Woher kommt der viele Kohlenstoff?

 Für das Leben auf der Erde ist Kohlenstoff das wichtigste chemische Element. Kohlenstoffatome können gleichzeitig bis zu vier chemische Bindungen haben. Sie können sich sowohl untereinander, als auch mit einer Reihe von weiteren Atomen verbinden und so lange Kettenmoleküle bilden. Nur dadurch wird die komplexe Biochemie möglich, mit der Lebewesen ihre Zellen aufbauen und aus Nahrung Energie gewinnen. Die wichtigen Biomoleküle unseres Körpers (DNA, Proteine, Kohlenhydrate und Fette) enthalten alle viel Kohlenstoff, der ca. 50 Prozent der Trockenmasse von Lebewesen bildet. Im Universum ist Kohlenstoff, gemessen nach Masse, das vierthäufigste Element.

Doch es war lange Zeit ein Rätsel, wie diese große Menge an Kohlenstoff entstehen konnte. Im vorletzten Blogbeitrag („Am Anfang war der Urknall“ vom 25.10.) habe ich davon geschrieben, dass Alpher und Gamov in den 1940er Jahren ausrechneten, dass in den ersten Minuten nach dem Urknall ein Viertel des anfänglichen Wasserstoffs zu Helium verschmolzen wurde. Später konnte man auch berechnen, dass sich damals auch Lithium gebildet hat. Doch Elemente jenseits von Lithium konnten während der kurzen genügend heißen Phase des frühen Universums nach den Rechnungen der Kernphysiker nicht entstehen.

Schon seit den 1920er Jahren verfolgten einige Physiker die Idee, dass im viele Millionen Grad heißen Inneren der Sterne Kernreaktionen stattfinden, die nicht nur aus Wasserstoff Helium produzieren (doch längst nicht so viel, wie in den ersten Minuten des Universums entstand), sondern durch weitere Reaktionen auch schwerere Elemente herstellen. Fred Hoyle, der uns auch schon im vorletzten Blogbeitrag begegnet ist, entwickelte als erster in der Mitte der 1940er Jahre genauere Vorstellungen dazu, wie in Sternen Elemente bis hin zum Eisen entstehen können. Er berechnete, wie Druck und Temperatur im Inneren eines Sterns sich in den verschiedenen Lebensphasen des Sterns ändern und welche Reaktionen folglich jeweils stattfinden können. Man hatte damals auch schon die Idee, dass Elemente jenseits von Eisen entstehen können, wenn Supernovaexplosionen stattfinden. Die Schockwelle, die während einer solchen Explosion durch den Stern geht, liefert die nötige Energie für diese Reaktionen.

Doch es gab zunächst ein unüberwindbares Problem: Die kernphysikalischen Rechnungen konnten nicht erklären, wie Kohlenstoff entsteht. Wenn Kohlenstoff mal vorhanden ist, kann man das Entstehen der weiteren Elemente berechnen. Aber als man diejenigen Kernreaktionen durchrechnete, die im Prinzip Kohlenstoff erzeugen können, kamen viel zu kleine Reaktionsraten heraus. Auf diese Weise könnte niemals die Menge Kohlenstoff entstanden sein, die wir im Universum finden.

Die Lösung dieses Rätsels fand Fred Hoyle durch eine sehr kühne Überlegung, die in dieser Form in der Geschichte der Physik einmalig ist: Hierfür muss man zunächst diejenige Reaktionskette betrachten, die für die Erzeugung von Kohlenstoff in Frage kommt. Die häufigste Variante von Kohlenstoff, ¹²C, besteht aus 6 Protonen und 6 Neutronen. Ein solcher Atomkern kann rechnerisch entstehen, wenn drei Helium-4-Atomkerne zusammenkommen (diese werden als ⁴He bezeichnet), denn sie haben je 2 Protonen und 2 Neutronen. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass drei Atomkerne genau gleichzeitig am selben Ort sind, ist extrem gering. Also müssen zunächst zwei Heliumkerne zusammenkommen und Beryllium-8 (⁸Be) produzieren. Doch dieser Atomkern ist sehr instabil und zerfällt in 10⁻¹⁶ Sekunden (das ist weniger als ein Millionstel von einer Milliardstel Sekunde) wieder in zwei Helium-Kerne. Dass während dieser Zeit noch ein dritter Heliumkern dazukommt und auch noch solange bleibt, bis dieses instabile Objekt durch Energieabgabe stabil wird, passiert auch viel zu selten, um die nötige Menge Kohlenstoff zu produzieren.

Fred Hoyle sah nur eine einzige Möglichkeit, wie der Kohlenstoff trotzdem erzeugt werden kann: Wenn es eine energiereichere Version des ¹²C-Atomkerns gibt (eine sogenannte Anregung oder Resonanz), deren Masse genau die Summe der Massen von ⁴He und ⁸Be beträgt, dann kann ¹²C in genügend großer Menge produziert werden. Die Raten von Kernreaktionen werden nämlich deutlich erhöht, wenn es solche Resonanzen gibt. Hoyle war sich so sicher, dass es so sein muss, dass er in das Büro des berühmten Kernphysikers William Fowler marschierte und ihm sagte, dass ¹²C einen angeregten Zustand mit einer Energie nahe bei 7,65 MeV (Megaelektronenvolt, eine sehr kleine Energieeinheit passend für Atomkerne) haben muss. Diese Energie entspricht der Differenz zwischen der gemeinsamen Masse von ⁴He und ⁸Be und der Masse des stabilen Zustands von ¹²C. (Denken Sie daran, dass wegen Einsteins Formel E=mc² die Masse m in Energie E umgerechnet werden kann. c ist hierbei die Lichtgeschwindigkeit.) Hoyle drängte Fowler, er möge dies durch Messungen überprüfen.

Fowler nahm Hoyle zunächst nicht ernst, denn es war damals noch gänzlich unmöglich, mit solcher Genauigkeit einen angeregten Zustand eines Atomkerns zu berechnen. Doch Hoyle hatte nicht gerechnet, sondern eine logische Überlegung angestellt: Weil es Kohlenstoff gibt, muss es möglich sein, dass er in einer Kernreaktion entsteht. Damit diese Kernreaktion möglich ist, muss eine Resonanz vorhanden sein. Also gibt es diese Resonanz. Folglich ließ Hoyle nicht locker und überzeugte Fowler schließlich mit dem Argument, dass Fowler nur ein paar Tage verlieren würde, wenn die Vorhersage nicht stimmt, aber wenn sie stimmt, würde Fowler an einer der wichtigsten Entdeckungen der Kernphysik beteiligt sein. Fowler ließ einen jungen Mitarbeiter die Experimente durchführen – und die Resonanz wurde gefunden.

Diejenigen, die bisher daran gezweifelt hatten, dass alle chemischen Elemente ausgehend von Wasserstoff durch Kernreaktionen erzeugt wurden, wurden durch diese Entdeckung davon überzeugt. Fred Hoyle selbst wurde in seinem Atheismus erschüttert. Er meinte, ein superintelligentes Wesen müsse die Resonanz mit Absicht so gewählt haben, dass Kohlenstoff entstehen kann, der wiederum die Grundlage für das Leben ist. (So in dem Artikel „The Universe: Past and Present Reflections“, Ann. Rev. Astron. Astrophys. (1982) 20, 1-35.) Aber zum Glauben an Gott brachte ihn dies nicht...

Heute sprechen wir von der Feinabstimmung der Naturkonstanten. Die Energie, bei der die „Resonanz“ des Kohlenstoffatoms liegt, wird durch die Stärke der Kernkräfte bestimmt. Wäre ihre Stärke ein wenig anders, würde die Erzeugung von größeren Mengen Kohlenstoff nicht mehr funktionieren. Doch nicht nur die Stärke der Kernkräfte muss so sein wie sie ist, damit Leben existieren kann. Kosmologinnen und Astrophysiker haben auch berechnet, wie sich das Universum entwickeln würde, wenn die Stärke der Gravitationskraft oder der elektromagnetischen Wechselwirkung oder die Massen der Elementarteilchen oder andere Eigenschaften des anfänglichen Universums anders wären. Sie kommen zum Ergebnis, dass das Universum dann nicht mehr die Voraussetzungen für Leben bieten würde: Entweder würde das Universum nach dem Urknall so schnell auseinander fliegen, dass sich gar keine Sterne bilden könnten, oder es würden sich zwar Sterne bilden, die aber zu kurzlebig wären, oder es würden nur ganz wenige chemische Elemente entstehen. Es könnte auch passieren, dass Atome gar nicht stabil wären oder dass die Menge möglicher chemischer Reaktionen und möglicher Moleküle zu klein wäre, um Leben zu ermöglichen. Man nennt diese Eigenschaft des Universums, für menschliches Leben gemacht zu sein, das „Anthropische Prinzip“.

Die Entdeckung der Feinabstimmung löste kontroverse Diskussionen aus. Genau wie bei der Frage nach dem Urknall haben wir hier eine Frage, die über die Physik hinausgeht. Die Physik kann ja nur die Naturgesetze erforschen, die uns mit dem Universum gegeben sind. Die Frage, warum die Naturgesetze so sind, wie sie sind, ist dagegen eine philosophische und keine physikalische. Es gibt hierauf verschiedene mögliche Antworten, und welche Antwort man bevorzugt, hängt von der weltanschaulichen Überzeugung ab. Wie beim Urknall gibt es auch hier eine Reihe von naturalistischen Erklärungen: Man kann ein Multiversum postulieren, in dem jedes Universum Naturkonstanten mit zufälligen Werten hat. Dann hat irgendein Universum auch die „richtigen“ Werte. Oder man beruft sich auf ein noch unbekanntes tieferes Prinzip, aus dem alle Werte der Naturkonstanten gemeinsam abgeleitet werden können. Oder man ist zufrieden mit der Annahme, dass es keine tiefere Erklärung gibt.

Für viele, die an Gott glauben, ist es allerdings viel naheliegender zu folgern, dass die Werte der Naturkonstanten mit Absicht so gewählt wurden, wie sie sind. Gott wollte ja Leben und uns Menschen schaffen, und deshalb hat er schon von Anfang an die Voraussetzungen dafür bereitet. Natürlich ist die Feinabstimmung kein Gottesbeweis, denn man kann Gott nicht beweisen. Aber für mich ist sie ein Hinweis auf den Schöpfer.

Literaturhinweis: Das schon vor 14 Tagen genannte Buch von Simon Singh „Big Bang: The Origin of the Universe“ (Harper Perennial, 2005) enthält auch die Geschichte, wie Fred Hoyle die Resonanz entdeckte. Zur Feinabstimmung und dem anthropischen Prinzip gibt es eine gute Zusammenfassung von dem Physiker und Theologen John Polkinghorne hier als Paper 4 (auch auf Deutsch).

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