Barbara McClintock und die „Springenden Gene“

Viele Menschen denken, wenn sie das Wort „Mutation“ hören, an Änderungen im Erbgut, die durch Kopierfehler, Strahlenschäden oder chemische Substanzen ausgelöst werden. Solche Änderungen sind meist schädlich oder vielleicht noch neutral in ihrer Wirkung. Nur selten sind sie nützlich. Leider ist auch heute noch die Auffassung weit verbreitet, dass diese Sorte von unkontrollierten, völlig zufälligen Mutationen hinter dem Evolutionsprozess steckt. Da ist es Skeptikern nicht zu verdenken, wenn sie Zweifel daran anmelden, dass Evolution auf dieser Basis funktionieren kann.

Doch die reale Welt der biologischen Zellen ist viel interessanter! Inzwischen hat die Forschung herausgefunden, dass es viele verschiedene Arten gibt, wie das Erbgut sich ändern kann, und dass diese Änderungen nicht auf beliebige Weise oder zu beliebigen Zeiten stattfinden. Sie werden von den Zellen selbst ausgelöst, wenn es Herausforderungen durch die Umwelt gibt. In diesem und dem nächsten Blogbeitrag werde ich von diesem spannenden Forschungsgebiet erzählen.

Am Anfang dieser Entdeckungsgeschichte steht eine außergewöhnliche Wissenschaftlerin: Barbara McClintock, die im Jahr 1983 im reifen Alter von 81 Jahren den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin erhielt für Forschungsergebnisse zu den „Springenden Genen“, die sie 40 Jahre zuvor erzielt hatte. Dass sie den Nobelpreis bekommt, erfuhr sie aus den Nachrichten im Radio, da sie kein Telefon hatte. Als sie von Reportern gefragt wurde, was sie mit dem Preisgeld machen wolle, musste sie erst einmal nachfragen, wie hoch der Preis dotiert ist... Die viele Medienaufmerksamkeit in den Folgejahren war ihr gar nicht willkommen. Sie wollte in ihrer Forschungsarbeit, die sie bis zum Tod durchführte, nicht gestört werden; dies war auch der Grund, warum sie kein Telefon hatte.

Seit ihrer Jugend hatte sie eine Leidenschaft für die Erforschung der Natur. Sie studierte an der Cornell University im Staate New York Botanik und schrieb dort in den 1920er Jahren eine Doktorarbeit über die Zellgenetik von Mais. Sie verwendete die alten Maissorten mit den bunten Körnern, da man an diesen Pflanzen sehr schön verfolgen kann, wie Merkmale vererbt werden oder sich ändern. Jedes Maiskorn geht aus der Verschmelzung einer Spermien- und einer Eizelle hervor und unterscheidet sich in seiner Genkombination daher von den anderen Maiskörnern desselben Kolbens. Die erste Herausforderung für Barbara McClintock bestand darin herauszufinden, wie man die zehn Chromosomen des Mais auseinanderhalten kann. Sie konnte die Chromosomen sichtbar machen, indem sie Pollenkörner vorsichtig zerdrückte, einfärbte und unter dem Lichtmikroskop betrachtete. In den so präparierten Proben konnte sie die Chromosomen deutlich sehen und ihre Größe ermitteln. Die Farbe wurde von den unterschiedlichen Chromosomen an verschiedenen Stellen und unterschiedlich gut aufgenommen, so dass sie innerhalb der Chromosomen verschiedene Abschnitte gut unterscheiden konnte. Sie paarte die Pflanzen gezielt miteinander, um zu untersuchen, wie die verschiedenen Merkmale vererbt werden und wie dies mit den Chromosomen zusammenhängt. Dabei zeigte sich, dass manche Merkmale mit stark gefärbten Stellen eines Chromosoms zusammenfallen. Das Chromosom Nummer 9 (wenn man mit der Nummerierung beim kleinsten anfängt) hatte sogar zwei solcher durch die Färbung erkennbare Merkmale: Wenn die Maiskörner wachsartig waren, war ein längliches Segment am einen Ende des Chromosoms gefärbt. Wenn die Maiskörner purpurrot waren, hatte dieses Chromosom am anderen Ende eine eingefärbte Beule. Merkmale, die auf demselben Chromosom gespeichert sind, werden meist gemeinsam vererbt, da ja die Chromosomen als Ganze in die Ei- und Samenzellen gehen. Aber manchmal wird nur eines der beiden Merkmale vererbt. Zusammen mit einer Doktorandin fand Barbara McClintock heraus, was dahinter steckt: Zwei Chromosomen haben ein Stück miteinander getauscht. So wechselte das Ende mit der Beule zu dem anderen Chromosom Nummer 9 derselben Zelle und wurde durch dessen beulenloses Ende ersetzt. Dieser sogenannte Crossover passiert bei der Bildung von Ei- und Samenzellen. Dadurch werden neue Genkombinationen erzeugt, zusätzlich zu den Kombinationen, die durch verschiedenes Zusammenstellen der väterlichen und mütterlichen Chromosomen erzeugt werden können. Fast zeitgleich entdeckte Curt Stern dieses Phänomen des Crossovers bei der Fruchtfliege. Ein Kollege, der davon wusste, drängte deshalb Barbara McClintock dazu, ihre Ergebnisse schnell zu publizieren. Viele meinen, dass diese Entdeckung aus dem Jahr 1931 zusammen mit den vorangegangenen Untersuchungen der Chromosomen des Mais allein schon nobelpreiswürdig war.

Eine Zeit lang untersuchte Barbara McClintock die Veränderungen der Chromosomen, die durch die Bestrahlung mit Röntgenstrahlen hervorgerufen werden. Diese Bestrahlung kann einen sogenannten Doppelstrangbruch verursachen, also die DNA völlig durchtrennen, so dass das Chromosom in zwei Teile mit jeweils einem ungeschützten Ende zerfällt. Barbara McClintock beobachtete, dass diese ungeschützten Enden von der Zellen zusammengebracht und wieder miteinander verbunden werden. Die Zelle hat also die Fähigkeit, Schaden an ihrem Erbgut zu entdecken und zu reparieren. Wenn es mehrere Doppelstrangbrüche gibt, kann es passieren, dass die Enden nicht richtig zusammengefügt werden, so dass die Chromosomen dann anders aussehen. Er können dabei auch ringförmige Chromosomen entstehen.

Nach einer Reihe befristeter Arbeitsverträge an verschiedenen Universitäten akzeptierte Barbara McClintock im Jahr 1941 ein Angebot auf eine unbefristete Forschungsstelle am Cold Spring Harbour Laboratory auf Long Island, wo sie bis an ihr Lebensende blieb. Die Chancen, eine unbefristete, reguläre Professur an einer Universität zu bekommen, waren damals für Frauen sehr schlecht. Man gab ihr in Cold Spring Harbour ein Labor und Anbauflächen für ihren Mais. Die Erforschung der Genetik von Mais beschäftigte sie für den Rest ihres Lebens, und auch ihre Methode blieb selbst dann dieselbe, als die meisten Forscher zur Molekularbiologie und zu Elektronenmikroskopen wechselten. Sie arbeitete hart, meist 12-16 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche. Die Pflanzen wollten versorgt werden, und manchmal schlief sie sogar nachts im Maisfeld, um die Waschbären davon abzuhalten, ihre Maispflanzen zu plündern. Die Bestäubung musste kontrolliert und mit System durchgeführt werden, und die Merkmale und Chromosomen der Pflanzen mussten untersucht werden. Über alles musste genau Buch geführt werden. Gleichzeitig pflegte sie mit anderen Wissenschaftlern am Laboratory einen regen Gedankenaustausch und trug viele gute Ideen zu den gemeinsamen Seminaren bei. Ausgedehnte Spaziergänge in der Natur sorgten zwischen der Arbeit für Erholung.

Im Laufe der Jahre entwickelte sie durch ihre harte, stetige Arbeit ein immer tieferes Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Chromosomen und Merkmalen und für die möglichen Veränderungen von Generation zu Generation. Die interessantesten Dinge passierten mit denjenigen Maispflanzen, deren Vorfahren durch Bestrahlung geschädigt worden waren. Hier geschahen immer wieder Veränderungen in den Merkmalen. So zeigten die Blätter mancher Pflanzen helle Streifen. Einige Körner zeigten einen Fleck, der mal größer, mal kleiner war. Barbara McClintock folgerte, dass während des Wachstums eines Korns manchmal bei einer Zellteilung eine die Farbe verändernde Mutation passiert, die dann an alle aus nachfolgenden Teilungen resultierenden Zellen weitergegeben wird. Daher zeigen all diese Zellen die andere Färbung und bilden den Fleck. Bei der Suche nach der Art der Mutation fand sie heraus, dass genetische Information von einem Chromosom auf ein anderes gesprungen war. Im Laufe der Zeit entdeckte Barbara McClintock immer mehr Hinweise auf solche „springenden Gene.“ Sie nannte sie „Transposons“, und so werden sie in der Fachwelt auch heute genannt (oder auch „transponierbare Elemente“). Manche Transposons springen an Stellen neben anderen Genen und schalten diese Gene dadurch aus oder an. Das erkannte sie daran, dass zwar das andere Gen, wie die Einfärbung des Chromosoms zeigte, noch da war, aber das von ihm kodierte Merkmal nicht mehr ausgeprägt wurde. Manche solcher Sprünge wurden in einer späteren Generation wieder rückgängig gemacht, so dass ein ausgeschaltetes Gen wieder eingeschaltet wurde.

Im Jahr 1951 hielt Barbara McClintock auf einer Tagung einen Vortrag über ihre Entdeckungen. Doch die Reaktion war Schweigen. Die Zuhörer konnten ihren Ausführungen nicht folgen. Das, was ihr aufgrund jahrelanger genauer Beobachtung und der Zusammenschau vieler verschiedener Fakten klar geworden war, war für andere nicht nachvollziehbar. Es passte außerdem gar nicht zu der Vorstellung vom Erbgut, die man damals hatte: Man dachte, die Chromosomen seien nichts weiter als Speicher für genetische Information. Der Gedanke, dass das Erbgut sich dynamisch verändert, wurde daher abgelehnt. Man wusste zwar, dass Gene durch eine Mutation deaktiviert werden können, doch man glaubte nicht, dass das auch wieder rückgängig gemacht werden kann. Selbst diejenigen, die die Existenz von Transposons akzeptierten, dachten, es sei eine Besonderheit von Mais und nicht relevant für andere Organismen. Diese Meinung hielt sich bis in die 1970er Jahre. Im Blogbeitrag vom 13.2. habe ich von Jacques Monods Buch „Zufall und Notwendigkeit“ (1970) berichtet, in dem die Vorstellung von den Chromosomen als passive Speicher für Erbinformation ebenfalls vertreten wird. Doch ab dem Ende der 1960er Jahre entdeckten die Molekulargenetiker Transposons in anderen Organismen, erst in Bakterien und dann in Fruchtfliegen. Inzwischen wissen wir, dass Transposons über fast alle Organismen verbreitet sind und dass sogar knapp die Hälfte unseres menschlichen Erbguts aus ehemals oder heute noch aktiven Transposons besteht.

Aufgrund ihrer gründlichen Vertrautheit mit den genetischen Vorgängen im Mais erkannte Barbara McClintock, dass die Transposons eine wichtige Rolle dabei spielen, Anpassung an Stress und an Veränderungen vorzunehmen. Wie erwähnt, war die Bestrahlung mit Röntgenstrahlung ein Auslöser für die Aktivität von Transposons. Inzwischen wissen wir auch von anderen Organismen, dass Transposons bei Stress und bei Umgebungsveränderungen aktiviert werden. Dadurch springen sie an andere Positionen auf der DNA und verändern dort die Aktivität von Genen. Barbara McClintock ahnte, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist und dass Zellen viele Möglichkeiten haben, ihr Erbgut in Reaktion auf Herausforderungen zu verändern. Im nächsten Blogbeitrag möchte ich mehr darüber erzählen. In ihrer Nobelpreisrede 1983 formulierte Frau McClintock ihre Sicht auf die Genetik so: 

Die Schlussfolgerung scheint unausweichlich, dass Zellen imstande sind zu spüren, wenn die Enden ihrer DNA abgebrochen sind, und einen Mechanismus zu aktivieren, der diese Enden zusammenbringt und miteinander verbindet. [...] Diese Fähigkeit zeigt eindrücklich, dass Zellen alles wahrnehmen, was in ihnen vorgeht. [...] Zellen müssen laufend ihre internen Prozesse neu anpassen. Wir haben noch keine Vorstellung davon, wie die sensorischen Vorrichtungen und Signalprozesse beschaffen sind, die diese Anpassungen vornehmen. Ein wichtiges Ziel für zukünftige Forschung ist, herauszufinden, wieviel die Zelle über sich selbst weiß und wie sie dieses Wissen in einer „klugen“ Weise nutzt, wenn sie vor Herausforderungen steht. [...] In Zukunft wird bestimmt das Genom im Zentrum des Forschungsinteresses stehen, wenn man erkennt, dass es ein sehr empfindliches Organ ist, dass die genetischen Aktivitäten überwacht, Fehler korrigiert, ungewöhnliche und unerwartete Ereignisse wahrnimmt und auf sie reagiert. Oft geht dies mit einer Veränderung des Genoms einher.

Und übrigens: Barbara McClintock hat nie Mais gegessen...

Literaturhinweis: Eine sehr bekannte Biographie über Barbara McClintock ist „A Feeling for the Organism“ von Evelyn Fox Keller. Eine kürzere Biographie, die ich für diesen Beitrag zu Rate gezogen habe, ist „Barbara McClintock: Nobel Prize Geneticist“ von Edith Hope Fine. Im Internet findet man ebenfalls viele Informationen über Frau McClintock und ihre Forschung. Einen ganz aktuellen Artikel von Cristina Vieira zur Bedeutung von Transposons bei der Fruchtfliege Drosophila findet man hier.



Beliebte Posts aus diesem Blog

Wie alt wurden Noah, Jakob und Mose?

Eine Art Dreikampf

Am dritten Tage auferstanden von den Toten

Long Covid

Harald Lesch und die Frage nach Gott