebot.“ Kap. 8,10: „Wenn aber Christus in euch ist, so ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen.“ Hier wird der „Tod“ also mit einem Versklavtsein unter die Sünde gleichgesetzt, was oft als „geistlicher Tod“ bezeichnet wird und ein Leben in Gottesferne bedeutet. Vgl. auch Eph. 2,1: „Auch ihr wart tot durch eure Übertretungen und Sünden, in denen ihr früher gewandelt seid nach der Art dieser Welt“. Dieser geistliche Tod kam laut Paulus durch den Sündenfall in die Welt. Alle Menschen erleiden ihn. Interessanterweise sagt Paulus nicht, dass die Menschen den geistlichen Tod von Adam erben, sondern dass sie ihn deshalb erleiden, weil sie ebenfalls sündigen (Röm. 5,12).

Wir haben es also im Römerbrief und im 1. Korintherbrief mit zwei verschiedenen Bedeutungen von „Tod“ und entsprechend mit zwei verschiedenen Vergleichen zu tun, die Paulus zwischen Adam und Christus zieht: Im Römerbrief geht es um Sünde und Erlösung, Gesetz und Gnade, geistlichen Tod und Leben in Christus – und das alles in diesem Leben. In 1. Kor. 15 dagegen geht es um den alten Leib versus den Auferstehungsleib, den leiblichen Tod versus die leibliche Auferstehung, um die vergängliche erste Schöpfung versus die zukünftige unvergängliche Schöpfung. In Röm. 5 steht Adam für den „alten Menschen“, der unter der Sünde und von Gott getrennt lebt. Der „Tod“, dem Adam gemäß dieser Bibelstelle unterworfen war, kam durch die Sünde und ist kein leiblicher, sondern ein geistlicher Tod. In 1. Kor. 15 dagegen steht Adam für den von Gott aus Staub geschaffenen sterblichen Menschen. Der „Tod“ in diesem Kontext ist der natürliche Tod alles Geschaffenen und hängt nicht mit dem Sündenfall zusammen.

Zum Abschluss des heutigen Blogbeitrags möchte ich noch auf die Frage eingehen, ob Paulus Adam als den ersten Menschen betrachtet hat und ob es für die Bedeutung der Aussagen von Paulus wichtig ist, dass er der erste Mensch war. Dennis Lamoureux, den ich schon im Blogbeitrag vom 20.2. zitierte, meint, dass Paulus wohl der Auffassung war, dass Adam und Eva die ersten Menschen waren und dass alle anderen Menschen von diesen beiden abstammen. Das sei die allgemeine Annahme zur Zeit des Paulus gewesen. Doch daran hänge nicht die Aussage, die Paulus in den zitierten Stellen macht. Dass die Menschen sündig und erlösungsbedürftig sind, hat Paulus in den ersten vier Kapiteln des Römerbriefs schon ausführlich begründet, ohne dies ursächlich auf Adam oder gar eine „Erbsünde“ zurückzuführen. In seinen anderen Briefen erwähnt Paulus ebenfalls oft Sünde und Erlösung, ohne einen Bezug zu Adam herzustellen. Der Rest der Bibel stellt diesen Bezug auch nicht her. Paulus benutzt Adam weniger als Vorfahren denn als Archetyp für uns und als Gegentyp für Christus. Wir alle sind 'in Adam' sündig (gemäß der Römerstelle) und 'in Adam' sterblich (gemäß der Korintherstelle). Entsprechend sind wir 'in Christus' von der Herrschaft der Sünde befreit und haben 'in Christus' das ewige Leben. Eine leibliche Abstammung ist hierfür nicht nötig. Für Lamoureux ist es auch nicht wichtig, dass Adam und Eva wirkliche Personen waren.

Eine andere Sicht als Denis Lamoureux hat John Walton, der in den Blogbeiträgen vom 16.1.21 und 21.11.20 zu Wort kam. Walton meint, dass Adam und Eva von Gott auserwählte und zu priesterlichem Dienst berufene Einzelpersonen waren. Gleichzeitig gab es damals auch andere Menschen. Wenn Adam und Eva nicht gesündigt hätten, hätten sie auch nicht leiblich sterben müssen, da sie vom Baum des Lebens hätten essen können. Durch ihre Sünde wurden alle anderen Menschen mitgerissen.

Ich finde alle erwähnten Gedanken sehr anregend und hilfreich. Allerdings bleiben bei jeder Auslegung eine Reihe von Fragen offen. Den Zusammenhang zwischen Sünde und leiblichem Tod ganz aufzulösen, wie William Horst es tut, scheint mir nicht ganz richtig. Beide sind Teil der ersten Schöpfung, von beiden hat Christus uns befreit, und keines von beiden gibt es in der neuen Schöpfung. Irgendeinen tiefen Grund muss es geben, warum unsere Welt beides enthält und warum wir von beidem eines Tages erlöst werden. Auch wenn der Tod im jüdischen Verständnis natürlich war, beschreibt Paulus ihn auch als einen „Feind“: „Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod“ heißt es in 1. Kor. 15,26.

Mit der Frage, warum Gott in seine erste Schöpfung Tod, Leid und die Möglichkeit zur Sünde eingewoben hat, werden wir uns in drei Wochen beschäftigen und die verschiedenen Antworten, die Theologen hierauf geben, betrachten.

Hinweis: Einige meiner früheren Blogbeiträge berühren ebenfalls die Themen „Tod“ und „Sünde“, z.B. „Tod und Leid in der Natur“ vom 5.12.2020, „Adam und Eva“ vom 16.1.2021 und „Der Sündenfall“ vom 6.3.2021.


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