Am Anfang war der Urknall
Die Erforschung der Geschichte unseres Universums ist für mich eine der beeindruckendsten Errungenschaften der Naturwissenschaft. Wie die Physiker darauf kamen, dass das Universum mit dem „Urknall“ begann, und welche weltanschaulichen Diskussionen das auslöste, möchte ich heute erzählen.
Nachdem man entdeckt hatte, dass die Erde Milliarden von Jahren alt ist (darüber habe ich im vorletzten Beitrag berichtet), war klar, dass das Universum mindestens genauso alt sein muss. Bis in die 1960er Jahre waren viele Wissenschaftler der Überzeugung, dass das Universum schon immer existiert hat, also keinen Anfang hatte. Einen plötzlichen Anfang empfand man als unästhetisch; die Naturgesetze schienen zeitlos gültig zu sein. Insbesondere wer glaubte, dass außer dem Universum nichts weiter existiert, musste eigentlich folgern, dass es ewig ist, denn es kann ja dann nicht durch etwas anderes verursacht worden sein.
Doch es gab auch Zweifel an der Ewigkeit des Universums. Der Physiker Ludwig Boltzmann, der im späten 19. Jh. wichtige Forschungsbeiträge zur Thermodynamik machte, argumentierte auf Basis des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, dass das Universum einen Anfang gehabt haben muss. Dieser Satz besagt nämlich, dass die Entropie im Universum immer mehr zunimmt. Wenn sie beständig zunimmt, muss sie aber früher kleiner gewesen sein, und irgendwann in der Vergangenheit hatte sie ihren kleinstmöglichen Wert. Also kann das Universum nicht schon immer existiert haben.1
Die Kosmologie als Wissenschaft begann mit Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie. Diese im Jahr 1915 veröffentlichte Theorie formuliert den Zusammenhang zwischen Raum, Zeit, Materie, Energie und Gravitation, und sie hat sich in vielfältigen experimentellen Messungen bewährt. Die früheste und vielleicht bekannteste dieser Messungen ist der Nachweis der Ablenkung von Lichtstrahlen im Gravitationsfeld der Sonne während der totalen Sonnenfinsternis 1919. Diese Ablenkung war von Einstein vorhergesagt worden. Weitere berühmte Bestätigungen von Vorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie sind der Nachweis von schwarzen Löchern und die Detektion von Gravitationswellen.
Schon bald nach Veröffentlichung seiner Theorie begann Einstein damit, sie auf das Universum als Ganzes anzuwenden. Er nahm dazu an, dass das Universum überall gleich aussieht, wenn man es auf einer genügend vergröberten Skala betrachtet. Dabei fand er, dass das Universum nicht stabil sein kann; es müsste kollabieren, weil die Gravitationskraft alle Sterne und Galaxien zueinander hinzieht. Um das zu verhindern, führte Einstein seine „Kosmologische Konstante“ ein, eine Art Anti-Gravitation, die das Universum auseinander treibt. Wenn sie genau den umgekehrten Wert wie die Anziehungskraft hat, bleibt das Universum statisch und unverändert.
Alexander Friedmann war der erste Physiker, der in einem Fachartikel diskutierte, was passiert, wenn man die kosmologische Konstante weglässt. Er zeigte, dass das Universum nicht unbedingt kollabieren müsse: Wenn es am Anfang eine genügend große Ausdehnungsgeschwindigkeit hat, reicht die Gravitationskraft nicht aus, diese Ausdehnung auf Null zu verlangsamen und dann umzukehren. Das ist so, wie wenn man einer Rakete genügend Anfangsgeschwindigkeit gibt, dass sie dem Gravitationsfeld der Erde entkommen kann. Ein solches sich ausdehnendes Universum wird mit der Zeit immer größer, und alle Punkte in ihm entfernen sich voneinander.
Unabhängig von Friedmann fand der Priester und Physiker George Lemaître ebenfalls in den 1920er Jahren dieselben Lösungen der Einstein-Gleichungen. Doch im Gegensatz zu Friedmann, der mehr an den mathematischen Eigenschaften der Gleichungen interessiert war, dachte Lemaître darüber nach, was es für den Anfang des Universums bedeutet, wenn es sich heute ausdehnt. Wenn man die Ausdehnung zurück in die Vergangenheit verfolgt, muss das Universum einmal ganz klein und dicht gewesen sein. Lemaître nannte den Anfangszustand des Universums „Ur-Atom“. Dieses Uratom habe alle Materie des Universums enthalten, und seine Explosion sei der Beginn des Universums gewesen. Aufgrund dieser Explosion habe die Materie genügend Anfangsgeschwindigkeit erhalten, dass das Universum sich bis heute ausdehnen konnte trotz der anziehenden Wirkung der Gravitation. Mit dieser Idee gilt er als der Vater des Urknalls – auch wenn die Bezeichnung „Urknall“ erst später aufkam.
Einstein war mit Friedmanns und Lemaîtres Überlegungen überhaupt nicht einverstanden, und aufgrund seiner Autorität siegte zunächst weiterhin das statistische Universum. Doch dann wurde das statische Universum durch die Weltraumbeobachtung mit den neu entwickelten leistungsstarken Teleskopen in Frage gestellt. Schon seit 1912 gab es Messungen, die zeigten, dass die meisten anderen Galaxien sich von uns entfernen. Edwin Hubble konnte diesen Befund deutlich präziser machen, indem er einen Zusammenhang zwischen der Entfernung einer Galaxie und ihrer Geschwindigkeit entdeckte. Im Jahr 1926 veröffentlichte er das später nach ihm benannte Gesetz, dass die Geschwindigkeit, mit der sich Galaxien von unserer Galaxie entfernen, proportional zu ihrem Abstand von uns ist. Eine doppelt so weit von uns entfernte Galaxie entfernt sich also doppelt so schnell von uns.2 Wenn aber alle Galaxien sich voneinander entfernen, bedeutet dies, dass das Universum sich ausdehnt.
Einstein wurde durch diese Entdeckungen vom Urknall überzeugt und schaffte seine kosmologische Konstante wieder ab. (In den 1990er Jahren wurde sie wieder eingeführt. Wir nennen sie heute „Dunkle Energie“.) Doch die Mehrheit der damaligen Kosmologen und Astronomen waren noch nicht überzeugt. Auch wenn das völlig statische Universum wegen der Rotverschiebung der Galaxien nicht mehr möglich war, gab es ein Konkurrenz-Modell zum Urknall-Modell: Das war das sogenannte „Steady-State“-Modell, dessen bekanntester Vertreter der Astrophysiker Fred Hoyle ist. Nach dem Steady-State-Modell sieht das Universum überall und zu jeder Zeit gleich aus. Es expandiert zwar, doch die neuen Zwischenräume werden beständig mit neuen Atomen gefüllt, aus denen sich neue Sterne und Galaxien bilden. Damit dieses Universum nicht irgendwann in der Vergangenheit zu einem Punkt schrumpft, muss es unendlich groß sein. Hoyle ist übrigens der Namensgeber des Urknalls: Er nannte in einer Radiosendung 1949 das von ihm abgelehnte Modell spöttisch "Big Bang" -- und diese Bezeichnung wurde im Laufe der Zeit von allen adoptiert.
Wie kann man überprüfen, welches Modell das zutreffende ist? Nun, man kann prüfen, ob das Modell das erklären kann, was man schon über das Universum weiß. Außerdem kann man aus dem Modell Vorhersagen darüber ableiten, was man im Universum beobachten müsste. Gemäß dem Steady-State-Modell müsste man z.B. in jeder Entfernung von uns sowohl alte als auch junge Galaxien finden. Das Urknall-Modell besagt dagegen, dass alle Galaxien ungefähr dasselbe Alter haben. Deshalb muss man in großen Entfernungen Galaxien aus einer früheren Entwicklungsphase des Universums sehen, denn ihr Licht war Milliarden von Jahren zu uns unterwegs. Doch das konnte man erst seit den 1990er Jahren überprüfen, als Teleskope in der Lage waren, weiter als 8 Milliarden Lichtjahre zu blicken. Dort sieht man Galaxien aus der Frühzeit des Universums, die u.a. kleiner und unregelmäßiger aussehen als die modernen Galaxien in unserer Nähe.
Das Urknallmodell kann außerdem erklären, warum ca. drei Viertel der Materie im Universum Wasserstoff ist und der Rest überwiegend Helium. Dass dies so ist, erkennt man daran, welche Lichtwellenlängen im Universum wie stark absorbiert werden. Laut dem Urknallmodell war das Universum in seiner Anfangszeit extrem heiß und dicht. Das bedeutet, dass am Anfang die Materie in ihre kleinsten Bausteine zerlegt war, die miteinander reagierten, während das Universum sich ausdehnte und abkühlte. In den 1940er Jahren konnten Alpher und Gamov auf Basis der neuesten Erkenntnisse über Kernreaktionen ausrechnen, was sich in den ersten Minuten des Universums abspielte, bis es für weitere Kernreaktionen zu kalt wurde. Sie fanden, dass in diesen wenigen Minuten ca. ein Viertel des Wasserstoffs zu Helium verschmolzen wurde. Das Steady-State-Modell kann keine Aussagen über die Häufigkeiten der Elemente machen.
Ein frühes Problem des Urknall-Modells war das aufgrund der Fliehgeschwindigkeiten der Galaxien berechnete Alter des Universums. Es war mit knapp 2 Milliarden Jahren viel zu klein. Man wusste ja schon, dass die Erde deutlich älter ist. Dieses Problem wurde gelöst, als die Hubbleschen Messungen überprüft und mit den neuesten Erkenntnissen zur Entfernungsbestimmung von Galaxien verbunden wurden. Diese Entfernungsbestimmung ist sehr schwierig und war in früheren Jahren noch recht ungenau. Inzwischen konnte man das Alter des Universums auf knapp 14 Milliarden Jahre festlegen.
Die bekannteste Vorhersage des Urknallmodells ist die kosmische Hintergrundstrahlung. Aus dem Urknall-Modell kann man errechnen, dass nach ca. 380000 Jahren das Universum kalt genug war (ca. 3000 K), dass sich die Elektronen und Protonen zu stabilen Atomen vereinigten. Ab diesem Zeitpunkt konnte Licht sich frei ausbreiten. Die damals freigesetzte Wärmestrahlung muss folglich das gesamte Universum gleichmäßig durchdringen. Wenn das Urknallmodell stimmt, muss man also diese Wärmestrahlung nachweisen können. Da das Universum sich seitdem viel weiter ausgedehnt hat, ist die Wellenlänge des damals orangefarbenen Lichts inzwischen ca. einen Millimeter groß, also im Mikrowellenbereich. Die Entdeckung dieser Hintergrundstrahlung genau im erwarteten Wellenlängenbereich durch Penzias und Wilson im Jahr 1964 verhalf der Urknalltheorie zum Durchbruch. Spätere, genauere Messungen bestätigten, dass diese Strahlung tatsächlich Wärmestrahlung ist.
In der Zeit, als das Urknall-Modell noch nicht allgemein anerkannt war, nahmen die Diskussionen oft weltanschauliche Formen an. Viele lehnten den Urknall deshalb ab, weil er einem Schöpfungsakt zu ähnlich war. Fred Hoyle äußerte explizit, dass der Urknall seiner Meinung nach auf christlich-jüdischem Fundament steht. Der Nobelpreisträger George Thomson meinte einmal frustriert: „Wahrscheinlich würde jeder Physiker an die Erschaffung des Universums glauben, wenn die Bibel nicht unglücklicher Weise schon vor langer Zeit etwas darüber gesagt hätte, so dass das veraltet erscheint.“ (Zitiert im u.g. Buch von Singh). In der Sowjetunion wurden Wissenschaftler, die den Urknall vertraten, ins Arbeitslager geschickt. Der damalige Papst Pius XII ergriff Partei für den Urknall und sagte, dass die Entstehung des Universums aus dem Nichts einen Schöpfer erfordere, und dass die Wissenschaft somit Gott bewiesen hätte.
Diese Rede des Papstes im Jahr 1951 machte in der ganzen Welt Schlagzeilen. Ein Freund Hubbles schrieb ihm scherzend: „Ich hätte nicht zu träumen gewagt, dass der Papst sich auf dich stützen muss, um die Existenz Gottes zu beweisen. Dies sollte dich für die Heiligsprechung qualifizieren.“ Der Urheber des Urknalls, George Lemaître, war allerdings überhaupt nicht glücklich mit der Äußerung des Papstes, obwohl er ja nicht nur Physiker, sondern auch Priester war. Er war strikt dagegen, Theologie und Kosmologie zu vermischen. Wenn man sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse stützt, um Gottes Existenz nachzuweisen, könne es umgekehrt auch passieren, dass Gottes Existenz widerlegt wird, wenn die wissenschaftlichen Ergebnisse nicht mit biblischer Lehre zusammenpassen. Lemaître ließ dem Papst seine Kritik mitteilen, und der Papst äußerte sich nicht wieder zu diesem Thema.
Heute trennen sowohl die Mehrheit der Kosmologen, als auch die Mehrheit der Theologen den Urknall von einer Erschaffung des Universums durch Gott. Es gibt in der Tat einige gedankliche Möglichkeiten, den Urknall zu akzeptieren, ohne an Gott zu glauben. Besonders bekannt ist die Idee des Multiversums, also einer Vielzahl von Universen. Auch wenn jedes einzelne Universum einen Anfang und ein Ende hat, kann das Multiversum ewig existieren und immer neue Universen hervorbringen. Umgekehrt sagen Theologen, dass ein ewiges Universum oder ein Multiversum kein Beweis gegen Gott wäre. Es geht um die Frage, ob die materielle Welt aus sich selbst existiert, oder ob sie von Gott abhängig ist. Auch ein ewiges Universum kann Gottes Werk sein und in jedem Augenblick von Gott getragen und erhalten werden. Wenn man den Urknall mit Schöpfung gleichsetzt, besteht die Gefahr, Gott nur noch als denjenigen zu sehen, der das Universum am Anfang angestoßen hat und es seitdem von alleine weiterlaufen lässt. Doch die biblische Sicht ist ja, dass Gottes Schaffen fortdauert. Auch jeder einzelne Mensch ist von ihm geschaffen, wie z.B. in Psalm 139, 13+14 zum Ausdruck kommt: „Du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleib. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke, und das erkennt meine Seele wohl.“ Schöpfung bezieht sich also nicht nur auf den Anfang.
Trotzdem meine ich,
dass die Frage naheliegt, ob der Urknall ein Schöpfungsakt Gottes ist. Wenn es um den
Ursprung des Universums geht, hat man es nun mal mit einer
philosophischen und nicht mehr mit einer physikalischen Frage zu tun, und jeder gibt auf seine Weise eine Antwort auf diese Frage. Viele Kosmologen beantworten diese Frage mit „Nein“. Alle physikalischen Spekulationen über das Multiversum oder ein sich
immer wieder aufblähendes und zusammenfallendes Universum sind
ja offensichtlich aus der Überzeugung geboren, dass die materielle
Realität und die Naturgesetze alles sind, was existiert. Im
Gegensatz dazu entspricht es meiner Erwartung als Christin, dass das
Universum mit einer Erschaffung durch Gott aus dem Nichts begann.
Diese Erschaffung aus dem Nichts war von Anfang an Bestandteil des
christlichen Glaubens und wird auch im Neuen Testament erwähnt
(Hebräer 11, 3). Deshalb betrachte ich den Urknall als einen Schöpfungsakt Gottes.
Ich möchte das Schlusswort dem Kirchenvater Augustinus geben, der schon um das Jahr 400 einige Ansichten äußerte, die sehr gut zu unseren modernen kosmologischen Erkenntnissen passen. Im 11. Buch seiner „Bekenntnisse“ schreibt er, dass es vor der Erschaffung der Welt keine Zeit gab und man deshalb auch nicht fragen könne, was Gott vor der Erschaffung der Welt getan habe: „Denn eben diese Zeit hattest du geschaffen, und es konnte keine Zeit vorübergehen, bevor du die Zeit schufest. Gab es aber vor Himmel und Erde keine Zeit, wie kann man dann fragen, was du damals tatest?“ Nach Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie ist die Zeit tatsächlich untrennbar an die Existenz des Universums und der Materie gekoppelt.
Und in seiner Schrift „De genesi ad litteram“ vergleicht Augustinus die am Anfang augenblicklich geschaffene Welt mit einem Samenkorn, in dem die zukünftige Entwicklung angelegt ist: „Sie enthielt alles zugleich, was in ihr und mit ihr gemacht wurde [...] Letztlich enthielt sie auch alle die Wesen, die das Wasser und die Erde später hervorbringen sollte; sie enthielt sie in Möglichkeit und Ursächlichkeit.“ (23. Kapitel, fünftes Buch). Über diese Entwicklungen werden wir noch in einigen Blogbeiträgen reden.
Literaturhinweis: Das Buch von Simon Singh „Big Bang: The Origin of the Universe“ (Harper Perennial, 2005) erzählt die Geschichte der Kosmologie bis ca. zum Jahr 2000 auf eine sehr verständliche und spannende Art.
1
Leider lässt sich nicht in wenigen Sätzen erklären, was Entropie
ist; der Begriff „Unordnung“ trifft es nicht wirklich. Aber hier
ist ein sehr guter allgemeinverständlicher Kurzvortrag darüber.
2
Wie schnell sich eine Galaxie von uns entfernt, können wir an der
Rotverschiebung ihres Lichts messen, also an der Vergrößerung der
Wellenlänge durch den Doppler-Effekt. Das ist ganz ähnlich wie
beim Martinshorn, das einen tieferen Ton hat, wenn sich der
Krankenwagen von uns entfernt. Wie man die Entfernung von Galaxien
misst, ist viel komplizierter und beruht auf mehreren Methoden. Die älteste Methode verwendet veränderliche
Sterne. Wer dazu etwas lernen will, kann im Internet nach den
Cepheiden und nach der Astronomin Henrietta Leavitt suchen. Wer etwas über weitere Methoden lernen will, kann nach dem Stichwort "Kosmische Entfernungsleiter" suchen.