Können wir biologische Unsterblichkeit erreichen?

Stellen Sie sich vor, es gäbe ein Elixier, das unseren Alterungsprozess bei täglicher Einnahme radikal verlangsamen würde, so dass wir nicht im Alter von 80, sondern von 800 Jahren sterben würden. Würden Sie dieses Elixier nehmen?

Wahrscheinlich stellen Sie zunächst die Gegenfrage, ob so etwas überhaupt jemals möglich werden kann. Ist das Altern nicht ein Naturgesetz? In unserem Körper gehen mit den Jahren immer mehr Dinge kaputt: die Blutgefäße werden steifer; das Gedächtnis und die Körperkräfte lassen nach; die Stammzellen der Haut erreichen die Grenzen ihres Teilungsvermögens, so dass die Haut sich immer schlechter erneuert; die Reparaturmechanismen der DNA funktionieren nicht mehr so gut wie früher, so dass sich Mutationen ansammeln und wir anfälliger für Krebs werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir unseren nächsten Geburtstag noch erleben, sinkt folglich mit zunehmendem Alter.

Doch das muss nicht so sein. Zumindest nicht aus Sicht der Physik. Da Lebewesen dauernd aus ihrer Umgebung Nahrung und Energie aufnehmen und sie in veränderter Form wieder an die Umgebung abgeben, gilt für sie nicht das Gesetz, dass die Entropie (nicht ganz zutreffend oft als 'Unordnung' umschrieben) zunimmt. Dieses Gesetz gilt nur für abgeschlossene Systeme. Auch in der Biologie gibt es kein Gesetz, dass alle Lebewesen zwangsläufig altern müssen. Es gibt sogar einige Lebewesen, die anscheinend gar nicht altern. Ihre Sterblichkeit ist in jedem Alter gleich. Ein altes Individuum hat also genauso hohe Chancen, das nächste Jahr zu überleben wie ein jüngeres. Besonders faszinierend ist hier der Süßwasserpolyp, auch Hydra genannt, wie in diesem Beitrag auf den Seiten der Max-Planck-Gesellschaft erklärt wird. Er hat die verblüffende Fähigkeit, beschädigte Körperteile zu ersetzen. Man kann eine Hydra sogar in fünf Teile zerschneiden, und aus jedem Teil wächst ein neues Tier. Eine Hydra hat viele Stammzellen, aus denen neue, junge Zellen produziert werden können, so dass das Lebewesen sich immer wieder erneuert. Nachkommen werden meist asexuell durch Knospung erzeugt.

Sogar bei Säugetieren gibt es eine Spezies, deren Individuen nicht altern, nämlich den Nacktmull. Während andere Tiere ihrer Größe nur ca. 3 Jahre alt werden, können Nacktmulle 30 Jahre und älter werden. Das wäre so, wie wenn wir 800 Jahre alt werden könnten statt der üblichen 80 Jahre. Natürlich stirbt jedes Nacktmull-Individuum irgendwann, sei es durch Kämpfe, Krankheit, Wassermangel oder Gefressen-Werden. Aber bis dahin scheint es nicht zu altern. Nacktmulle bekommen auch keinen Krebs, denn Krebszellen werden in einem frühen Stadium erkannt und eliminiert. Nacktmulle leben in unterirdischen Gängen in Kolonien, in denen es eine Königin gibt, die alle Nachkommen zur Welt bringt, ähnlich wie bei Ameisen oder Bienen.

Dafür, dass die Individuen der meisten Spezies altern, gibt es plausible evolutionäre Erklärungen. Selbst, wenn Individuen nicht altern würden, würden sie früher oder später sterben: sie verunglücken, werden gefressen, bekommen Krankheiten oder fallen widrigen Umweltbedingungen zum Opfer. Diese Risiken bestimmen die mittlere Lebensdauer erwachsener Individuen. Die Kinder müssen deutlich vor Ablauf dieser mittleren Lebensdauer geboren werden, wenn die Population nicht aussterben soll. Wenn nun eine Mutation passiert, die sich erst in einem höheren Alter negativ auswirkt, beeinträchtigt sie nicht die Vermehrung, da die Nachkommen dann schon längst geboren wurden. Also werden solche Mutationen nicht von der Selektion eliminiert.

Im Gegenteil, man stellt sich sogar vor, dass es Mutationen gibt, die vorteilhaft für die Erzeugung von Nachkommen sind, aber nachteilig für die Vitalität im Alter. Es ist ja einleuchtend, dass ein Organismus seine begrenzten Ressourcen aufteilen muss zwischen der Investition in die Produktion von Nachkommen und der Investition in die Erhaltung der eigenen Gesundheit. Das eine kann auf Kosten des anderen gehen. Ein Extrembeispiel hierfür sind die Lachse, die direkt nach dem Laichen sterben. Ich hatte mal ein Forschungsprojekt, das sich mit der Populationsdynamik der kanadischen Rotlachse befasste. Diese Lachse verbringen ca. 3 Jahre im Meer, bis sie groß geworden sind und viele Eier produzieren können. Dann schwimmen sie zum Teil mehr als tausend Kilometer flussaufwärts, um in dem See (bzw. den zu ihnen fließenden Bächen) zu laichen, in dem sie selbst geboren wurden. Sie haben alle ihre Energie in die anstrengende Wanderung und - wenn sie weiblich sind - in die Produktion von möglichst vielen Eiern investiert und sterben nach dem Laichen vor Erschöpfung. (Welche Erklärung es dafür gibt, dass die Männchen auch sterben, obwohl sie keine Eier produzieren, sondern die viel weniger energieintensiven Spermien, habe ich nicht in Erinnerung. Vielleicht sind es die Kämpfe um die Paarung, oder das mit den Weibchen geteilte genetische Programm.) Die toten Lachse düngen den See, so dass es im nächsten Frühjahr mehr Phytoplankton gibt. Folglich gibt es auch mehr Wasserflöhe, da diese sich vom Phytoplankton ernähren. Die Wasserflöhe wiederum sind die Hauptnahrung der kleinen Rotlachse. Also haben die Eltern dieser kleinen Rotlachse durch ihr Sterben für mehr Nahrung für ihre Kinder gesorgt. Im Alter von ungefähr einem Jahr schwimmen die Rotlachse flussabwärts in den Ozean, um von dem größeren Nahrungsangebot dort zu profitieren, und der Zyklus beginnt von vorne.

Die Forschung darüber, was beim Altern abläuft und wodurch Hydras und Nacktmulle vor dem Altern geschützt sind, ist spannend und komplex. Einige Forscher haben die Hoffnung, dass es gelingen kann, das Altern beim Menschen deutlich zu verlangsamen. Mögliche Wege dorthin sind Stammzellentherapie, Gentherapie und Hormontherapie. Freilich wird diese Forschung zunächst an Fruchtfliegen, Fadenwürmern und Mäusen durchgeführt und nicht am Menschen.

Neulich hörte ich einen Vortrag zu diesem Thema im Rahmen eines kleinen interdisziplinären Symposiums. Die Reaktionen der Zuhörer auf die Vorstellung, dass wir vielleicht deutlich älter werden könnten als es jetzt der Fall ist, waren vielfältig. Diejenigen unter uns, die von ihrem christlichen Glauben geprägt waren, reagierten auf den Gedanken einer deutlichen Lebensverlängerung überwiegend negativ. Wir äußerten die Erwartung, dass solche lebensverlängernden Therapien entweder nicht gelingen werden oder deutliche Nebenwirkungen haben werden. Der Gedanke, die natürliche Lebensspanne von 80 Jahren (plus maximal noch wenige Jahrzehnte darüber hinaus) künstlich verlängern zu wollen, schien mir gar wie ein unerlaubter Eingriff in Gottes Schöpfungsordnung. Doch ich wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass viele Eingriffe in die ‚natürlichen‘ Abläufe schon längst gang und gäbe sind und als Segen der medizinischen Versorgung angesehen werden: Herzschrittmacher, Antifaltencremes, Hormonersatztherapien, Hüftoperationen, Staroperationen, Vitamin- und Mineraltabletten und vieles mehr werden von uns dankbar angenommen, wenn sie durch den Alterungsprozess bedingte Beschwerden oder Mangelerscheinungen ausgleichen können. Um zu entscheiden, welche Maßnahmen aus christlicher Sicht vertretbar sind oder in Zukunft vertretbar sein werden, ist also ein komplexere Betrachtung nötig.

Einen großen Raum in unserer Diskussion nahmen gesellschaftliche Überlegungen ein: Wenn wir altersmäßig Fortgeschrittenen unser Leben deutlich verlängern könnten, würden wir mehr von den knappen Ressourcen unserer Erde verbrauchen und damit weniger Platz für die nächsten Generationen freilassen. Bereits jetzt machen die über 60-jährigen (zu denen ich in zwei Jahren auch gehören werde) einen viel höheren Anteil der Bevölkerung aus als jemals zuvor. (Die Diskussion hierüber ist natürlich auch komplex, da die Älteren sich auf sehr vielfältige Weise positiv in die Gesellschaft einbringen können. Das soll hier aber nicht weiter vertieft werden.) Außerdem würde eine deutliche Lebensverlängerung nur für die Reichen finanzierbar sein. Die schon jetzt riesigen Unterschiede zwischen Armen und Reichen auf dieser Erde würden deutlich verstärkt werden.

Doch auch abgesehen von diesen moralischen Fragen löste die Vorstellung, 800 Jahre (oder auch nur 150 Jahre) alt zu werden, ein großes Unbehagen in mir aus: Meine Erziehung, Schulbildung und Studium waren darauf ausrichtet, mich für das Leben in meiner damaligen Umwelt auszurüsten. Mir wurden Werte, gesellschaftliche Verhaltensregeln und viel Wissen vermittelt, mit deren Hilfe ich mich zurechtfinde. Meine Gewohnheiten, Vorlieben und erlernten Fähigkeiten sind auf die Welt ausgerichtet, in der ich erwachsen geworden bin. Doch die Welt ändert sich, und manches, das mir lieb und vertraut ist, muss ich aufgeben, bzw. ich muss umlernen. Dies tue ich mit zunehmendem Alter immer widerwilliger… Die Verknüpfungen in meinem Gehirn wollen sich auch gar nicht so schnell ändern, wie es vielleicht notwendig wäre. Wenn ich 800 Jahre lang leben würde, müsste ich alle paar Jahrzehnte eigentlich ein anderer Mensch werden, der andere Dinge gelernt hat, sich andere Verhaltensweisen antrainiert hat und eine neue Rolle in der veränderten Gesellschaft einnimmt. Ich hätte also statt einem Leben mindestens zehn verschiedene Leben nacheinander, wobei diese Leben zum großen Teil gewiss nicht einfach wären. Für die meisten Menschen der Vergangenheit und Gegenwart ist das Leben hart, geprägt von Entbehrungen, Krankheit, Krieg oder Unterdrückung. Da ist es mir viel lieber, nur ein einziges irdisches Leben zu haben und mich darauf zu konzentrieren, mich in diesem Leben zu bewähren und die Aufgaben auszuführen, die Gott mir durch dieses Leben stellt. Hier finde ich die traditionell christliche Vorstellung, dass unser Leben die Bewährungs- und Vorbereitungszeit für die Ewigkeit ist, sehr hilfreich. Die Frage, wie alt ich werde, ist für mich unwichtig gegenüber der Frage, wie ich Gott an mir und durch mich wirken lasse, während ich noch lebe.

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