Der nicht gegebene Nobelpreis

Im Jahr 2018 erhielt die Astrophysikerin Jocelyn Bell Burnell den mit 3 Millionen Dollar dotierten Special Breakthrough Prize in Fundamental Physics. Mit diesem Preis wurde sie für die Entdeckung der Pulsare gewürdigt, einer besonderen Sorte von Neutronensternen mit einem sehr starken Magnetfeld, und für ihre lebenslange inspirierende wissenschaftliche Führungsrolle. Jocelyn Bell gehört zur Glaubensgemeinschaft der Quäker, die im Allgemeinen bescheiden leben und sich für andere einsetzen. Sie spendete das gesamte Preisgeld für die Förderung von Frauen, Personen aus ethnischen Minderheiten und Flüchtlingen, die gerne Physik studieren möchten.

Der Preis ist eine späte Entschädigung dafür, dass sie bei der Verleihung des Physik-Nobelpreises im Jahre 1974 für die Entdeckung der Pulsare übergangen wurde. Ausgezeichnet wurde damals ihr Doktorvater Antony Hewish für die Entdeckungen, die Jocelyn Bell während ihrer Doktorarbeit im Jahr 1967 gemacht hat. Sie hatte gemeinsam mit anderen Doktoranden das von ihrem Doktorvater geplante Radioteleskop zusammengebaut und dabei auf einer Fläche von fast 2 Hektar knapp 200 Kilometer Kabel und Drähte aufgespannt. Anschließend war sie als einzige übriggeblieben, um das Teleskop zu betreiben, Messdaten aufzunehmen und auszuwerten. Sie litt unter dem Hochstapler-Syndrom und arbeitete deshalb sehr hart, um zu beweisen, dass sie es wert sei, an der Universität von Cambridge ihre Doktorarbeit zu machen. In den vielen 100 Metern Papier, auf das die Messreihen automatisch aufgezeichnet wurden, entdeckte sie eine unauffällige und kurze Folge von Pulsen, die voneinander den Abstand von 1,3 Sekunden hatten. Als sie sich überzeugt hatte, dass diese Messdaten kein menschengemachtes Hintergrundgeräusch, sondern Signale aus dem Weltall sind, gelang es ihr, auch ihren Doktorvater davon zu überzeugen. Als sie an anderen Positionen am Himmel weitere Quellen von solchen Pulsen fand, war auch klar, dass sie nicht von einer außerirdischen Zivilisation kamen. Inzwischen wissen wir, dass sie von stark magnetischen Neutronensternen kommen, durch deren Rotation elektromagnetische Wellen im Radiofrequenzbereich abgestrahlt werden. Nur wenn die Erde genau in der von diesem rotierenden Strahl abgedeckten Ebene liegt, können wir solch einen Pulsar wahrnehmen.

Die Geschichte der Entdeckung der Pulsare erzählte sie 1976 in einer Rede, deren Text im Internet verfügbar ist. Gegen Ende äußert sie sich auch dazu, dass sie den Nobelpreis nicht bekam:

Man sagt ich hätte einen Teil des Nobelpreises bekommen sollen, den Tom Hewish für die Entdeckung der Pulsare erhielt. Dazu möchte ich mehrere Kommentare machen: Erstens ist es immer schwierig oder gar unmöglich, die Beiträge von Betreuer und Student auseinander zu halten. Zweitens hat der Betreuer die letztliche Verantwortung für den Erfolg oder das Scheitern des Projekts. Es kommt vor, dass der Betreuer den Studenten für ein Scheitern verantwortlich macht, doch wir wissen, dass das weitgehend der Fehler des Betreuers ist. Daher finde ich es nur fair, wenn er auch von den Erfolgen profitiert. Drittens denke ich, dass der Nobelpreis erniedrigt wird, wenn er an Doktoranden verliehen wird, außer in ganz besonderen Fällen, und ich denke nicht dass dies einer ist. Und letztens, ich selbst bin nicht verärgert darüber – denn schließlich bin ich in guter Gesellschaft, nicht wahr!

Dass sie zum Zeitpunkt der Entdeckung nur Doktorandin war, ist allerdings nicht allein der Grund dafür, dass sie beim Nobelpreis übergangen wurde. Der andere ist, dass Frauen damals in der Naturwissenschaft nur wenig Anerkennung für ihre Leistungen bekamen. Als sie und Hewish ihre Entdeckungen publiziert hatten, kam die Presse zu Besuch. Anthony Hewish durfte die Wissenschaft erklären, und sie wurde gefragt, wie viele Freunde sie hat und ob sie größer oder kleiner als Prinzessin Margaret sei...

Marie Curie, die erste Frau, die den Physik-Nobelpreis erhielt, bekam ihn übrigens nur, weil im Vorfeld durchsickerte, dass allein ihr Mann für den Preis nominiert war. Dies führte zu heftigen Protesten, nicht zuletzt von Seiten ihres Mannes…

Die gelassene Reaktion von Jocelyn Bell darauf, dass sie den Nobelpreis nicht erhielt, hat bestimmt auch mit ihrem Glauben zu tun. Über diesen Glauben schreibt sie in dem kleinen Buch „A Quaker astronomer reflects. Can a scientist also be religious?“

Sie stammt aus einer Quäkerfamilie und wuchs in einer evangelikalen Quäkergemeinde auf, in der man die Bibel recht wörtlich nahm und der Naturwissenschaft misstraute. Im Alter von 13 Jahren wurde sie auf ein Internat der Quäker geschickt, das eine liberalere Prägung hatte als ihre Heimatgemeinde. Sie schreibt, dass die liberalen Quäker nur wenig Gewicht auf die Bibel legen und stattdessen direkt auf Eindrücke und Impulse von Gott hören. Damit niemand sich dabei irreführen lässt, werden solche Eindrücke in der Gemeinde geprüft. Der Physikunterricht auf dem Internat war sehr gut, der Chemieunterricht weniger. Sie erzählt, dass der Chemielehrer auf die Frage, warum Kupfer, Schwefel und Sauerstoff sich zu Kupfersulfat verbinden, antwortete: „Gott hat es so gemacht“. Jocelyin Bell meint, er hätte ihnen besser etwas über das Periodensystem der Elemente und über Elektronenorbitale erzählen sollen.

Selbst wenn es um die Feinabstimmung der Naturkonstanten geht, möchte Jocelyn Bell nicht die Antwort geben, dass Gott sie mit Absicht so gemacht hat. Sie meint, der Anschein von Design in der Natur sei kein Beweis für Gott. Auch bei der Frage, wer oder was den Urknall ausgelöst hat, bleibt Jocelyn Bell sich treu, indem sie nicht einfach die Antwort „Gott“ geben möchte. Ihrer Meinung nach würde man dadurch Gott zum Lückenbüßer für die Erklärungslücken der Naturwissenschaften machen. 

Anders gehen Theologen-Naturwissenschaftler wie John Polkinghorne oder Rodney Holder mit diesen Fragen um. Freilich ist auch ihnen klar, dass man Gott aus der Wissenschaft nicht beweisen kann, aber sie meinen, dass die Wissenschaft die tieferen Fragen nach dem „Wer“ und „Warum“ aufwirft, die jenseits der Wissenschaft liegen. Ich schließe mich ihrer Meinung an, dass „Gott“ die plausibelste Antwort hierauf ist. Wir haben es hier nicht mit einer Erklärungslücke der Naturwissenschaften zu tun, sondern mit einer prinzipiellen Grenze: Die Naturwissenschaft kann sich nur mit den Dingen befassen, die innerhalb unserer Welt ablaufen, sobald sie einmal existiert, aber nicht mit der Entstehung der Welt an sich.

Im letzten Teil des Buchs beschreibt Jocelyn Bell ihre theologische Position:

Ich glaube an einen Gott. Ich glaube, das Leben ist mehr als körperliche Existenz – es gibt ein inneres Leben. Aber ich habe Gottes Aufgabenbeschreibung geändert. Ich glaube nicht, dass Gott der Schöpfer ist, der das Universum erschaffen hat; das physikalische Universum erscheint mir ziellos. Ich stelle mir einen liebenden, sorgenden, unterstützenden, kraftspendenden Gott vor, der durch Menschen wirkt (wie St. Teresa von Avila sagt: „er hat keine Hände als die unseren“); einen Gott der Inspiration.

Gott ist ihrer Auffassung nach nicht für die Naturabläufe verantwortlich. Ihr Glaube ist eher mystisch. Sie begegnet Gott durch die Erfahrung und das innere Wissen. Häufig erlebt sie Gott in der Stille der Quäker-Gottesdienste. „Er hält uns einen Spiegel vor, damit wir unser Verhalten erkennen. Vor ihm fallen alle Masken ab; er kennt uns so wie sonst nur unsere Eltern. […] In solchen Momenten beruhigt, heilt und trägt er uns und sendet uns als empfindsamere, verständigere Menschen aus, um eine bessere Welt zu schaffen.“ Sie berichtet von inneren Impulsen, die Gott ihr immer wieder gibt, in einem Gottesdienst etwas Bestimmtes zu sagen. Hinterher erfährt sie dann, dass sie damit einem anderen Menschen geholfen hat.

Diese Bereitschaft, auf Gottes Stimme zu hören, möchte ich mir gerne zum Vorbild nehmen, auch wenn ihr theologischer Standpunkt ansonsten von dem meinen recht weit entfernt ist.

Hinweis: In dem Blogbeitrag zu schwarzen Löchern habe ich erwähnt, wie Neutronensterne entstehen. Wie man die Feinabstimmung der Naturkonstanten entdeckte, erzählt mein Blogbeitrag „Woher kommt der viele Kohlenstoff?“. Wer sich für das Leben und die Leistung berühmter Wissenschaftlerinnen interessiert, wird am Blogbeitrag zu Barbara McClintock Freude haben.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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