Der Mensch als Ebenbild Gottes
Wenn ich in Vorträgen in Gemeinden oder Gesprächen mit Christen die wissenschaftlichen Belege für die tierischen Vorfahren des Menschen erwähne, kommt oft der Einwand, dass dies nicht zum biblischen Menschenbild passe. Wir seien doch fundamental verschieden von den Tieren und von Gott als sein Ebenbild erschaffen.
Besteht wirklich ein Widerspruch zwischen der Aussage, dass wir Menschen Gottes Ebenbild sind, und der Aussage, dass wir tierische Vorfahren haben? Um das herauszufinden, müssen wir zunächst der Frage nachgehen, was „Gottes Ebenbild“ bedeutet. Die Bibelstelle, auf die sich das „Ebenbild“ bezieht, ist 1. Mose 1, 26+27: „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alle Tiere des Feldes und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“
Mit den verschiedenen Facetten dieser biblischen Aussage befasste sich eine Gruppe christlicher Theologen, die sich über längere Zeit wiederholt an der Universität Oxford trafen. Sie diskutierten über mehrere theologische Fragen, die die Abstammung des Menschen von Tieren aufwirft. In ihren Gesprächen zogen sie auch Naturwissenschaftler zu Rate und schrieben schließlich gemeinsam ein Buch mit dem Titel „Finding Ourselves after Darwin“ (Baker Academic, Grand Rapids, Michigan, 2018, Hrg. Stanley P. Rosenberg). Der erste der drei großen Themenblöcke dieses Buchs befasst sich mit dem „Ebenbild Gottes“. Vier verschiedene Autoren stellen vier verschiedene Interpretationen des „Ebenbilds Gottes“ vor, die sich nicht gegenseitig ausschließen und sich allesamt biblisch begründen lassen. Keine dieser Bedeutungen kollidiert mit der Vorstellung, dass die Menschen tierische Vorfahren haben. Die Tatsache, dass wir bestimmte Fähigkeiten und Berufungen haben, steht in keinem Widerspruch damit, dass weit zurückliegende Vorfahren sie noch nicht hatten. Wir erleben ja mit dem Entstehen jedes Babys und dem Heranwachsen jedes Kindes neu, dass diese Fähigkeiten sich entwickeln. Gleichzeitig verstehen Christen das Entstehen eines Babys als Schöpfungshandeln Gottes.
Im Folgenden fasse ich die vier Kapitel zusammen, die die genannten vier Bedeutungen des „Ebenbildes Gottes“ erklären.
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Die funktionale Sicht (functional view): Gemäß dieser Sicht bezieht sich das „Ebenbild Gottes“ auf unsere Funktion oder Rolle in der Schöpfung als Repräsentanten Gottes bzw. stellvertretende Regenten auf der Erde. Der Vergleich mit anderen Texten des Alten Orients legt nahe, dass dies die Sicht der damaligen Autoren war. Ägyptische und assyrische Texte sprechen vom Pharao bzw. vom König als dem Bild der Gottheit. Der Regent war also der physische Vertreter der Gottheit. Während andere Völker das „Ebenbild Gottes“ auf die Herrscher beschränkten, verleiht der biblische Schöpfungsbericht allen Menschen diese Würde. Der Gedanke, dass Gott auf der Erde viele Vertreter hat, erinnert an die damalige Praxis der Herrscher, Statuen von sich selbst in entlegenen Winkeln des Königreichs aufzustellen. So konnte ein Herrscher auch dort sichtbar sein, wo er nicht persönlich erscheinen konnte. Diese Statuen wurden auch „Bild“ des Herrschers genannt. Die Auffassung, dass die Menschen als Stellvertreter Gottes auf der Erde herrschen sollen, teilt auch der achte Psalm. Dort steht (Vers 7): „Du hast ihn (den Menschen) zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan: Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere, die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und alles, was die Meere durchzieht.“ Da das „Ebenbild Gottes“ im Rest des Alten Testaments nicht wieder erwähnt wird, bleibt unklar, in welchem Sinne dieses „Herrschen“ damals gemeint war. Heutzutage bereitet uns diese Interpretation des „Ebenbilds Gottes“ Bauchschmerzen, weil wir die Fähigkeit, über die Erde zu herrschen, übel missbraucht haben. Wir haben sie ausgebeutet und zum Teil zerstört, statt im Sinne Gottes mit ihr umzugehen. Die Geschichte vom Sündenfall bestätigt sich hier auf traurige Weise.
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Die strukturelle Sicht (structural view): Entsprechend dieser Interpretation bezieht sich das „Ebenbild Gottes“ auf diejenigen Fähigkeiten und Eigenschaften, die uns als Menschen vom Tier unterscheiden und die man auch Gott zuschreibt. Dies betrifft z.B. unseren Verstand, unsere Intentionalität (d.h. Zielgerichtetheit), unser moralisches Bewusstsein und unsere schöpferischen Fähigkeiten. Ein wichtiger Aspekt dieses Verständnisses vom „Ebenbild Gottes“ ist unsere Fähigkeit, mit Gott eine Beziehung einzugehen.
Die strukturelle Interpretation des „Ebenbildes Gottes“ herrschte lange Zeit in der christlichen Kirche vor. Man verband sie mit der Vorstellung, dass wir Menschen zusätzlich zum Körper eine unsterbliche, nichtmaterielle Seele haben, die der Sitz des Verstandes und des Bewusstseins ist. Diese starre Unterteilung des Menschen in zwei Substanzen, den materiellen Körper und die immaterielle Seele, wird heutzutage allerdings nicht mehr häufig vertreten. Dies liegt daran, dass sie gar nicht biblisch ist, sondern auf die griechische Philosophie zurückgeht, und daran, dass sie wissenschaftlich nicht plausibel ist. Wir haben inzwischen erkannt, dass Tiere zumindest ansatzweise viele Eigenschaften und Fähigkeiten haben, die früher nur dem Menschen zugetraut wurden. Dazu gehören Kooperation, Gefühle, das Lösen von Problemen, das Benutzen von Werkzeugen und bei einigen Tieren sogar die Fähigkeiten, sich selbst im Spiegel zu erkennen und sich in andere hineinzuversetzen. Das bedeutet, dass Tiere auch das haben, was wir „Seele“ nennen. Außerdem haben wir erkannt, dass „Seele“ und „Körper“ eines Menschen untrennbar miteinander verbunden sind und sich bei der Entstehung des Babys im Mutterleib gemeinsam entwickeln. Statt des oben beschriebenen „Substanzdualismus“ vertritt man daher heute eher einen „Eigenschaftsdualimus“: Wir haben physische und mentale Eigenschaften, die wir nicht fein säuberlich in die getrennten Beiträge zweier Substanzen auseinanderdividieren können. Leider behaupten nicht wenige Wissenschaftler, dass unsere mentalen Fähigkeiten und unser Bewusstsein sich auf die materiellen Prozesse in unserem Gehirn reduzieren lassen. Sie seien also nichts weiter als eine Begleiterscheinung von physikalisch und chemisch beschreibbaren Vorgängen. Diese materialistische, reduktionistische Sicht steht natürlich im Widerspruch zum christlichen Menschenbild. Gegen sie lässt sich viel einwenden. Doch das ist ein Thema für andere Blogbeiträge. An dieser Stelle ist nur wichtig zu betonen, dass unsere körperliche Verwandtschaft mit den Tieren nicht im Widerspruch dazu steht, dass wir Menschen uns deutlich von Tieren unterscheiden und eine Beziehung zu Gott haben können. Unsere geistigen Fähigkeiten sind demnach durch einen längeren Prozess gewachsen, vielleicht ähnlich wie bei einem Säugling, der im Laufe der Jahre zu einem reifen Menschen wird.
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Die Beziehungs-Sicht (relational view): Vertreter dieser Sicht betonen, dass das „Ebenbild“ sich auf unsere Stellung vor Gott bezieht. Wir können eine Beziehung zu ihm haben. Diese Beziehung ist von Liebe geprägt. Hierfür lassen sich Bibelstellen aus dem Neuen Testament anführen. In Kol. 3, 15 heißt es über Jesus: „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“. Ähnlich in Hebr. 1, 3: „Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens“. Gemäß dem Apostel Paulus sollen wir diesem Bild ähnlich werden. Er schreibt in 2. Kor. 3, 18: „Wir werden verwandelt in sein Bild“. Wie soll sich dieses Bild äußern? Hierzu kann man wieder Paulus zitieren. In Eph 5, 12 heißt es: „So seid nun Gottes Nachfolger als die geliebten Kinder und lebt in der Liebe“. Auch andere Stellen im Neuen Testament sagen dies: Wenn wir Liebe üben, bringen wir das Ebenbild Gottes zum Ausdruck. Schon im ersten Kapitel der Bibel wird angedeutet, dass es beim „Ebenbild Gottes“ um Beziehung geht. Es wurde oben schon zitiert: „zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ Mann und Frau zusammen sind also Gottes Ebenbild.
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Die dynamische Sicht (dynamic view): Die dynamische Sicht greift einige Aspekte der Beziehungssicht auf, betont aber, dass das „Ebenbild Gottes“ noch nicht fertig ist, sondern das Ziel. Statt in eine paradiesische Vergangenheit wird das vollendete Ebenbild Gottes in die Zukunft gesetzt. Die volle Entwicklung des Bildes Gottes ist eine Verheißung, auf die wir hoffen. Im vorigen Abschnitt wurde schon 2. Kor. 3, 18 zitiert. Ähnlich in Eph. 4, 15: „Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, Christus,“ und 1. Joh. 3, 2: „Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“ In diesem Verständnis des Ebenbilds Gottes sind es zunächst die Nachfolger Jesu, die dieses Bild widerspiegeln. Unter ihnen wird das angebrochene Reich Gottes schon sichtbar. Erst in Gottes neuer Schöpfung wird dieses Bild dann vollendet sein.
Alle vier Interpretationen des Ebenbildes Gottes – unsere Rolle in der Schöpfung, unsere geistigen Fähigkeiten, unsere Liebesfähigkeit und das Ziel, für das wir bestimmt sind – sind mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Vorgeschichte des Menschen vereinbar. Sie betreffen unseren jetzigen oder (bei der vierten Interpretation) unseren zukünftigen Stand und nicht unsere Vorgeschichte. Ob Gott uns die Würde, sein Ebenbild zu sein, durch einen längeren Prozess gegeben hat oder in einem Augenblick, ist dabei zweitrangig.
Nun regt sich gewiss bei mancher Leserin und manchem Leser die Frage nach dem Sündenfall. Die Geschichte vom Sündenfall scheint tatsächlich schwer vereinbar zu sein mit einer Abstammung von Tieren. Mit dieser Frage beschäftigt sich der zweite große Block des Buchs „Finding Ourselves after Darwin“. In vier Wochen wird es einen Blogbeitrag zu diesem Thema geben.