Was Naturwissenschaftler vom Glauben halten

Im Jahr 2019 erschien das Buch „Secularity and Science: What Scientists Around the World Really Think About Religion“ der Soziologin Elaine Ecklund und ihrer Koautoren. Das Buch berichtet über die Ergebnisse einer groß angelegten Untersuchung darüber, was Physiker und Biologen in verschiedenen Ländern von Glauben halten. Mehr als 20.000 Frauen und Männer verschiedener Karrierestufen, die in der universitären Forschung aktiv sind, bekamen einen Fragebogen zugeschickt. Außerdem wurden mit einer Reihe von ihnen tiefergehende Interviews durchgeführt, um herauszufinden, was Naturwissenschaftler glauben, wie ihre Einstellung zu gläubigen Personen ist und wie sie die Stimmung in der Fachwelt einschätzen. Um den Vergleich mit der allgemeinen Bevölkerung des jeweiligen Landes zu haben, wurden auch Fragebögen an die allgemeine Bevölkerung geschickt.

Leider ist bei dieser Untersuchung Deutschland nicht dabei, aber die USA, England, Frankreich, Italien und vier asiatische Länder. In diesem Blogbeitrag gehe ich hauptsächlich auf die vier westlichen Länder ein, da sie für die Situation in Deutschland am relevantesten sind.

In allen vier Ländern sind die befragten Naturwissenschaftler deutlich weniger religiös als die allgemeine Bevölkerung. In den USA gehören zwei Drittel der Naturwissenschaftler zu keiner religiösen Tradition, verglichen mit einem Drittel in der allgemeinen Bevölkerung. 92 Prozent der US-Bevölkerung glauben an Gott oder ein höheres Wesen, aber nur 36 Prozent der Naturwissenschaftler. 35 Prozent der Naturwissenschaftler sagen, sie glauben nicht an Gott. Die übrigen 29 Prozent sind Agnostiker, d.h. sie meinen, man könne nicht wissen, ob es Gott gibt. Ebenfalls 29 Prozent der Naturwissenschaftler meinen, dass es einen Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Glauben gibt. Das liegt nach Meinung der Autoren wahrscheinlich daran, dass die USA einen großen christlich konservativen, politisch engagierten Bevölkerungsanteil haben. Naturwissenschaftler tendieren dazu, konservative evangelikale Protestanten als Repräsentanten aller Christen zu sehen. Sie meinen, dass evangelikale Protestanten universell feindlich gegenüber der Naturwissenschaft sind und somit Evolution und den Klimawandel und weitere wissenschaftliche Erkenntnisse ablehnen. Unter den Naturwissenschaftlern in den erwähnten vier westlichen Ländern sehen Männer stärker als Frauen einen Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion, und Biologen stärker als Physiker.

In Großbritannien sind 68 Prozent der Naturwissenschaftler Atheisten oder Agnostiker, verglichen mit ca. 37 Prozent der allgemeinen Bevölkerung. Das heißt, dass nur 32 Prozent der Naturwissenschaftler an Gott oder ein höheres Wesen glauben. Ähnlich niedrig ist der Anteil der Naturwissenschaftler, die zu einer religiösen Gemeinschaft gehören. In der allgemeinen Bevölkerung ist er mit 47 Prozent allerdings auch nicht besonders hoch. Es gibt unter den bekannten Naturwissenschaftlern sowohl meinungsstarke Atheisten wie Richard Dawkins, also auch einflussreiche Naturwissenschaftler-Theologen wie Alister McGrath oder John Polkinghorne. In den Medien bekommen Extrempositionen wie die von Richard Dawkins oder von Kreationisten überproportional viel Aufmerksamkeit. 36 Prozent der befragten Naturwissenschaftler sind der Meinung, dass Glaube und Naturwissenschaft im Konflikt miteinander stehen, also noch etwas mehr als in den USA. (In Frankreich und Italien sind es 26 und 21 Prozent.) Knapp die Hälfte meinen, dass beide nichts miteinander zu tun haben. Durch Zuwanderung aus nicht-europäischen Ländern wächst die religiöse Diversität im Land und auch unter den Naturwissenschaftlern.

Frankreich ist ein laizistisches Land, in dem der Staat aktiv die Religion aus der Öffentlichkeit verbannt. Dieser entschiedene Sekularismus ist omnipräsent unter Naturwissenschaftlern. Einige Naturwissenschaftler zeigten sich bei der Umfrage sogar verärgert darüber, dass sie sich auch zum Thema Religion äußern sollten. Religiöse Themen sind am Arbeitsplatz nach Aussage eines der befragten Naturwissenschaftler tabu. Drei Viertel betrachten sich als agnostisch oder atheistisch, im Vergleich mit knapp 40 Prozent der allgemeinen Bevölkerung. Nur die Hälfte der Bevölkerung gehört zu einer religiösen Gemeinschaft, und nur 33 Prozent der Naturwissenschaftler.

In Italien dagegen sind religiöse Zugehörigkeit und religiöser Glaube weit verbreitet. Katholisch zu sein ist für viele Italiener eine kulturelle Identität, auch wenn sie oft nur nominell Christen sind. 88 Prozent der allgemeinen Bevölkerung und 58 Prozent der befragten Naturwissenschaftler sind katholisch und 7 Prozent von ihnen gehören anderen Religionsgemeinschaften an. 43 Prozent der Naturwissenschaftler gaben an, sie seien Atheisten oder Agnostiker, im Gegensatz zu nur gut 13 Prozent der allgemeinen Bevölkerung. Diese Zahlen bedeuten auch, dass ein Teil der Mitglieder der Katholischen Kirche nicht an Gott glauben. Anders als in den USA und England ist Evolution in Italien kein kontroverses Thema, da sie ja von der katholischen Kirche bejaht wird.

Aus ihren Untersuchungen ziehen die Autoren vier wichtige Schlussfolgerungen:

  1. Es gibt auf der Welt mehr religiöse Wissenschaftler, als viele meinen, denn die meisten Naturwissenschaftler behalten ihren Glauben für sich. Ein nicht unerheblicher Teil der Naturwissenschaftler hat eine religiöse Zugehörigkeit, einen religiösen Glauben oder praktiziert seine Religion. Ungefähr 10 Prozent der Naturwissenschaftler in den USA und Großbritannien haben „keinen Zweifel“ daran, dass Gott existiert. Viele von ihnen beten und besuchen Gottesdienste. In asiatischen Ländern sind diese Zahlen höher: ein Viertel der befragten Naturwissenschaftler in Indien und zwei Drittel in der Türkei haben keinen Zweifel daran, dass Gott existiert.

  2. Auch viele unreligiöse oder atheistische Naturwissenschaftler sehen in der Naturwissenschaft eine spirituelle Dimension. Circa 10 Prozent der Atheisten erleben Spritualität in Form von Staunen, Ehrfurcht und Schönheit, betrachten dies aber nicht als eine religiöse Erfahrung.

  3. Die Auffassung, es bestehe ein Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion ist ein Produkt des Westens. Nur in den USA, Großbritannien und Frankreich sehen ca. ein Drittel der Naturwissenschaftler diesen Konflikt. Die weit überwiegende Sicht ist, dass Naturwissenschaft und Religion voneinander unabhängig sind, und eine starke Minderheit meint, beide können zusammenarbeiten. Mehrheitlich sind Naturwissenschaftler der Meinung, dass man sowohl religiös als auch Naturwissenschaftler sein kann. Sie begründen dies damit, dass sie gläubige Naturwissenschaftler kennen, die eine erfolgreiche wissenschaftliche Karriere haben.

  4. Religion wird nicht völlig aus dem Arbeitsplatz verbannt: Sie kommt in Diskussionen auf und begegnet einem Teil der Wissenschaftler auf verschiedene Weise in ihrem Alltag.

Neben den erwähnten Ergebnissen bietet das Buch eine Fülle weiterer Details, sowohl in Form von Statistiken, als auch von Erfahrungsberichten und detaillierten Stellungnahmen in Gesprächen mit den interviewten Frauen und Männern.

Beim Lesen des Buchs fragte ich mich immer wieder, woran es liegt, dass unter forschenden Naturwissenschaftlern der Anteil der Gläubigen ungefähr nur halb so hoch wie in der Gesamtbevölkerung ist. Beeinflusst der Glaube die Berufswahl, oder umgekehrt der Beruf den Glauben, oder beides? Kommen gläubige Menschen weniger häufig aus Akademikerfamilien und studieren deshalb seltener bzw. schlagen nach dem Studium weniger häufig eine wissenschaftliche Laufbahn ein? Neigen gläubige Menschen dazu, eher soziale als naturwissenschaftliche Berufswege zu wählen? Werden manche begabte junge Menschen aus christlichen Familien davor gewarnt, Physik oder Biologie zu studieren? Werden denkende Menschen und Menschen mit naturwissenschaftlichem Wissen vom Glauben abgeschreckt, weil er oft unreflektiert und naiv präsentiert wird? Sehen viele Naturwissenschaftler die Wissenschaft als Ersatzreligion, als Erklärung für alles? Oder sind Naturwissenschaftler einfach allgemein glücklich und erfüllt und brauchen Gott nicht? Lässt die harte wissenschaftliche Arbeit keine Zeit, um über Gott nachzudenken oder in einer Gemeinde aktiv zu sein?

Bestimmt sind die Gründe vielfältig. Ich möchte auf jeden Fall nach Kräften meinen Beitrag dazu leisten, dass Naturwissenschaftler erkennen, wie gut Glaube und Wissenschaft zusammenpassen. Ebenso möchte ich mich dafür einsetzen, dass in christlichen Gemeinden falsche Auffassungen über die Naturwissenschaften korrigiert werden. Und vor allem wünsche ich, dass möglichst viele junge begabte Christen ein naturwissenschaftliches Studium beginnen und mit dazu beitragen, dass in Zukunft immer weniger Leute einen Konflikt zwischen Glauben und Naturwissenschaft sehen.


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