Zufall und Notwendigkeit

Das populärwissenschaftliche Buch „Zufall und Notwendigkeit“ des Biochemikers und Nobelpreisträgers Jacques Monod aus dem Jahr 1970 trug viel zu einer naturalistischen, atheistischen Interpretation der Biologie bei. Monod war fasziniert von der Entdeckung, dass die Vorgänge in einer biologischen Zelle durch Enzyme präzise reguliert werden. Enzyme koppeln durch spezifische Bindungsstellen an Moleküle, die miteinander reagieren sollen. Die Bindungsstellen an Enzym und Molekül passen zueinander wie Schlüssel und Schloss. Dies brachte Monod dazu, Zellen als Maschinen zu betrachten. Neben diesen mechanistischen Abläufen kommt aber auch der Zufall ins Spiel, wie Monod mit Verweis auf die Gesetze der Physik erklärt: Durch die thermische Bewegung des Wassers in der Zelle halten die Biomoleküle nicht still, sondern sie werden von allen Seiten geschubst und zum Wackeln gebracht. Bei der Vervielfältigung von Zellen ist es somit unvermeidlich, dass in einen neu entstehenden DNA-Strang Fehler eingebaut werden. Diese Kopierfehler im Erbgut betrachtet Monod als die Quelle der Mutationen, die für die Evolution des Lebens verantwortlich sind. Somit ist laut Monod die Entwicklungsgeschichte des Lebens auf „Zufall und Notwendigkeit“ reduzierbar. Der „Zufall“ steckt in den Mutationen, und die „Notwendigkeit“ in den Regeln, nach denen die zelluläre Maschinerie funktioniert. Damit kann es laut Monod auch keinen schaffenden Gott und keinen Plan hinter der Entwicklung des Lebens geben. Er schreibt gegen Ende von Kapitel VI (S. 141/2 in der 6. Auflage, die mir vorliegt):

... so folgt daraus mit Notwendigkeit, dass einzig und allein der Zufall jeglicher Neuerung, jeglicher Schöpfung in der belebten Natur zugrunde liegt. Der reine Zufall, nichts als der Zufall, die absolute, blinde Freiheit als Grundlage des wunderbaren Gebäudes der Evolution – diese zentrale Erkenntnis der modernen Biologie ist heute nicht mehr nur eine unter anderen möglichen oder wenigstens denkbaren Hypothesen; sie ist die einzig vorstellbare, da sie allein sich mit den Beobachtungs- und Erfahrungstatsachen deckt. Und die Annahme (oder die Hoffnung), dass wir unsere Vorstellung in diesem Punkt revidieren müssten oder auch nur könnten, ist durch nichts gerechtfertigt.

Nicht nur in diesem Abschnitt, sondern auch an anderen Stellen des Buchs macht er pauschale, dogmatische Aussagen, die weit über das hinausgehen, was man direkt aus den wissenschaftlichen Entdeckungen lernt. Am Ende von Kapitel II (S. 58) hatte er schon die weltanschauliche Bedeutung seiner Überlegungen betont:  

Wir möchten, dass wir notwendig sind, dass unsere Existenz unvermeidbar und seit allen Zeiten beschlossen ist. Alle Religionen, fast alle Philosophien und zum Teil sogar die Wissenschaft zeugen von der unermüdlichen, heroischen Anstrengung der Menschheit, verzweifelt ihre eigene Zufälligkeit zu verleugnen.

Zu all dem gibt es viel zu sagen, und auch der Fortschritt der biologischen Forschung relativiert manches, was Monod als felsenfest betrachtete. Die Reaktionen in Zellen sind nicht so spezifisch und deterministisch, wie man noch zur Zeit Monods glaubte. Das Bild einer starren Maschine ist unzutreffend, denn wir haben es mit einem Fließgleichgewicht zu tun. Die Stabilität von Zellen beruht ja darauf, dass sie einem beständigen Zu- und Abfluss von Nährstoffen, Signalmolekülen und Reaktionsproduktion ausgesetzt sind, ansonsten verlieren sie ihre organisierte Struktur. Die DNA ist nicht der rein passive, nur durch Kopierfehler veränderbare Träger der Erbinformation, für den man sie zur Zeit Monods hielt. Auf einige dieser Punkte werde ich in zukünftigen Blogbeiträgen genauer eingehen, denn sie verändern unsere Sichtweise darauf, wie das Leben sich entwickeln kann.

Heute möchte ich ein Thema vertiefen, das sehr eng mit meinem eigenen Forschungsgebiet, der statistischen Physik, verbunden ist: Wie wirkt sich das Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit aus? Ist es wirklich so, dass niemand, auch kein Gott, vorhersehen oder planen kann, was dabei herauskommt?

Wir alle kennen Situationen, in denen allein Zufall und Gesetze bestimmen was passiert, nämlich wenn wir Mensch-ärgere-dich-nicht spielen. Der „Zufall“ steckt im Würfeln, und die „Gesetze“ sind die Spielregeln. Sie legen fest, wer wann würfelt und was als Ergebnis des Würfelns passiert. Das Zusammenspiel von Zufall und Regeln führt keineswegs dazu, dass niemand den Ausgang im Voraus weiß. Nach und nach wird ein Spielstein nach dem anderen im Ziel ankommen. Irgendwann hat der erste Spieler alle Steine im Ziel, dann der zweite, etc. Die Details des Spielablaufs sind freilich jedes Mal anders, und auch der Gewinner kann jedes Mal ein anderer sein. Doch die großen Linien, nach denen das Spiel verläuft, sind immer dieselben.

In meinem Forschungsgebiet, der statistischen Physik, erzeugen und untersuchen Physikerinnen und Physiker Computermodelle, bei denen Regeln und Zufall zusammenwirken. Das können Modelle für Atome im Kristallgitter oder für Moleküle in der Zelle sein, aber auch für die Ausbreitung von Epidemien in einer Population oder für Autos im Straßenverkehr oder für die Kurse an der Börse. Wir untersuchen jeweils, was herauskommt, wenn man diese Modelle am Computer simuliert. Wir verändern Parameter wie die Dichte oder Temperatur oder Kontaktrate und beobachten, wie sich das Ergebnis ändert. Können die Atome durchs Gitter hüpfen oder werden sie irgendwo gefangen? Gibt es bei der Reaktion in der Zelle eine Oszillation oder ein Gleichgewicht? Kann sich die Epidemie ausbreiten oder klingt sie ab? Entstehen Staus oder fließt der Verkehr gleichmäßig? Schwanken die Börsenkurse stark oder wenig? Die Antwort auf diese Fragen hängt nicht davon ab, welche Zahl der Würfel bei welchem Wurf wirft, sondern sie hängt nur von den „Spielregeln“ und den Parametern des Modells ab. Die genauen Details, also welches Atom wo gefangen wird oder wann und wo genau der spontane Stau entsteht, variieren zwar mit jedem Durchlauf der Computersimulation, aber nicht die grundlegenden Phänomene, die passieren.

Um zu illustrieren, dass das Zusammenspiel von Zufall und Regeln bzw. Gesetzen jeweils charakteristische Muster und Verhaltensweisen liefert, habe ich ein einfaches Modell, das sogenannte „Waldbrandmodell“, als mp4-Film aufbereitet und hier in youtube bereitgestellt. Mit diesem Modell habe ich mich in den frühen 90er Jahren während meiner Doktorarbeit befasst. Es beschreibt keine echten Waldbrände, sondern einen einfachen Selbstorganisationsprozess, bei dem „Energie“ (hier als Bäume dargestellt) zugeführt wird und durch einen schnellen Ausbreitungsprozess (hier als Feuer dargestellt) wieder verbraucht wird. Am Anfang wird ausgewürfelt, welche Gitterplätze leer sind und welche mit einem Baum oder mit einem brennenden Baum besetzt sind. Der Zufall steckt auch im Nachwachsen der Bäume, da Bäume in diesem Modell spontan entstehen. An welchem leeren Platz der nächste Baum entsteht, wird also ausgewürfelt. Man sieht in dem Film, dass sich nach einer kurzen Zeit spiralähnliche Feuerfronten ausbilden, die von einem Zentrum in Wellen nach außen laufen. Man sieht die Auswirkungen des Zufalls z.B. darin, dass die Geschwindigkeit, mit der die Fronten vorankommen, schwankt, je nachdem, wieviele Bäume an den verschiedenen Stellen seit dem letzten Frontdurchgang nachgewachsen sind. Auch das Zentrum, von dem die Wellen ausgehen, wandert mit der Zeit zufällig und verändert seine Gestalt. Wenn man die Computersimulation neu startet, kann es auch eine Doppelspirale oder mehrere Zentren geben. Wenn man häufiger würfelt (also die Bäume schneller nachwachsen lässt), dann werden die Fronten ungleichmäßiger und folgen dichter aufeinander. Wenn man seltener würfelt, werden sie gleichmäßiger und liegen weiter auseinander. Computermodelle mit anderen Regeln erzeugen andere Muster. Man kann mit einfachen Regeln sogar die Tierfellmuster von Zebras oder Leoparden oder Giraffen erzeugen.

Was lernen wir daraus für die Geschichte des Lebens auf der Erde? Die Entwicklungsgeschichte des Lebens auf der Erde ist natürlich um Größenordnungen komplexer als ein Brettspiel oder eine Computersimulation. Der Vergleich hinkt an vielen Stellen, insbesondere auch weil die Möglichkeiten, die das „Spiel“ Evolution bietet, in jeder Phase wieder anders sind. Wenn man sich schon ein Spiel als Analogie vorstellen will, dann muss es eines sein, das sich mit der Zeit immer weiter selbst aufbaut und immer mehr Möglichkeiten und Regeln bekommt und immer mehr und verschiedenartige Würfel, die bei verschiedenen Gelegenheiten verwendet werden können. Doch aus den einfachen Computermodellen haben wir gelernt, dass das Zusammenspiel von Zufall und Gesetzen zu Ergebnissen und Strukturen führt, deren Eigenschaften in den Spielregeln angelegt sind und bei jedem Durchlauf des Spiels wieder herauskommen. Freilich sind die Details jedes Mal anders, aber die großen Linien liegen fest. Dass es bei Evolution tatsächlich auch so ist, meint der Paläontologe Simon Conway Morris. Es sind nämlich während der Evolution ähnliche Dinge immer wieder passiert: Nicht nur Wirbeltiere haben ein Kameraauge, sondern auch Tintenfische und Schnecken und manche Quallen. Die Idee, mit einer Linse das Licht auf die Photorezeptoren einer Netzhaut zu fokussieren, ist hierbei immer dieselbe, wenn auch die genaue mikroskopische Konstruktion jeweils etwas anders ist. Auch andere Fähigkeiten, wie die Wahrnehmung oder Erzeugung elektrischer Signale oder die Echoortung, sind mehrfach unabhängig voneinander entstanden. Und wenn auf verschiedenen Kontinenten verschiedene Lebewesen dieselbe ökologische Nische füllen, sehen sie einander oft ähnlich. Zum Beispiel haben nicht nur die hiesigen Plazentatiere, sondern auch die australischen Beuteltiere so etwas wie Gleithörnchen, Mäuse und Wölfe hervorgebracht. Man nennt dieses Phänomen „konvergente Evolution“.

All diese Überlegungen führen mich zur Folgerung, dass Jacques Monod das Zusammenspiel von „Zufall und Notwendigkeit“ sehr einseitig dargestellt hat. Es ist keineswegs so, dass das Gesamtergebnis völlig zufällig und überraschend sein muss. Schon gar nicht für einen Gott, der die „Spielregen“ als ihr Erfinder natürlich völlig durchschaut und bewusst so gewählt hat, dass seine Ziele verwirklicht werden. Für mich passt es sehr gut zur christlichen Vorstellung vom Schöpfergott, dass die großen Linien für die Entwicklungsmöglichkeiten des Lebens durch die „Spielregeln“ vorgegeben sind, aber dass es innerhalb dieser Grenzen auch viel Freiheit zur Entfaltung gibt.

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