Von Menschen und Schimpansen

Der Gedanke, dass wir Menschen tierische Vorfahren haben sollen, ist auch heute noch für viele Christen inakzeptabel. Nach christlichem Verständnis haben wir Menschen einen besonderen Platz in der Schöpfung: Wir sind vernuftbegabte Wesen, die als „Ebenbild Gottes“ über die Schöpfung „herrschen“ sollen, so lesen wir es im ersten Kapitel der Bibel. Im Gegensatz zu den Tieren haben wir die Fähigkeit zu Sprache und Moral, wissenschaftlichem Forschen und Glauben an Gott. Und steht nicht im zweiten Kapitel der Bibel, dass Gott den Menschen mit seiner Hand aus Staub geformt und ihm seinen Atem eingeblasen hat? Wenn Menschen und Schimpansen vor ca. 7 Millionen Jahren noch gemeinsame Vorfahren hatten und der Mensch von dort aus erst allmählich zum Homo Sapiens wurde, ab wann wäre der Mensch dann Gottes Ebenbild? Und wann hätte dann der Sündenfall sein sollen?

Diese Argumentationsweise hat auch mich lange Zeit geprägt. Doch halten wir einmal inne: Ist es wirklich so, dass eine Entwicklungsgeschichte des Menschen im logischen Widerspruch dazu steht, dass wir Gottes Ebenbild sind und uns durch Vernunft und die Fähigkeit zum Glauben von den Tieren unterscheiden? Nein, das tut sie nicht. Nur eine atheistisch interpretierte Evolutionstheorie, die den Menschen als rein materielles Wesen und seine Entwicklungsgeschichte als das Produkt von blindem Zufall und natürlicher Selektion betrachtet, widerspricht dem christlichen Verständnis über das Wesen des Menschen. Wenn es anders wäre, würde auch die Wissenschaft der Embryonalentwicklung im Widerspruch stehen zu dem christlichen Verständnis über das Wesen der Menschen. Denn jeder einzelne Mensch hat sich aus einer einzigen Zelle im Mutterleib gebildet. Diese eine Zelle hatte bestimmt noch kein Bewusstsein und keinen Verstand und keine Fähigkeit zum Glauben. Und doch hat der Mensch in einem späteren Entwicklungsstadium diese Eigenschaften. Also muss die naturwissenschaftliche Beschreibung der Entwicklung des Babys Raum dafür lassen, dass neben der körperlichen Entwicklung auch eine geistige Entwicklung stattfindet.

Dass ich irgendwann in den 1990er Jahren die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Entwicklungsgeschichte des Menschen akzeptiert habe, beruht zum einen darauf, dass die wissenschaftlichen Belege für sie überwältigend sind, zum anderen darauf, dass ich gut nachvollziehbare, theologisch konservative Positionen und Bibelauslegungen kennengelernt habe, die nicht im Konflikt mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen. Über die Interpretation der biblischen Texte von der Erschaffung des Menschen und über die Bedeutung der Ebenbildlichkeit Gottes und der Geschichte vom Sündenfall werden wir in zukünftigen Blogbeiträgen weiter nachdenken. Heute geht es mir primär um die wissenschaftlichen Belege. Für die nahe Verwandtschaft von Menschen und Primaten sprechen die vielen Ähnlichkeiten, die vielen Fossilien von Hominiden, die zwischen Menschenaffen und modernen Menschen stehen, und der Vergleich des Erbguts von Menschen, Schimpansen, anderen Primaten und weiteren Säugetieren. Insbesondere der Vergleich des Erbguts liefert absolut überzeugende Beweise für unsere evolutionäre Vorgeschichte. Seit ca. 20 Jahren ist es möglich geworden, das gesamte Erbgut verschiedener Spezies auszulesen und zu vergleichen. Dieses Erbgut trägt viele verschiedenartige Spuren vergangener genetischer Veränderungen.

Francis Collins, der ehemaliger Leiter des Humangenomprojekts, das das menschliche Erbgut erstmals vollständig ausgelesen hat, kennt unsere DNA besonders gut. Er ist bekennender Christ und erzählt in seinem Buch „The Language of God“ (auf deutsch: „Gott und die Gene“) sowohl seinen persönlichen Weg vom Atheisten zum Christen, als auch die Geschichte der Entzifferung des menschlichen Erbguts. Aus dem menschlichen Erbgut liest er eindeutig heraus, dass Menschen und Schimpansen gemeinsame Vorfahren haben und dass beide mit allen anderen Säugetieren verwandt sind. Als Beispiel erwähnt er unser Chromosom Nummer 2. Menschen haben zweimal 23 Chromosomen, die Schimpansen haben zweimal 24 Chromosomen. Wenn man diese Chromosomen vergleicht, kann man sie eindeutig einander zuordnen, da sie eine sehr ähnliche Struktur haben. Anstelle unseres großen Chromosoms Nummer 2 haben die Schimpansen zwei kleinere Chromosomen, die zusammen genauso lang sind wie unser zweites Chromosom. Also liegt die Frage nahe, ob unser zweites Chromosom einst aus der Verschmelzung zweier Chromosomen hervorgegangen ist. Und tatsächlich, wenn man die Stelle inspiziert, an der die Verschmelzung stattgefunden haben muss, findet man dort genau diejenigen DNA-Sequenzen, die sich sonst nur an den Enden von Chromosomen befinden und die dazu dienen, sie zu schützen. (Man nennt sie Telomere.) Das ist wie wenn man bei einem langen Schnürsenkel irgendwo in der Mitte nebeneinander zwei Plastikumhüllungen finden würde, wie sie an den Enden der Schnürsenkel sind.

Einen weiteren Hinweis auf die Verwandtschaft von Menschen und Säugetieren stellen die sogenannten Pseudogene dar. Pseudogene ähneln in vielerlei Hinsicht Genen, aber sie sind funktionsunfähig, weil sie eine oder mehrere Mutationen enthalten. Wir Menschen haben eine ganze Reihe von Pseudogenen, von denen man weiß, was ihre Aufgabe wäre, wenn sie funktionieren würden, weil es Spezies gibt, in denen diese Gene funktionieren. Hierzu gehören viele Gene für Geruchsrezeptoren. Beim Menschen sind 70 Prozent dieser Gene funktionsunfähig. Selbst beim Delphin, der als Wasserlebewesen keinen Geruchssinn für in der Atemluft enthaltene Stoffe braucht, sind die Gene für Geruchsrezeptoren vorhanden, aber sie sind allesamt Pseudogene. Beim Hund dagegen, der einen sehr feinen Geruchssinn hat, sind all diese Gene funktionsfähig. Ein weiteres Pseudogen des Menschen ist das Gen, das für die Synthese von Vitamin C zuständig ist. Weil dieses Gen bei Menschen nur unvollständig vorhanden ist, müssen wir Vitamin C über die Nahrung aufnehmen. Beim Schimpansen ist dieses Gen ebenfalls funktionsunfähig, und es hat dieselben Mutationen. Das gilt auch für die anderen Menschenaffen. Auch bei Meerschweinchen und bestimmten Fischen funktioniert dieses Gen nicht, wobei die Mutationen jeweils anders sind. Was liegt näher als die Schlussfolgerung, dass alle diese Spezies ihre Pseudogene von Vorfahren geerbt haben, in denen diese Gene funktionierten? Weil die Mutation bei Mensch und Schimpanse dieselbe ist, muss sie in einem gemeinsamen Vorfahren aufgetreten sein. Das Entstehen von diesem Pseudogen kann man sich gut erklären: Wenn die Nahrung einer Spezies genug Vitamin C enthält, hat eine Mutation in diesem Gen keine schädliche Auswirkung. Weil sie die Überlebensfähigkeit nicht beeinträchtigt, kann sich diese Mutation ausbreiten.

Ein weiterer überwältigender Beleg für den gemeinsamen Stammbaum der Lebewesen kommt von sogenannten transponierbaren Elementen bzw. von deren funktionsunfähigen Nachfahren. Fast die Hälfte unserer DNA besteht aus solchen Elementen. Transponierbare Elemente sind charakteristische DNA-Abschnitte, die u.a. eine Reihe kurzer, wiederholter Sequenzen enthalten. Man nennt sie auch „springende Gene“, weil sie von einer Stelle in der DNA an eine andere Stelle kopiert oder versetzt werden können. Wenn sie kopiert werden, nimmt ihre Zahl zu, und so haben wir (und andere Lebewesen) viele Kopien verschiedener transponierbarer Elemente (bzw. ihrer Reste) in unserer DNA. Es gibt mehrere Familien dieser transponierbaren Elemente. Die sogenannte Alu-Familie gibt es nur in Primaten (einschließlich des Menschen), aber einige andere Familien sind in sämtlichen Säugetieren zu finden. Wenn man nun vergleicht, an welchen Stellen diese Elemente in dem Erbgut verschiedener Spezies sitzen, findet man erstaunliche Übereinstimmungen, die überzeugende Belege für die Verwandtschaft aller dieser Spezies darstellen. Zum Beispiel haben Mensch und Maus viele inzwischen funktionsunfähige, unvollständige transponierbare Elemente an einander entsprechenden Stellen in der DNA. Was liegt näher als die Schlussfolgerung, dass Mensch und Maus diese vielen Elemente von einem gemeinsamen Vorfahren geerbt haben?

Es gäbe unzählige Möglichkeiten, wie die transponierbaren Elemente über das Erbgut verschiedener Spezies verteilt sein könnten, so dass dies nicht zu einem gemeinsamen Stammbaum passt. Wenn zum Beispiel einige transponierbare Elemente bei dem Menschen und dem Gorilla an derselben Stelle sitzen würden und dieselben Mutationen hätten, aber beim Schimpansen an anderen Stellen und mit anderen Mutationen zu finden wären, würde dies der These widersprechen, dass ein gemeinsamer Vorfahre von Mensch und Gorilla auch ein Vorfahre des Schimpansen ist. Aber wir finden so etwas nicht. Wir finden nur die umgekehrte Situation, dass Mensch und Schimpanse Mutationen teilen, die der Gorilla nicht hat. Diese Mutationen müssen in einem gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Schimpanse passiert sein, der erst gelebt hat, nachdem die Vorfahren der Gorillas sich schon von denen von Mensch und Schimpanse getrennt haben.

Ich könnte noch viele Seiten lang weitere Beispiele aufzählen. Wenn Gott die verschiedenen Spezies unabhängig voneinander geschaffen hätte, hätte er unzählige Möglichkeiten gehabt, die transponierbaren Elemente und die vielen anderen Mutationen so über das Erbgut der verschiedenen Spezies zu verteilen, dass es nicht zu einem gemeinsamen Stammbaum passt. Jedes transponierbare Element und jedes Gen (bzw. Pseudogen) ermöglicht es uns, einen eigenen (Teil-)Stammbaum auf Basis der Ähnlichkeiten zu konstruieren. Und all diese (Teil-)Stammbäume passen zusammen! Und sie passen zu den Stammbäumen, die man sich schon vor der Entzifferung des Erbguts der verschiedenen Spezies aufgrund anatomischer und anderer Kriterien überlegt hat. (Nachtrag vom 15.1.: Das ist vereinfacht dargestellt. Die Berechnung von Stammbäumen ist wegen der vielen verschiedenen möglichen genetischen Veränderungen ein eigenes wissenschaftliches Teilgebiet, das viel mit Wahrscheinlichkeitsrechnung zu tun hat.)

Für Francis Collins war die Erforschung des menschlichen Erbgut gleichzeitig die Erforschung der Schöpfung Gottes. Als er und der damalige US-Präsident Bill Clinton im Jahr 2000 der Weltöffentlichkeit die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts bekannt gaben, sagten sie: „Wir haben nun die Sprache gelesen, in der Gott das Leben geschrieben hat.“ In dem Buch „Naturwissenschaftler reden von Gott“ schreibt er:

Es war ein großes Vorrecht, als Wissenschaftler die Möglichkeit zu haben, Gottes Hand am Werk zu sehen in den Dingen, die wir entdecken. Und eines der Dinge, die mich am meisten erfreut haben, besonders seit Veröffentlichung meines Buches, war die Möglichkeit, mit anderen zu sprechen, die Mühe damit haben, diese Dinge einzuordnen – vor allem mit jungen Menschen, die nach Antworten auf die Frage suchen, ob Gott existiert oder nicht. Ich sprach kürzlich zum Thema Naturwissenschaft und Glaube an der Stanford University; etwa 2300 kamen, um darüber zu diskutieren. Am Abend davor waren es in Berkeley 1600; am MIT, einige Monate zuvor kamen 1500 Studenten. Es handelt sich offenbar um eine Fragestellung, die besonders im universitären Umfeld zunehmend in den Mittelpunkt rückt. Das macht mir Hoffnung für die Zukunft. Es ist mein Gebet, dass wir alle miteinander lernen, die unproduktiven und schrillen Kämpfe einzustellen, die gegenwärtig den Großteil der Gespräche zwischen Wissenschaft und Glaube beanspruchen, und dass wir stattdessen einen versöhnlichen Weg suchen, die Wahrheit zu verstehen, die in Gottes beiden Büchern geschrieben ist – dem Buch der Worte Gottes (der Bibel) und dem Buch der Werke Gottes (der Natur).

Mit diesen Worten spricht er mir aus dem Herzen….

Literatur: Das letzte Zitat ist aus dem von mir herausgegebenen Buch „Naturwissenschaftler reden von Gott“ (Brunnen Verlag 2016), das u.a. einen (übesetzten) Beitrag von Francis Collins enthält. Die Ausführungen über die genetischen Belege für Evolution lehnen sich an Teile des Buchs „Gott und die Gene“ von Francis Collins an (Gütersloher Verlagshaus 2007) an. Ähnlich habe ich es in meinem Buch „Und Augustinus traute dem Verstand. Warum Naturwissenschaft und Glaube keine Gegensätze sind“ (Brunnen-Verlag 2013) ausgeführt. Ausführliche Darstellungen der genetischen Belege für Evolution findet man auch in „Evolution für Evangelikale“ von Darrell Falk (Buchverlag Dr. Mark Marzinzik 2012) und „Creation or Evolution: Do We Have to Choose“ von Denis Alexander (Monarch Books, 2014).

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