Darwins Theorie und ihre Vorläufer

Evolutionäre Ideen gab es schon seit der Antike. Die Frage, ob Spezies sich ändern können oder immer gleich geblieben sind, stellt sich jedem, der ähnliche Arten sieht, die jeweils an ihre Umgebung angepasst sind. So haben z.B. die Polarfüchse im Winter ein dichtes weißes Fell, das sie wärmt und tarnt, und die Wüstenfüchse haben große, gut durchblutete Ohren, die das Kühlen des Bluts erleichtern. Es ist plausibel, dass die Füchse, die einst in diese Lebensräume einwanderten, sich dort angepasst haben.

Die Frage, ob auch größere Veränderungen der Spezies stattgefunden haben, wurde durch die Entdeckungen der Geologie ab dem 18. Jh. nahegelegt. Wie ich im Blogbeitrag vom 10.10. erzählt habe, zeigte sich, dass die Erde eine lange und wechselvolle Geschichte hat und dass es zu verschiedenen Zeiten in derselben Region verschiedene Lebensformen gegeben hat. Zunächst konnte man noch nicht ausschließen, dass die neuen Lebensformen einer Region von anderswo eingewandert sind oder dass die Arten, die in einer Region ausgestorben waren, in anderen Regionen weiterlebten. Doch als man die Kontinente immer mehr erkundete, wurde klar, dass viele Arten, die man in den Fossilien findet, heute gar nicht mehr existieren. Durch den Vergleich geologischer Schichten auf den verschiedenen Kontinenten wurde auch klar, dass in den verschiedenen Epochen der Erdgeschichte jeweils neue Arten auftauchten, die es vorher überhaupt nicht gab. Für das Auftauchen neuer Arten auf der Erde gab es vier mögliche Erklärungen: Spontane Entstehung aus unbelebter Materie, Geburt von Individuen einer neuen Art von Müttern einer alten Art, direkte Erschaffung durch Gott aus dem Nichts und die Veränderung bestehender Arten (bzw. einer regionalen Population) in kleinen Schritten. Letzteres nannte man früher „Transmutation“ und noch nicht „Evolution“. 

Ab dem 18. Jh. gab es verschiedene Theorien für Transmutation: Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707-1788) schlug vor, dass alle vierfüßigen Spezies aus nur 38 Urformen hervorgingen. So hatten seiner Meinung nach Pferd und Esel gemeinsame Vorfahren, aber auch Elefant und Mammut. Der Großvater von Charles Darwin, Erasmus Darwin (1731-1802), äußerte sogar den Gedanken, dass alle heutigen Lebewesen von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen.

Die erste ausgearbeitete Theorie zur Entwicklung des gesamten Lebens wurde von Jean-Baptiste Lamarck (1744-1829) vorgeschlagen. Er meinte, dass einfache Lebewesen immer wieder spontan entstehen, und dass es eine formende Kraft gibt, die die Komplexität des Lebens mit der Zeit anwachsen lässt. Er meinte außerdem, dass die Lebewesen voneinander verschieden wurden, weil sie in verschiedener Umgebung waren und daher ihre Merkmale unter verschiedenartigem Anpassungsdruck standen.

All diese Überlegungen fanden aber keine allgemeine Anerkennung. Der Durchbruch kam erst, als Charles Darwin 1859 sein Buch „On the Origin of Species“ veröffentlichte. Darwin leistet in diesem Buch zwei Dinge: Erstens lieferte er ausführliche Argumente dafür, dass alle Lebewesen gemeinsame Vorfahren haben. Diese Argumente beruhten auf der Verteilung der Arten über die Erde (d.h. der Biogeographie), auf der vergleichenden Anatomie, den Fossilien, der Embryonalentwicklung und der hierarchischen Struktur der biologischen Klassifikation. (Heute kommen noch die Molekularbiologie und die Molekulargenetik dazu.) Seine Argumente dafür, dass Evolution passiert ist, waren nicht neu, aber er hatte sie besonders tief durchdacht und durch viele Beispiele belegt. Weil Evolution viele bisher unzusammenhängende Beobachtungen gleichzeitig erklären konnte und viele biologische Rätsel löste, war sie nur wenige Jahrzehnte nach der Veröffentlichung von Darwins Buch unter Naturforschern praktisch universell akzeptiert.

Zweitens schlug Darwin in seinem Buch einen plausiblen Mechanismus dafür vor, wie Evolution funktioniert, nämlich durch natürliche Selektion. Die Mehrheit der Forscher fanden Darwins Argumentation überzeugend. Es leuchtet ja sofort ein, dass diejenigen Varianten einer Art, die besser überleben und mehr Nachkommen produzieren können, sich gegenüber den anderen Varianten durchsetzen. Die Existenz dieser Varianten, also dass die Individuen einer Art voneinander verschieden sind, war durch die Anschauung direkt überprüfbar, auch wenn man damals noch nicht wusste, wie die Verschiedenheit der Individuen zustande kommt. Unabhängig von Darwin hatte Alfred Russell Wallace ebenfalls das Prinzip der natürlichen Selektion vorgeschlagen. In der dritten Auflage seines Buchs wies Darwin außerdem darauf hin, dass es noch weitere Personen gab, die sogar schon vor 1859 dieselbe Idee hatten und diese zumindest in einem kurzen Textabschnitt eines Buchs oder Artikels formuliert hatten.

Doch ob natürliche Selektion wirklich ausreicht als Erklärung für Evolution oder ob sie überhaupt die wichtigste treibende Kraft ist, war von Anfang an umstritten. Seit Darwin hat die biologische Forschung viel über Evolution herausgefunden. Doch auch heute wird in der Fachwelt noch darüber diskutiert, wie Evolution im Detail funktioniert. Dies ist in meinen Augen ein sehr spannendes Forschungsgebiet, in das ich durch mehrere meiner Projekte interessante Einblicke bekommen durfte.

In späteren Blogbeiträgen werde ich auf verschiedene Aspekte von Evolution und einige Fragen, die das Thema aufwirft, noch genauer eingehen. Insbesondere die weltanschaulichen Auseinandersetzungen, die das Thema „Evolution“ ausgelöst hat und auch heute noch auslöst, verdienen eine gründliche Besprechung. Viel zu oft werden die wissenschaftliche Beschreibungsebene und die Ebene der philosophischen Interpretation auf unzulässige Weise miteinander vermischt. Die Feststellung, dass das Leben auf der Erde eine Entwicklungsgeschichte hat, steht zunächst einmal genauso wenig im Widerspruch mit dem schaffenden Handeln Gottes wie die Feststellung, dass Gott das Baby im Mutterleib geschaffen hat (Psalm 139,13), im Widerspruch mit der Wissenschaft der Embryonalentwicklung steht. Die Reaktionen auf Darwins Theorie in christlichen Kreisen waren daher auch keineswegs nur ablehnend, sondern es gab auch Zustimmung. Der Hauptvertreter von Darwins Theorie in den USA, der Botanikprofessor Asa Gray, war ein frommer Presbyterianer, der keinen Widerspruch zwischen seiner wissenschaftlichen Forschung und seinem Glauben sah. Der künftige Erzbischof von Canterbury, Frederick Temple, schrieb im Jahr 1884: „Die Lehre von der Evolution stellt in der Naturwissenschaft wieder die Einheit her, die wir von Gottes Schöpfung erwarten.“

Der Pfarrer und Schriftsteller Charles Kingsley schrieb: „Jetzt, nachdem man den eingreifenden Gott abgeschafft hat, […] gibt es nur noch die Wahl zwischen der Herrschaft des Zufalls oder dem lebenden, immanenten, beständig schaffenden Gott“. Ähnliche Äußerungen werden von anderen Theologen berichtet. Sie waren unzufrieden damit, dass man Gott seit dem 18. Jh. vielfach nur noch als denjenigen betrachtete, der am Anfang zwar die Welt geschaffen hat, sie aber seitdem dem naturgesetzlichen Lauf überlässt und nur ab und zu mal korrigierend eingreift. Ein Gott, der beständig schaffend tätig ist, wie es die andauernde Entwicklung des Lebens auf der Erde nahelegt, war dem traditionellen christlichen Verständnis von der Beziehung zwischen Gott und seiner Schöpfung viel näher. Trotz dieser positiven Äußerungen stand und steht für viele Christen Evolution aber im Widerspruch mit dem, was sie aus dem ersten Kapitel der Bibel herauslesen. Der biblische Schöpfungsbericht wird daher das Thema des nächsten Blogbeitrags sein.

Heute möchte ich noch eines der wichtigsten Argumente Darwins dafür, dass Evolution stattgefunden hat, genauer erklären: Die Verteilung der Arten über die Erde. Wenn es stimmt, dass alle heutigen Arten durch Evolution aus früheren Arten hervorgegangen sind, können wir eine Art nur dort finden, wo sie ausgehend von ihren Vorfahren auch hingekommen sein kann. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum es Eisbären nur am Nordpol, aber nicht am Südpol gibt? Am Südpol könnten sie sehr gut überleben, weil es viele Pinguine zu fressen gibt. (Zum Glück hat der Mensch die Eisbären dort nicht eingeführt…). Doch weil die Vorfahren der Eisbären in Nordamerika lebten, gibt es keinen Weg, wie sie nach Antarktika hätten kommen können.

Und warum leben fast alle Beuteltiere in Australien? Weil es vor 50 Millionen Jahren, als Australien sich von den anderen Kontinenten trennte, auf Australien erste Beuteltiere gab, aber keine anderen Säugetiere. (Das zeigen die Fossilien.) Später wanderten (bzw. flogen) dann Fledermäuse ein, und noch später, als der Meeresspiegel recht niedrig war, Ratten und andere Nager.

Wussten Sie, dass es auf Hawaii keine Schlangen gab, bevor Menschen welche mitbrachten? Die Landtiere auf Hawaii waren hauptsächlich fliegende Tiere, also Vögel, Fledermäuse und Insekten. Welche anderen Arten hätten auch die Reise von über 2000 Kilometern auf die erst vor wenigen Millionen Jahren entstandenen Inseln schaffen können? Kleine nichtfliegende Tiere wie Schnecken und Spinnen gibt es auf Hawaii ebenfalls. Hier kann man sich vorstellen, dass ihre Vorfahren einst im Gefieder von Vögeln eingeschleppt oder auf treibenden Baumstämmen angeschwemmt wurden.

Die Fauna der Galapagos-Inseln wurde nicht zuletzt durch Darwin berühmt. Die vielen Finkenarten der Galapagos-Inseln („Darwin-Finken“) entstanden alle aus Vorfahren, die einst den Weg nach Galapagos gefunden haben. Auf Madagaskar dagegen werden viele ökologischen Nischen von Lemuren besetzt, da ihre Vorfahren zu den wenigen Säugetieren gehören, die den Weg auf diese Insel gefunden haben.

Der Isthmus von Panama ist nur ca. 60 km breit. Das Klima auf der pazifischen und karibischen Seite ist also identisch. Trotzdem ist die marine Fauna deutlich verschieden. Seit Nord- und Südamerika vor einigen Millionen Jahren durch die Landbrücke verbunden wurden, sind die beiden Ozeane voneinander getrennt, und das Meeresleben auf beiden Seiten entwickelte sich unabhängig voneinander.

Und zum Abschluss noch etwas, was Sie bestimmt schon immer wissen wollten: Verwandte der Ananas gibt es in vielen verschiedenen Habitaten der amerikanischen Tropen (Regenwald, Berge, Wüste), aber nicht in den afrikanischen oder asiatischen Tropen. Wenn der letzte gemeinsame Vorfahre der Ananasgewächse in den amerikanischen Tropen gelebt hat, gab es keine Möglichkeit für die Ananasgewächse, nach Afrika oder Asien zu kommen.

Die genannten Beispiele sind nur wenige aus einer Fülle von Beispielen. Sie zeigen, dass die These, dass die Arten durch Evolution entstanden sind, sehr viele unabhängige Beobachtungen erklären kann. Wenn Gott die Arten direkt in die jeweils für sie geeigneten Habitate gesetzt hätte, hätte er unzählige Möglichkeiten gehabt, sie so zu verteilen, dass wir nicht auf die Idee gekommen wären, dass sie sich durch Evolution entwickelt haben….

Literaturhinweise: Ein guter ins Deutsche übersetzter Text mit ausführlichen Argumenten für Evolution ist das Buch "Evolution für Evangelikale" von Darrell Falk. Eine umfassende Aufzählung von Belegen für Evolution findet man auf der Webseite talkorigins.org. Information über die Reaktionen auf Darwins Theorie in christlichen Kreisen, incl. der obigen Zitate, findet man hier und hier und hier. Ich kann auch die Lektüre von Darwins Buch empfehlen, das gehört schon fast zur Allgemeinbildung. Es ist sehr beeindruckend, wie gründlich durchdacht und ausführlich seine Überlegungen und Argumente sind. 



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