Warum erlaubt Gott Leid und Tod in der Schöpfung?
Die Frage, warum Gott das Leid zulässt, ist die sogenannte Theodizee-Frage (von griechisch theodikia = Gerechtigkeit Gottes, Rechtfertigung Gottes). Sie wird öfters als philosophisches Dilemma formuliert, indem man die folgenden drei Aussagen betrachtet, die von Christen bejaht werden:
Gott ist allmächtig.
Gott ist gut.
Es gibt Leid in der Welt.
Daraus wird von Religionskritikern ein Widerspruch konstruiert: Ein guter Gott will kein Leid. Wenn er allmächtig ist, kann er das Leid verhindern. Also kann es kein Leid geben, wenn Gott allmächtig und gut ist. Also ist Gott entweder nicht allmächtig oder nicht gut, oder es gibt ihn gar nicht. (Alternativ gibt es noch die Denkmöglichkeit, dass Leid nur eine Illusion ist. Und man kann fragen, was „allmächtig“ und „gut“ bedeutet, doch in diese Diskussionen möchte ich hier nicht einsteigen.)
Die Folgerung, dass mindestens eine der drei Aussagen nicht stimmen kann, ist allerdings nicht logisch zwingend. Ein allmächtiger und guter Gott kann Gründe dafür haben, Leid zuzulassen. Über die möglichen Gründe wurde schon viel nachgedacht und geschrieben. Es ist natürlich vermessen zu meinen, unser begrenzter Verstand könne Gott verstehen (vgl. Hiob 42, 3). Dennoch kann das Nennen möglicher Gründe bei Glaubenszweifeln oder in Diskussionen mit Atheisten hilfreich sein. Daher bringe ich im Folgenden einige der in der Literatur genannten Gründe. Meine Hauptquellen hierfür sind der dritte Teil des Buchs „Finding Ourselves After Darwin“ (Baker Academic, Grand Rapids Michigan, 2018, Hrg. Stanley P. Rosenberg), aus dem ich schon zwei-mal zitiert habe, und das Kapitel „Leid ohne Gott?“ aus dem Buch „Glaubensnöte“ von Christoph Böttigheimer (Herder 2011).
Es gibt drei Sorten von Begründungen für das Leid: (i) Leid als solches dient guten Zwecken (ii) Leid ist ein unvermeidlicher Nebeneffekt von etwas Gutem (iii) Leid steht Gottes Absichten feindlich entgegen.
Wir betrachten diese drei Arten von Begründungen der Reihe nach:
Leid als Mittel zum Zweck: Diese Art von Argumenten betont, dass durch Leid Ziele erreicht werden, die anders nicht erreicht werden können. In der englischsprachigen Literatur spricht man von „soul making“ und meint damit die charakterformende Wirkung des Leids. Helden gibt es nur dort, wo es Gefahren gibt; Standhaftigkeit wird durch Angriffe und Versuchungen gebildet; Mitgefühl zeigt sich nur, wenn andere leiden, und Opferbereitschaft bedeutet, Leid auf sich zu nehmen. Vieles, was wir an anderen Menschen bewundern oder schätzen, gibt es nur, weil es Leid gibt. Leid trägt zum Reifen unserer Persönlichkeit bei. Diese Einstellung finden wir auch bei den Schreibern der Briefe des Neuen Testaments: Jak. 1, 2-4: „Meine Brüder und Schwestern, erachtet es für lauter Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallt, und wisst, dass euer Glaube, wenn er bewährt ist, Geduld wirkt. Die Geduld aber soll zu einem vollkommenen Werk führen, damit ihr vollkommen und unversehrt seid und keinen Mangel habt.“ Röm. 5, 3-5: „Wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden.“ 1. Petr. 1, 6-7: „Dann werdet ihr euch freuen, die ihr jetzt eine kleine Zeit, wenn es sein soll, traurig seid in mancherlei Anfechtungen, auf dass euer Glaube bewährt und viel kostbarer befunden werde als vergängliches Gold, das durchs Feuer geläutert wird, zu Lob, Preis und Ehre, wenn offenbart wird Jesus Christus.“ Alle drei Texte deuten an, dass es darum geht, sich zu bewähren und ein Ziel zu erreichen. Der Blick auf das Ziel ist hierbei essenziell. Ohne die Ewigkeit und Gottes neue Welt vor Augen wäre es sinnlos zu leiden. Doch dies allein ist keine ausreichende Erklärung für Leid. Vieles Leid geht weit über das hinaus, was wir als nützlich für die Charakterbildung ansehen würden.
Leid als Nebeneffekt oder Kehrseite von etwas Gutem: Die bekannteste Version dieses Arguments ist die Berufung auf den freien Willen: Weil Gott ein echtes Gegenüber will, das ihn freiwillig liebt, gibt er den Menschen den freien Willen und damit die Fähigkeit zum Bösen. Hiermit wird begründet, dass es von Menschen verursachtes Leid gibt.
Doch es gibt auch das nicht von Menschen verursachte, natürliche Leid durch Naturereignisse, Krankheit, etc. Diese Art von Leid gab es schon lange, bevor es Menschen gab (s. Blogeintrag vom 5.12.2020). In vielen Fällen lässt es sich als Nebeneffekt von etwas Gutem erkennen: Das Wetter, das uns Regen spendet, kann auch Überschwemmungen und Stürme hervorbringen. Die Vulkane, die fruchtbare Erde ermöglichen, töten bei ihren Ausbrüchen Lebewesen. Die Bewegung der Erdplatten, ohne die es keine Berge und Flüsse gäbe, sorgt auch für Erdbeben. Bakterien, die unzählige Aufgaben in der Natur übernehmen und ohne die unsere Verdauung nicht funktionieren würde, können auch Krankheiten verursachen.
Doch so mancher fragt sich, warum Gott, wenn er allmächtig ist, bei den schlimmen Naturereignissen nicht eingreift und sie verhindert. Hier gibt es mehrere mögliche Antworten. Mir als Physikerin ist der Verweis auf die Naturgesetze besonders sympathisch: Damit wir Menschen verantwortungsvoll handeln können, müssen wir absehen können, was die Auswirkungen unseres Handelns sind. Das geht nur, wenn es Naturgesetze gibt, die zuverlässig funktionieren. Das bedeutet wiederum, dass Gott nicht nach Lust und Laune die Gesetze außer Kraft setzen kann, wenn er möchte, dass wir Menschen verantwortlich handeln können. (Dieses Argument wird manchmal so weit gespannt, dass man Wunder für völlig unmöglich hält. So weit möchte ich nicht gehen, doch das ist nicht das Thema für heute.)
Eine zweite Antwort auf die Frage, warum Gott nicht schlimmes Leid verhindert, ist, dass er der Natur Freiheit und Kreativität gegeben hat, sich zu entfalten. Dies ist das natürliche Gegenstück dazu, dass die Menschen Freiheit haben, ihr Leben zu gestalten. Demnach hat Gott die Natur mit allen Gesetzen und Entwicklungsmöglichkeiten ausgestattet und die großen Ziele vorgegeben, hat aber nicht in allen Details vorherbestimmt, was geschehen soll. Diese Sicht hat den Vorteil, dass man die grausamen Auswüchse der Natur nicht direkt Gottes Handeln zuschreiben muss, sondern nur indirekt dadurch, dass er das alles ermöglicht.
Eine frühere Version dieser Sicht vertrat der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz, der der Vater des Begriffs „Theodizee“ ist. Er meinte, Leid sei ein notwendiger Teil einer Welt, die so beschaffen ist, dass sie größtmögliche Vielfalt mit größtmöglicher Ordnung verbindet.
Speziell in Bezug auf die Vergänglichkeit der Natur gibt es ein interessantes Argument, das auf den Kirchenvater Augustinus zurückgeht: Zum Werden gehört auch das Vergehen. Alles kommt aus dem Nicht-Sein und hat daher die Tendenz, dorthin zurückzukehren. Augustinus hat nicht gelehrt, dass die Natur erst durch den Sündenfall vergänglich wurde, auch wenn es ihm oft zugeschrieben wird.
Doch einige Theologen sind mit diesen Erklärungen nicht zufrieden, da sie nicht begründen, wieso gemäß dem christlichen Glauben Tod und Leid durch Jesus besiegt wurden und eines Tages die ganze Schöpfung davon erlöst werden wird. Das bringt uns zum dritten Punkt:
Leid als gottfeindlich: Die dritte Sorte von Begründungen für das Leid schreibt Leid gottfeindlichen Mächten zu. Früher wurde das Entstehen von Leid in der Welt oft auf den menschlichen Sündenfall zurückgeführt. Doch seit man weiß, dass es schon lange vor den Menschen Tod und Leid gab, ist diese Erklärung nicht mehr akzeptabel. Schon bei den Kirchenvätern findet man die Auffassung, dass es längst vor dem menschlichen Sündenfall einen Fall von Engeln gab, mit Satan als ihrem Anführer. Die Bibel lehrt dies nicht explizit, doch einige Verse werden in diese Richtung interpretiert (Luk. 10, 18, Offb. 12, 7-12). Gemäß dieser Lehre hat Gott nicht nur den Menschen den freien Willen gegeben und damit die Möglichkeit, sich gegen ihn zu entscheiden, sondern auch den Wesen, die er in der unsichtbaren Welt geschaffen hat. Auch wenn die Aussagen der Bibel über die Herkunft des Bösen vage sind, ist sie deutlich darüber, dass die Welt heute unter der Herrschaft des Bösen steht. Ein Beispiel ist Eph. 6, 11-12: „Zieht an die Waffenrüstung Gottes, damit ihr bestehen könnt gegen die listigen Anschläge des Teufels. Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, mit den Herren der Welt, die über diese Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.“ Dementsprechend lehrt das Neue Testament, dass die Erlösung durch Jesus nicht nur die Menschheit mit Gott versöhnt, sondern auch den Herrscher dieser Welt vertrieben (Joh. 12, 31) und Mächte und Gewalten entmachtet hat (Kol. 2, 15; Eph. 1, 20-22). In der neuen Schöpfung wird es daher keinen Tod und kein Leid mehr geben, Offb. 21, 4: „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ Einen Vorgeschmack auf diese neue Schöpfung hat Jesus schon bei seinem Leben auf dieser Erde gegeben, als er Kranke heilte und Tote lebendig machte. Weil die Erlösung von Sünde, Tod, dem Bösen und dem Leid im Neuen Testament eng miteinander verbunden sind, wird öfters gelehrt, dass alle diese Dinge auf gottfeindliche Mächte zurückgehen. Der Fall Satans und seiner Engel hätte demnach vor der Erschaffung des Universums stattgefunden und das Universum von Anfang an mit geprägt.
Mit diesen letzten Gedanken bewegen wir uns auf sehr spekulativem Terrain. Wir müssen zugeben, dass wir das Leid und das Böse nicht wirklich verstehen. Jede der oben genannten Erklärungen hat ihre Schwächen und wirft Fragen auf. Letztlich bleibt die Herkunft des Leids Gottes Geheimnis.
Bei all dem ist tröstlich, dass Gott nicht ein emotionsloser Beobachter des Leids ist. Er nimmt Teil am Leid und weiß sogar Bescheid über den Spatz, der zur Erde fällt (Matth. 10, 29). Er hat sich in Jesus selbst in das Leid hineinbegeben. Er hat die Menschheit, ja die ganze Welt, am Kreuz mit sich selbst versöhnt. Christoph Böttigheimer formuliert es so: „Er leidet in und mit der Kreatur, er lässt sich vom Leid der Menschen betreffen, mehr noch, in Jesus Christus identifiziert er sich mit dem Leiden und Sterben des Menschen und überwindet es durch jene unbedingte Liebe, die sein Wesen ist.“
Auf der durch Jesus erworbenen Erlösung gründet die Hoffnung auf die neue Schöpfung, ohne die jede Theodizee unvollständig ist. Der Apostel Paulus schreibt, dass die Hoffnung auf Erlösung nicht nur dem Menschen gilt, sondern der gesamten Schöpfung. In Röm. 8, 19-22 heißt es: „Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit – ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat –, doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt.“
Zum Abschluss sei noch einmal Christoph Böttigheimer zitiert: „Das Böse kann seinen universellen Heilswillen nicht brechen, seine Schöpfung bleibt auf Vollendung hin angelegt. […] Im Kreuz und in der Auferstehung Jesu leuchtet der eschatologische Sieg Gottes über das Übel bzw. das Böse auf, von hier aus wird deutlich, dass das Heil alles Unheil umgreift und überwindet. […] Dieser Sieg Christi begründet die christliche Hoffnung auf universale Erlösung. Denn der leidende Christus ist ja die konkrete Vorherbestimmung aller Wirklichkeit (Eph. 1, 4), in ihm wird Gott am Ende alles zusammenfassen (Eph. 1, 10), so dass er alles in allem ist (Kol. 3, 11).“
Hinweis: Ein sehr guter Vortrag von Christian Hofreiter zu dem Thema „Warum lässt Gott Leid zu?“ ist hier zu finden.