Die unsichtbaren Frauen

Leise ging Nancy Hopkins, Biologie-Professorin am MIT, mit einem Maßband in der Hand von Ecke zu Ecke im Labor eines ihrer männlichen Kollegen. Es war mitten in der Nacht, und sie war damit beschäftigt, die Größe des Labors zu messen. Dabei wollte sie nicht entdeckt werden, aus Furcht, dass man sie für verrückt erklären würde.

Was war passiert, dass eine Spitzenwissenschaftlerin an einer der renommiertesten Universitäten der Welt zu solchen Mitteln greifen musste? Nancy Hopkins war inzwischen 50 Jahre alt und war in ihrer Forschung über die Genetik von Zebrafischen an den Punkt gekommen, dass sie mehr Laborplatz brauchte, um neue Experimente durchzuführen. Doch der Kanzler des MIT verweigerte ihr mehr Laborfläche. Ihr Hinweis, dass ein männlicher Kollege, der nur Juniorprofessor ist, mehr Fläche hat als sie, wurde ihr nicht abgenommen. Sie musste sich sogar die Frage gefallen lassen, ob sie überhaupt fähig sei, ein größeres Labor zu leiten. So beschloss sie, ihre Behauptung durch harte Zahlen zu belegen und vermaß heimlich die Labore ihrer männlichen Kollegen. Ihre Vermutung wurde bestätigt: Ihre Kollegen hatten mehr Laborfläche als sie. In der Erwartung, dass Zahlen ernst genommen werden, ging sie wieder zur Universitätsverwaltung. Doch man weigerte sich, einen Blick auf ihre Notizen zu werfen und schickte sie unverrichteter Dinge wieder fort. Sie sah nur noch einen Weg, zu mehr Laborplatz zu kommen: Sie entwarf einen Brief an den Präsidenten der Universität, in dem sie ihre Situation darlegte. Bevor sie den Brief abschickte, ging sie zu einer Kollegin, um sie nach ihrer Meinung zu dem Entwurf zu fragen. Dies kostete sie Überwindung, da sie fürchtete, dass die Kollegin sie als wehleidig verspotten könnte. Doch die Kollegin sagte, sie wolle den Brief ebenfalls unterschreiben, denn auch sie habe den Eindruck, dass sie weniger Ausstattung als ihre männlichen Kollegen habe.

Schließlich trafen sich im Jahr 1994 alle 16 Professorinnen der naturwissenschaftlichen Fachbereiche. Der Austausch war wohltuend und zeigte, dass es ihnen allen ähnlich ging. So marschierten sie zusammen in das Büro des Präsidenten, um ihn darum zu bitten, eine offizielle Untersuchung der Ausstattung der männlichen und weiblichen Professoren durchzuführen. Der Präsident unterstütze dieses Vorhaben. Das Ergebnis war eindeutig und ging durch die Presse: Die Professorinnen hatten bei gleicher Leistung weniger Gehalt, weniger Labor und weniger ehrenvolle Posten als ihre männlichen Kollegen. Dies war überwiegend nicht das Ergebnis aktiver Diskriminierung, sondern unbewusster Ungleichbehandlung. Die Frauen fühlten sich oft ‚unsichtbar‘: Sie wurden weniger wahrgenommen, ihre Leistung wurde weniger anerkannt, und sie wurden öfter übergangen.

Das Ergebnis der Untersuchung führte dazu, dass das MIT die Ungleichheiten beseitigte und die Gehälter und die räumliche und instrumentelle Ausstattung der Professorinnen anpasste. Dies passierte nicht nur am MIT, sondern auch an anderen amerikanischen Spitzenuniversitäten, die durch den Bericht des MIT zu eigenen Untersuchungen angeregt wurden.

Die bewegende Darstellung der Erlebnisse von Nancy Hopkins in dem Film „Picture a Scientist“, den ich kürzlich sah, ließ mich über meine eigenen Erfahrungen nachdenken. Nicht nur über Frauen in der akademischen Welt, sondern auch über Frauen in christlichen Gemeinden und über Frauen in meinem eigenen Blog. Frauen werden von mir deutlich seltener erwähnt oder zitiert als Männer. Immerhin habe ich über das Leben und die Forschung von Barbara McClintock und Jocelyn Bell berichtet und zwei Blogbeiträge zum Thema „Christen und der Klimawandel“ auf die Vorträge und Bücher von Katharine Hayhoe aufgebaut. Außerdem habe ich über die Forschung der Soziologin Elaine Ecklund über den Glauben von Naturwissenschaftlern berichtet und das Buch der Psychologin Pia Lamberty über Verschwörungserzählungen besprochen. In einigen anderen Blogbeiträgen werden weitere Wissenschaftlerinnen genannt. Wieso kommen beim Thema „Glaube und Naturwissenschaft“ nicht deutlich mehr Frauen zu Wort? Und wieso hört man nur von wenigen gläubigen Naturwissenschaftlerinnen? Haben sie weniger Mut, sich zu outen? Werden sie weniger gehört? Werden sie in christlichen Gemeinden weniger ernstgenommen als ihre männlichen Kollegen? Werden begabte gläubige Frauen nicht genügend ermutigt, eine wissenschaftliche Laufbahn zu wählen?

Wahrscheinlich treffen all diese Dinge in Teilen zu. Die Astrophysikerin Joan Centrella berichtet in „Naturwissenschaftler reden von Gott“, wie ihr in ihrer Gemeinde von einer wissenschaftlichen Karriere und erst Recht von einer wissenschaftlichen Führungsposition abgeraten wurde. Ich selbst erlebe in christlichen Kreisen immer wieder mal Situationen, nach denen ich mich frage, ob mein Gegenüber mich ernster genommen hätte, wenn ich ein „Herr Professor“ wäre...

Wir alle haben unbewusste Vorurteile, die uns daran hindern, objektiv zu sein und die wahre Kompetenz einer Person zu erkennen. Die Professorinnen des MIT hatten wegen unbewusster Ungleichbehandlung weniger Ausstattung bekommen als ihre männlichen Kollegen, so dass sie sogar den Eindruck bekamen, sie seien ‚unsichtbar‘. Wir können gegen unsere unbewussten Vorurteile angehen, indem wir sie uns bewusst machen und die Vorurteile durch Gegenbeispiele widerlegen lassen. Erinnern Sie sich noch an die Bedenken, die vor 16 Jahren in den Medien geäußert wurden, ob Angela Merkel der Aufgabe als Bundeskanzlerin gewachsen sei? Oder an die Vorbehalte im Jahr 2008 dagegen, dass mit Barack Obama ein Afro-Amerikaner Präsident der USA werden soll? Haben Sie abfällige Äußerungen über Greta Thunberg gehört, dass ein ‚krankes Kind‘ kein zuverlässiges Wissen zum Thema ‚Klimawandel‘ haben könne? In all diesen Fällen hatten bzw. haben wir es mit Vorurteilen zu tun, die eine faire Bewertung der betreffenden Person verhindern. Ich möchte auf meine eigenen Vorurteile achten und Frauen in meinem Blog angemessen zu Wort kommen lassen. Denn je mehr naturwissenschaftlich kompetente Frauen uns vor Augen gestellt werden, desto selbstverständlicher trauen wir Frauen diese Kompetenz zu.

Hinweis: Der offizielle Report des MIT über die erwähnte Untersuchung ist gut lesbar und informativ.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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