Was hilft gegen Verschwörungserzählungen?

Ende letzten Jahres wurde mein Glaube an die Vernunft der Menschen mal wieder erschüttert. Ein sehr intelligenter Mensch aus meinem weiteren Umfeld, Philosophieprofessor von Beruf, outete sich als jemand, der weder an die Wirksamkeit von Masken glaubt, noch dass das SARS-CoV-2-Virus gefährlicher als normale Erkältungsviren sei. Wir würden von der Regierung und den Medien zu diesem Thema permanent angelogen. Die Corona-Schutzmaßnahmen würden letztlich dazu führen, die Religionsfreiheit abzuschaffen. Mehrere Personen aus unserem (christlichen, akademischen) Email-Verteiler versuchten, ihn mit Argumenten, Daten und Fakten zu widerlegen, doch das zeigte bei ihm keinerlei Wirkung. Er meinte, dass Laien durch logisches Nachdenken zu zuverlässigeren Schlussfolgerungen kommen können als Fachexperten und dass wir alle „Schlafschafe“ seien, die nicht kapieren, welches Spiel mit uns gespielt wird.

Dieses Erlebnis verunsicherte mich zutiefst. Wenn ein so intelligenter Mensch sich so verrennen kann, dann ist niemand davor sicher, dass ihm das nicht auch passiert… Kann man bei sich und anderen vorbeugende Maßnahmen ergreifen, um nicht auf irreführende Informationen hereinzufallen? Bei dem betreffenden Menschen wurde mir im Nachhinein bewusst, der er schon seit langem immer wieder Skepsis gegenüber Erkenntnissen der naturwissenschaftlichen Forschung, gegenüber der Regierung und den öffentlich-rechtlichen Medien äußerte. Auch erweckte er den Eindruck, sich seinen Mitmenschen intellektuell überlegen zu fühlen. Das Misstrauen gegenüber anerkannten Autoritäten gepaart mit seinem Überlegenheitsgefühl machte ihn wohl anfällig dafür, hinter den Corona-Maßnahmen Dummheit oder gar feindliche Absichten zu wittern.

Auch in der Verwandtschaft und in meiner Kirchengemeinde erlebe ich, dass Menschen Falschinformationen glauben und durch Argumente nicht davon abzubringen sind. Geprägt durch diese Erfahrungen las ich das Buch von Katharina Nocun und Pia Lamberti „True Facts: Was gegen Verschwörungserzählungen wirklich hilft“. Dieses Buch enthält viele hilfreiche Informationen und Anregungen für den Umgang mit Verschwörungserzählungen und mit Desinformation im Allgemeinen.

Zunächst erklärt das Buch die psychologischen Motive, die Menschen anfällig für Verschwörungserzählungen machen. In unübersichtlichen und unvorhersagbaren Situationen wie der aktuellen Pandemie treten verschiedene Grundbedürfnisse des Menschen besonders in Erscheinung:

  • Das Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle öffnet die Menschen für Erklärungen, die das subjektive Gefühl der Vorhersagbarkeit erhöhen, weil man vermeintlich weiß, was als Nächstes passieren wird.

  • Das Bedürfnis, die Vorgänge in der Welt zu verstehen. wird vermeintlich durch Verschwörungserzählungen befriedigt, die für verschiedene Ereignisse eine einheitlich Erklärung bieten, z.B. die „finsteren Machenschaften der Pharmaindustrie“.

  • Und schließlich wird das Bedürfnis, etwas Besonderes zu sein, dadurch gestillt, dass man einem kleinen Kreis von Eingeweihten angehört, die das böse Spiel einiger Mächtiger dieser Erde durchschauen, die die Weltherrschaft und Kontrolle über die Menschheit anstreben.

Zu diesen drei Bedürfnissen kommt noch hinzu, dass wir oft ungeprüft Erzählungen glauben, die unsere Feindbilder und Vorurteile bestätigen.

Als nächstes erklären die Autorinnen, woran man Verschwörungserzählungen erkennen kann. Man erkennt sie erstens an Suggestivfragen wie z.B. „Widerlegt die Frühzeit einen menschengemachten Klimawandel?“ oder „Wird die österreichische Politik von außen gesteuert?“ Häufig drehen sich die vermeintlich offenen Fragen um Dinge, die längst geklärt wurden. Wer einer solchen Frage im privaten Umfeld begegnet, sollte klarstellen, dass damit eine drastische Behauptung aufgestellt wird, ohne Belege aufzuführen.

Das zweite Erkennungsmerkmal von Verschwörungserzählungen ist der Verweis darauf, dass bestimmte Personen von einer Situation profitiert. So wird z.B. daraus, dass Pharmaunternehmen von der Corona-Pandemie finanziell profitieren, gefolgert, dass sie für das Auftreten der Pandemie verantwortlich seien.

Drittens werden einfache und stark überzeichnete Feindbilder aufgebaut. Den angeblichen Verschwörern wird das Motiv unterstellt, um jeden Preis zu schaden, oft ohne dass erklärt wird, was die Verschwörer davon haben (z.B. bei Chemtrails).

Das vierte Kennzeichen ist eine Angstrhetorik. So waren viele bei der Erstürmung des Kapitols in Washington im Januar Beteiligte von der Furcht getrieben, dass der bevorstehende Machtwechsel im Präsidentenamt die Errichtung einer kommunistischen Diktatur einläuten würde.

Fünftens beklagen Verschwörungsideologen sich häufig, dass sie aus Debatten ausgeschlossen werden, und schimpfen über die „Meinungsdiktatur“. Sie behaupten, die öffentlichen Medien seien zentral gesteuert, und die Wissenschaft hänge da mit drin. So immunisiert man sich gegen jede Art von Kritik, denn diese kommt ja von denen, die Teil der Verschwörung sind.

Schließlich kann man auf die Standard-Methoden der Desinformation achten, denn diese werden natürlich auch von Verschwörungserzählungen verwendet. Hierzu gehören die Rosinenpickerei, bei der nur die zur eigenen Überzeugung passenden Studien oder Belege erwähnt werden, und die Berufung auf fragwürdige „Experten“, die womöglich einen Doktor- oder gar Professorentitel haben, aber auf dem fraglichen Gebiet nicht fachlich ausgewiesen sind oder eine absolute Außenseiterrolle spielen.

Besonders hilfreich finde ich das Kapitel zu der Frage, wie man argumentieren soll, wenn man Verschwörungserzählungen begegnet. Die Autorinnen betonen, dass es sehr wichtig ist einzuschreiten, wenn jemand in unserer Gegenwart Verschwörungsideen äußert. Wer schweigt, trägt womöglich dazu bei, dass ein Verschwörungsglaube im eigenen Umfeld die Oberhand gewinnt. Wenn ein Freund oder Angehöriger Verschwörungserzählungen von sich gibt, sollten wir zunächst herausfinden, wann die Person auf diese Behauptungen gestoßen ist und ob es sich um eine unüberlegte Äußerung oder tiefe Überzeugung handelt. Da es oft verschiedene konkurrierende Narrative gibt, sollten wir erfragen, woran der andere konkret glaubt und auf welche Quellen sich dieser Glaube stützt. Bevor wir uns für eine Argumentationsstrategie entscheiden, müssen wir außerdem wissen, wie es um das Vertrauen in Medien und Wissenschaft bestellt ist. Gibt es vielleicht Zeitungen oder Fachleute, die das Vertrauen des Gegenübers genießen und die man zitieren könnte? Faktenchecks wie z.B. CORREKTIV sind eine gute Quelle für Widerlegungen einzelner Behauptungen. Wer eine kompakte Widerlegung einer Behauptung im Gespräch anbringen möchte, sollte darauf achten, die Falschaussage so wenig wie möglich zu wiederholen und sie durch richtige Aussagen zu flankieren samt einer Erklärung, warum die Behauptung nicht stimmt. Wer mit einem Sammelsurium von Behauptungen konfrontiert wird, kann sich zunächst die unplausibelste dieser Behauptungen herauspicken und sie hinterfragen.

In einigen Situationen braucht man gar kein Fachwissen, um die Verschwörungserzählung zu hinterfragen. Wenn pauschal über „die Medien“ oder „die Politik“ hergezogen wird, kann man rückfragen, ob man es sich wirklich so leicht machen kann, alle über einen Kamm zu scheren. Oft kann man logische Inkonsistenzen in einer Erzählung aufdecken, indem man bei einzelnen Details gezielt nachhakt. Auch die Frage „Was würde dich vom Gegenteil überzeugen“ kann den anderen zum Nachdenken bringen. Noch hilfreicher kann es sein, unser Gegenüber zu fragen, wie man Anhänger einer Sekte dazu bringen könnte, ihren Glauben zu hinterfragen. Wenn man über Dritte redet und nicht über sich selbst, ist man eher bereit, problematische Denkmuster zu identifizieren.

Bei antisemitischen oder rassistischen Äußerungen oder Holocaust-Vergleichen sollte man nicht mehr diskutieren, sondern sich klar positionieren und sagen, dass hier Grenzen überschritten worden sind.

Nicht zuletzt ist es wichtig, dem Verschwörungsglauben den Nährboden zu entziehen. Wenn tiefergehende Probleme der Auslöser für die Beschäftigung mit der Verschwörungserzählung waren, kann es wichtiger sein, sich mit den entsprechenden Sorgen und Nöten zu befassen, als Argumente gegen die Verschwörungserzählung vorzubringen.

Mit diesen Punkten habe ich nur einen Teil des Buchinhalts erwähnt. Wer tiefer in das Thema einsteigen will, wird davon profitieren, das ganze Buch zu lesen.

Thematisch verwandt mit diesem Beitrag ist „Erkenne die Grenzen deines Wissens“. Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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