Rudimente und der Designer

Viele Schülerinnen und Studenten haben es im Biologie-Unterricht oder in einer Vorlesung erlebt, dass der Lehrer oder die Professorin spottete, wenn es einen Schöpfer gäbe, hätte er dieses Lebewesen oder jenes Organ ganz anders konstruiert. Ein viel zitiertes Beispiel ist das Auge der Wirbeltiere, bei dem die Netzhaut „falsch herum liegt, so dass die Photorezeptoren sich auf der vom Augeninneren abgewandten Seite der Netzhaut befinden. Das Licht, das ins Auge fällt, muss deshalb zunächst mehrere Zellschichten durchqueren, bevor es bei den Rezeptoren ankommt. Diese Konstruktion der Netzhaut hat zur Folge, dass die Blutgefäße, die sie versorgen, auf der dem Augeninneren zugewandten Seite liegen und dass der Sehnerv durch das Augeninnere verläuft. Deshalb haben wir auch einen blinden Fleck im Auge. Dass es auch anders gehen kann, zeigt das Auge der Tintenfische, bei dem die Netzhaut „richtig herum liegt und die Photorezeptoren innen liegen und der Sehnerv von außen angeschlossen ist.  

Viele Eigenschaften von Lebewesen versteht man erst dann wirklich, wenn man sich bewusst macht, dass sie das Ergebnis einer langen Entwicklungsgeschichte sind. Die Knochen und Organe und Stoffwechselvorgänge sind von den Vorfahren geerbt und an die jeweiligen Bedürfnisse angepasst. Hierbei entstanden manchmal Strukturen, die komplizierter scheinen, als es nötig wäre, oder Strukturen, die heute keine oder fast keine Funktion mehr haben, aber in Vorfahren benötigt wurden.

Betrachten wir zunächst die Belege dafür, dass Spezies ihre anatomischen Merkmale von Vorfahren geerbt haben, evtl. mit Modifikationen. Ein besonders deutlicher Beleg ist Homologie, d.h. derselbe Aufbau bei verschiedener Funktion. Das Lehrbuch-Standardbeispiel sind die Vorderextremitäten von Wirbeltieren: Man findet dieselben Knochen in derselben Anordnung zueinander in Primatenhänden, Fledermausflügeln, Flugsaurierflügeln (natürlich fossil), den Flossen von Pinguinen und Walen, den Füßen von Pferden, den Grabschaufeln des Maulwurfs und den Schwimmhautfüßen der Frösche. In all diesen Tieren erfüllen die Vorderextremitäten verschiedene Aufgaben, trotzdem haben sie dieselbe Knochenkonfiguration, allerdings mit sehr unterschiedlichen Knochenmaßen. Wenn sie sie nicht von gemeinsamen Vorfahren geerbt hätten, gäbe es keinen Grund, genau diese Knochen zu haben. Haben Sie sich schonmal gefragt, warum es keine Vögel mit vier Füßen gibt? Oder keinen Pegasus (also ein geflügeltes Pferd, das in der Sage so beliebt ist)? Diese Tiere hätten nicht vier, sondern sechs Extremitäten und müssten daher einen ganz anderen Knochenbau haben. Man kann sich viele Wesen ausdenken, die man aufgrund ihrer Merkmale nicht in den Stammbaum der Wirbeltiere eingliedern könnte. Doch solche Wesen gibt es nicht. Aber Halt: Hat nicht der große Panda sechs Finger an der Hand? Der sechste Finger ist ein Daumen, der so absteht, dass der Panda die Blätter vom Bambus abstreifen kann. Ein genauerer Blick zeigt, dass der Panda keine zusätzlichen Knochen hat: Anatomisch gesehen ist sein Daumen gar kein Finger, sondern er wurde aus einem Handwurzelknochen gebildet. Also hat auch der Panda dieselben Knochen wie die anderen Säugetiere, allerdings mit einer neuen Funktion.

Ein weiteres bekanntes Beispiel für geerbte gemeinsame Eigenschaften sind die sieben Halswirbel der Säugetiere. Man findet sie bei Giraffe, Wal und Maus trotz ihrer sehr verschiedenen Größe und Halslänge. Auch hierfür gäbe es keinen Grund, wenn nicht die gemeinsamen Vorfahren wären.

Ein vielleicht noch deutlicherer Hinweis auf Evolution sind rudimentäre Organe und Strukturen, die heute keine oder eine sehr reduzierte Funktion haben, aber von den Vorfahren mitgeerbt wurden: Die Augen von Höhlenfischen, die Weisheitszähne des Menschen, Reste des Beckengürtels bei Walen, die Flügel von flugunfähigen Vögeln und Käfern, und vieles mehr. Solche Strukturen können durchaus für andere Zwecke eingesetzt werden (wie die Straußenfedern für den Balztanz und die Balance beim Rennen), aber dafür sind sie unnötig aufwendig. Besonders kurios sind sogenannte Atavismen, also das Wiederauftreten von Merkmalen, die die Vorfahren hatten, die aber die betrachtete Spezies nicht hat. Dies kann durch Mutationen oder irreguläre Embryonalentwicklung geschehen, weil die genetische Anlage für ein Merkmal noch da ist. So bilden sich manchmal bei Hühnern Zähne, bei Walen Hinterbeine, bei Pferden extra Zehen oder bei Menschen ein Schwanz.

Der Aufbau der Pflanzen zeigt, dass auch sie ihre Merkmale von Vorfahren geerbt haben: Schon Darwin war von den ausgeklügelten Mechanismen fasziniert, mit denen Orchideen sich an ihre Bestäuber anpassen, sie anlocken und manchmal regelrecht überlisten: Viele Orchideen locken männliche Insekten in der Paarungszeit dadurch an, dass sie die passenden Duftstoffe produzieren und Blüten ausbilden, die Weibchen zum Verwechseln ähnlich sehen. Andere Orchideen spielen Hornissen und Wespen vor, ein Beutetier zu enthalten. Die Insekten fliegen mit ihrem Kopf gegen das rote Zentrum der Blüte und erledigen auf diese Weise ungewollt die Bestäubung. Wieder andere Orchideen haben Blütenkelche, die so tief sind, dass nur bestimmte langrüsselige Motten den Nektar erreichen und dabei die Bestäubung durchführen können. Darwin beschrieb, dass all die für das Anlocken von Bestäubern benutzten Vorrichtungen der Orchideen durch Modifikation von gewöhnlichen Pflanzenbestandteilen gebildet werden, die es auch in anderen Pflanzen gibt, und nie durch ganz neuartige Pflanzenteile. Man sieht also wieder, dass Vorhandenes für neue Aufgaben modifiziert wird, statt dass neue Organe ohne Vorstufen entstehen.

Hat nun der eingangs erwähnte Lehrer oder die Professorin recht mit der Behauptung, dass wenn es einen Schöpfer gäbe, er die Lebewesen viel besser konstruiert hätte? Hier muss man aus mehreren Gründen Widerspruch einlegen:

  1. Dafür, dass die Organismen angeblich so unvollkommen sind, sind sie erstaunlich effizient: Das Auge der Wirbeltiere mit seiner vermeintlich suboptimalen Konstruktion hat dennoch die maximal mögliche Empfindlichkeit, denn es kann einzelne Photonen (Lichtteilchen) entdecken. Die stromlinienförmige Form des Delfins und seine wirbelunterdrückende Haut ermöglichen ihm, Sprints mit 30 km/h hinzulegen. Die Delfinhaut dient inzwischen als Vorbild für die Entwicklung von Beschichtungen, die den Strömungswiderstand reduzieren. Glühwürmchen schaffen es, Energie mit nahezu 100% Effizienz in Licht umzuwandeln. Hiervon können LED-Hersteller nur träumen. Auch die hochpräzise Ultraschall-Echoortung der Fledermäuse, die hervorragenden mechanischen Eigenschaften von Spinnweben und die extrem hohe Elektrosensitivität von Rochen und Haien sind der Leistungsfähigkeit menschlicher Geräte weit überlegen und inspirieren Ingenieure zu neuen technischen Entwicklungen.

  2. Damit die wunderbare Vielfalt des Lebens entsteht und all seine erstaunlichen Fähigkeiten sich entwickeln können, müssen geeignete Voraussetzungen gegeben sein und die Möglichkeiten in irgendeiner Form angelegt sein. Soweit ich es sehen kann, ist es eine offene Frage, worin genau diese Voraussetzungen bestehen und worauf das schier unerschöpfliche kreative Potenzial des Lebens beruht. Bisher gibt es hierauf nur Teilantworten. Der Lehrer hat womöglich ein sehr verkürztes Verständnis von Evolution, wenn er sie sich nur Gott-los vorstellen kann. Der Verweis auf Mutation und Selektion reicht mir als Erklärung nicht, und die Evolutionsforschung ist hier auch schon weiter. Das Leben ist m.E. deutlich besser durchdacht, als viele es wahrhaben wollen. Höchstwahrscheinlich haben wir manche Gesetze und Prinzipien, die dem Leben zugrunde liegen, oder Fähigkeiten, die dem Leben mitgegeben sind, noch gar nicht entdeckt oder verstanden. Hierauf werde ich in künftigen Blogbeiträgen noch genauer eingehen. Auf diesem Themengebiet liegen wissenschaftliche und weltanschauliche Fragen oft nahe beieinander...

  3. Woher will man wissen, dass ein allmächtiger Gott das Leben anders gestaltet hätte, als es ist? Ist es nicht sinnvoll, den Tieren und Pflanzen die Fähigkeit mitzugeben, sich immer neu an veränderte Situationen anzupassen, statt jede Art unabhängig von den anderen zu konstruieren? Was für eine Vorstellung vom Gott der Christen hat die Professorin? Gott als Kontrollfreak oder Ingenieur, der jedes Detail eines Lebewesens ganz genau bestimmt? Passt das zum biblischen Gott, der spricht (1. Mose 1) „Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut“ und „Es wimmle das Wasser von lebendigem Getier“ und „Die Erde bringe hervor lebendiges Getier“? Der Gott, der in der Bibel beschrieben wird, ist der Gott des geschichtlich Gewordenen mit all seinen Unvollkommenheiten. Wenn wir dies für einen Moment nicht auf das Leben auf der Erde anwenden, sondern auf die Menschen, können wir das in den biblischen Geschichtsbüchern auf Schritt und Tritt sehen: Die Helden des Glaubens wie Jakob, Mose oder David haben eine verwickelte Lebensgeschichte, die mit ihren Herausforderungen und Fehlern geschildert wird. Die Geschichte des Gottesvolkes Israel ist voll von Götzendienst, Intrigen und Zeiten des Unterdrücktwerdens. Auch die im Neuen Testament beschriebene Geschichte der frühen Kirche geht nicht ohne Streit und Hungersnot, Irrlehrer und Verfolgung ab. Gleichzeitig schildern die Bibeltexte, wie Gott in all dem seine Pläne und Ziele voranbringt. Wenn das menschliche Leben so viele Spuren seiner Geschichte trägt und dabei trotzdem (oder genau deswegen?) von Gottes Wirken durchdrungen ist, warum sollte beim nichtmenschlichen Leben alles ganz anders sein?

  4. Woher will man wissen, dass eine andere Konstruktion besser wäre? Ich hatte vor einigen Jahren eine Podiumsdiskussion mit einem atheistischen Philosophen. Einer seiner Verbesserungsvorschläge war, dass Gott die Lebewesen so hätte schaffen können, dass Schmerz nicht so weh tut. Es würde doch reichen, wenn ein unangenehmes Gefühl uns auf Gefahren hinweist, so dass wir ihnen ausweichen. Doch stimmt das? Würden wir wirklich sofort die Hand von der heißen Herdplatte ziehen, wenn der Schmerz nicht so intensiv wäre? Würden wir wirklich sofort den Arzt aufsuchen, wenn eine ernsthafte Verletzung uns nicht so starke Schmerzen bereiten würde? Diese Überlegungen zeigen, dass es gar nicht so einfach ist zu sagen, wie man ein Lebewesen „verbessern“ könnte. Womöglich würde man sich unerwünschte Nebeneffekte einhandeln. Vielleicht wäre es noch nicht einmal gut, Rudimente ganz zu entfernen. Abgesehen davon, dass sie jetzt auch eine (wenn auch reduzierte oder teilweise redundante) Funktion haben, könnten sie in Zukunft womöglich wieder der Ausgangspunkt für etwas Neues werden.

  5. Und zuletzt noch ein Argument auf der Meta-Ebene: Wer glaubt, dass die Lebewesen ziemlich unvollkommen konstruiert sind, darf auch nicht davon ausgehen, dass sein eigenes Gehirn so perfekt arbeitet, dass es ihn zur richtigen Erkenntnis führt...

All diese Überlegungen zeigen, dass die Frage, ob das Leben hätte besser konstruiert werden können, gar nicht so einfach zu beantworten ist. Das Leben wirft für jeden, ob er an Gott glaubt oder nicht, viele Fragen auf, über die es sich lohnt, mit gegenseitigem Respekt zu diskutieren. 


Hinweis: Die Auffassung, dass die tieferen Gesetze hinter der Entwicklung des Lebens noch längst nicht vollständig verstanden sind, wird u.a. von dem an der Universität Cambridge forschenden Paläontologen und bekennenden Christen Simon Conway Morris vertreten, wie z.B. in dieser Kolumne in der britischen Zeitung "The Guardian" zum Darwin-Jahr 2009.

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