„Nur eine Theorie“

„Wieso ist die Relativitätstheorie eine Theorie?“ fragte F. verwundert, als ich mich bei einem privaten Anlass mal wieder als Physikerin outete und von der Relativität der Zeit redete. „Sie ist doch schon längst durch Experimente bestätigt!“ Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, wieso F. sich über diese Verwendung des Begriffs „Theorie“ wunderte. Er hatte immer wieder gehört und gelesen, dass die Evolutionstheorie „nur eine Theorie“ sei, was man damit gleichsetzte, dass sie recht spekulativ und nicht durch Fakten belegt sei. Man kann dieses Verständnis des Begriffs „Theorie“ durchaus nachvollziehen. Umgangssprachlich ist eine Theorie so etwas wie eine These oder ein Vorschlag oder eine Idee, also nichts Gesichertes. Wer sagt „Ich hab da eine Theorie, wer es gewesen sein könnte“, hat zwar ein paar Anhaltspunkte, aber die Hauptaufgabe der Überprüfung der „Theorie“ und der sicheren Identifikation des Täters steht noch aus.

Doch in der Wissenschaft wird der Begriff „Theorie“ anders verwendet als in der Umgangssprache. Eine wissenschaftliche Theorie ist ein größeres Lehrgebäude, das viele verschiedene Beobachtungen und Fakten in einen größeren Zusammenhang einbettet. Wenn eine Theorie schon länger besteht, sich in vielen Überprüfungen bewährt hat und neue Forschungsprojekte oder gar technische Entwicklungen inspiriert hat, hat sie den Status eines gut etablierten, soliden Wissens.

Ich arbeite von Berufs wegen an und mit Theorien. Mein wissenschaftliches Fachgebiet heißt „Theoretische Physik“. In meinen diversen Vorlesungen bringe ich den Studenten die großen Theorien der Physik bei: Mechanik, Elektrodynamik, Relativitätstheorie, Quantentheorie, Chaostheorie, Festkörpertheorie, etc. All diese Theorien beschreiben einen größeren Bereich der Natur zusammenhängend.

Nehmen wir als Beispiel die Elektrodynamik, die auch als Maxwellsche Theorie bezeichnet wird, da sie auf den schottischen Physiker James Clerk Maxwell (1831-1879) zurückgeht. Sie basiert auf den vier Maxwell-Gleichungen, zu denen u.a. das Faradaysche Induktionsgesetz (das beschreibt, wie veränderliche Magnetfelder elektrische Felder erzeugen) und das Amperesche Gesetz (das den Zusammenhang zwischen dem elektrischen Strom und dem von ihm erzeugten Magnetfeld angibt) gehören. Zusammengenommen mit den weiteren Maxwell-Gleichungen beschreiben diese Gleichungen eine Fülle von elektrischen und magnetischen Erscheinungen. Aus diesen Gleichungen sagte Maxwell vorher, dass es elektromagnetische Wellen gibt, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Dies führte dazu, dass man Licht als elektromagnetische Welle identifizierte.

Noch älter als die Elektrodynamik ist die Newtonsche Theorie, also die klassische Mechanik. Sie umfasst u.a. die drei Newtonschen Gesetze und das Gravitationsgesetz. Aus ihr lassen sich viele weitere Gesetze herleiten, die z.T. vorher schon bekannt waren, z.B. das Hebelgesetz, die Keplerschen Gesetze, das Auftriebsgesetz und die Fallgesetze von Galilei.

Auch die Thermodynamik ist eine Theorie. Sie beinhaltet u.a. das Gesetz der Energieerhaltung, gemäß dem Wärme eine Energieform ist, und das Gesetz der Entropiezunahme in isolierten Systemen, das auch als zweiter Hauptsatz der Thermodynamik oder als Entropiesatz bezeichnet wird. Manche berühmten Physiker halten die Thermodynamik für eine der wichtigsten physikalischen Theorien überhaupt. Einstein äußerte sich erstaunt darüber, dass die Thermodynamik die wissenschaftlichen Revolutionen zu Beginn des 20. Jahrhunderts unverändert überstanden hat. Der Astronom und Physiker Arthur Eddington (1882-1944) war der Überzeugung, dass jede zukünftige Theorie mit der Thermodynamik im Einklang sein muss. Jede andere Theorie hätte Eddington eher hinterfragt. Als die Kosmologie noch eine sehr junge Theorie war, schrieb er im Jahr 1927 in seinem Buch „The Nature of the Physical World“:

Das Gesetz, dass die Entropie immer anwächst, hat [...] eine überragende Stellung unter den Naturgesetzen. Wenn jemand dich darauf hinweist, dass deine Theorie des Universums nicht mit den Maxwell-Gleichungen verträglich ist, dann haben die Maxwell-Gleichungen Pech gehabt. Wenn sie nicht mit der Beobachtung übereinstimmt – nun, dann haben mal wieder Experimentatoren gepfuscht. Aber wenn deine Theorie dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik widerspricht, dann kann ich dir keine Hoffnung machen.

Von etwas anderer Natur als die bisher beschriebenen physikalischen Theorien ist die (ebenfalls zur Physik gehörende) Urknalltheorie. Auch sie stellt einen größeren Erklärungsrahmen für eine Vielfalt von Beobachtungen und Gesetzen dar. Im Gegensatz zu den anderen genannten Theorien befasst sie sich nicht mit den unveränderlichen Aspekten des Universums, sondern mit seiner Geschichtlichkeit. Sie ist eine Theorie über die Anfangszeit unseres Universums. Im Blogbeitrag vom 24.10.2020 habe ich erzählt, dass sie mehrere bis dahin schon bekannte Eigenschaften des Universums erklärt hat und sogar Vorhersagen darüber gemacht hat, was man im Universum finden sollte. Sie erklärte das Hubble-Gesetz, das besagt, dass die Rotverschiebung der Strahlung einer Galaxie proportional zu ihrer Entfernung von uns ist (was auf die Expansion des Universum zurückgeführt werden kann) und das Massenverhältnis von Wasserstoff und Helium von 4:1 (was aus den Kernreaktionen im anfangs ganz heißen Universum resultiert). Sie sagte die kosmische Hintergrundstrahlung vorher (die man in den 1960er Jahren entdeckte) und dass weiter von uns entfernte Galaxien jünger aussehen müssen. Mit Hilfe der allgemeinen Relativitätstheorie, der Quantentheorie und der Thermodynamik kann man quantitative mathematische Berechnungen zum frühen Universum durchführen und die Ergebnisse dieser Rechnungen dadurch überprüfen, dass man sie mit den sehr feinen Fluktuationen der kosmischen Hintergrundstrahlung vergleicht. Während die Urknalltheorie im Prinzip allgemein anerkannt ist, gibt es allerdings auch einige spannende offene Fragen (wie z.B. die nach dem Wesen der dunklen Materie und der dunklen Energie), die in Zukunft gewiss zu einer Veränderung von einigen Aspekten der Theorie führen werden.

Ähnlich wie mit der Urknalltheorie verhält es sich mit der Evolutionstheorie. Sie befasst sich mit der Geschichtlichkeit und Veränderung der lebenden Natur. Sie bietet einen großen Erklärungsrahmen für eine Vielfalt von Beobachtungen und Gesetzmäßigkeiten, darunter die Verteilung der Fossilien auf die geologischen Schichten und Kontinente, die heutige Verteilung der Arten auf der Erde, die verblüffend großen Gemeinsamkeiten verschiedener Arten im Knochenbau und dem Aufbau der Biomoleküle (und das auch bei völlig verschiedener Funktion der Moleküle oder Körperteile), und die mit der verzweigten Struktur eines Baumes vergleichbare Gruppierung der Arten in Bezug auf ihre Körpermerkmale und ihre genetischen Sequenzen. Ebenso wie die Urknalltheorie ist sie im Grundsatz allgemein anerkannt. Im Detail enthält sie allerdings noch viele spannende offene Fragen. Über all dies habe ich in verschiedenen Blogbeiträgen berichtet.

Übrigens gibt es nicht nur in der Evolutionstheorie und Urknalltheorie offene Fragen, sondern auch in jeder anderen Theorie. So diskutieren die Physiker z.B. darüber, wie die Quantenmechanik zu interpretieren sei und in welcher Beziehung sie zur Allgemeinen Relativitätstheorie steht. Dass es Diskussionen im Rahmen einer Theorie gibt, bedeutet keineswegs, dass sie insgesamt auf wackeligen Beinen stünde. Es werden allerdings womöglich in Zukunft Teile von ihr revidiert werden. Vielleicht wird eine umfassendere Theorie entwickelt, im Rahmen derer die bisherige Theorie nur ein Spezialfall oder ein Grenzfall ist. So geschah es mit der Newtonschen Mechanik, als die Relativitätstheorie aufkam. Ab da erkannte man, dass die Newtonsche Mechanik ein Spezialfall ist, der dann zutrifft, wenn alle Geschwindigkeiten viel kleiner als die Lichtgeschwindigkeit sind. Auch das durch eine Theorie nahegelegte Weltbild kann verändert oder gar umgestürzt werden. Auch dies passierte mit der Newtonschen Mechanik, als auf einmal Raum und Zeit relativ wurden und als durch die Quantenphysik der Zufall in die bisher deterministisch scheinende Welt kam.

Die Welt der naturwissenschaftlichen Theorien ist also wie ein großes Gebäude, das viele verschiedene Teile hat und an dem unzählige Personen mitbauen. Jeder Teil hat seine eigene Prägung und seine eigene Aufgabe in dem Gebäude. Manchmal kommt es vor, dass ein Teil umgeändert oder eine Mauer eingerissen wird. Auch die Gesamterscheinung ändert sich immer wieder. Doch insgesamt wächst das Gebäude dabei weiter, bekommt mehr Brücken zwischen seinen Teilen, und seine Teile stützen einander immer stärker gegenseitig. Ich empfinde es als ein großes Vorrecht, an diesem Gebäude mitzubauen und andere zu unterrichten über diejenigen Teile des Gebäudes, die schon halbwegs fertig sind.



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