Krone der Schöpfung?

Sigmund Freud schrieb einmal, dass die Wissenschaft dem Menschen drei Kränkungen zugefügt habe: Erstens zeigte Kopernikus, dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Universums steht. Als zweites zeigte Darwin, dass die Menschen aus Tieren hervorgegangen sind. Und drittens argumentierte Freud, dass der Mensch nicht Herr seiner eigenen Handlungen sei, sondern stark vom Unterbewussten gelenkt wird.

Diese und andere ‚Kränkungen‘ der Menschheit werden oft als Widerlegung der christlich geprägten Sicht angeführt, dass der Mensch die ‚Krone der Schöpfung‘ sei. Der Begriff ‚Krone der Schöpfung‘ kommt in der Bibel zwar so nicht vor, doch wird die herausragende Stellung des Menschen in der Schöpfung an mehreren Stellen betont. Dies beginnt schon in der Schöpfungserzählung: „Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht. Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.“ (1. Mose 1,26+27). Dass der Mensch über die anderen Geschöpfe gesetzt ist, besagt auch der 8. Psalm (Verse 4-9): „Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan: Schafe und Rinder allzumal, dazu auch die wilden Tiere, die Vögel unter dem Himmel und die Fische im Meer und alles, was die Meere durchzieht.“

Wird diese biblische Sicht durch die drei genannten ‚Kränkungen‘ widerlegt? Betrachten wir sie der Reihe nach:

  1. Die Erde ist nicht der Mittelpunkt des Universums: Dass der Wechsel vom geozentrischen Weltbild zum heliozentrischen Weltbild den Menschen gekränkt hätte, stimmt historisch nicht. Im Gegenteil: Wie ich in meinem Blogbeitrag „Kopernikus, Galilei und die Bibel“ erzählt habe, wurde die Erde früher als der niedrigste, verdorbenste Ort angesehen, in dessen Zentrum sich die Hölle befindet. Die Erkenntnis, dass die Erde ebenso wie die anderen Planeten ein himmlisches Gestirn ist, das um die Sonne kreist, bedeutete also eine Erhöhung und nicht eine Degradierung der Erde. Die eigentliche kosmologische Kränkung erfolgte später, als die Menschen herausfanden, dass die Sonne nur einer von vielen Milliarden Sternen im Randbereich einer Galaxie ist, und dass diese wiederum nur eine von vielen Milliarden Galaxien ist. Doch aus der Position der Erde im Universum lässt sich ihre Bedeutung nicht direkt ableiten. Die wissenschaftlichen Entdeckungen lassen verschiedene Interpretationen zu. Statt die Erde und den Menschen als unwichtig und zufällig einzustufen, kann man darüber staunen, dass die riesige Größe des Universums und die physikalischen Gesetze genauso sind, dass es überhaupt eine Erde und Leben geben kann. Man spricht oft von der „Feinabstimmung der Naturkonstanten“, von der ich auch in einem der ersten Blogeinträge berichtet habe. Selbst für die Position der Erde in dem Außenbereich unserer Galaxie gibt es gute Gründe: Im Inneren der Galaxie ist die Dichte der Sterne viel höher, und es gibt dort viel mehr Strahlung, wie hier erklärt wird. Strahlung ist aber gefährlich für Lebewesen.

    Manche Christen machen sich Sorgen, dass es anderswo im Universum ebenfalls intelligentes Leben geben könnte, und dass dadurch die biblische Botschaft, dass Gott auf unserer Erde Mensch wurde, in Frage gestellt wird. Doch die Frage, welche Art von Geschichte Gott mit intelligenten Lebewesen anderswo im Universum schreibt, wenn es sie tatsächlich gibt, können wir getrost Gott überlassen. Ich fände es allerdings sehr spannend zu erfahren, was diese Lebewesen glauben, und ob sie auch die Erfahrung von Sünde und Erlösung kennen.

  2. Die Menschen haben tierische Vorfahren: Daraus wird oft gefolgert, dass wir Menschen „nur“ Tiere sind und keine besondere Rolle in der Schöpfung haben. Und weil der Evolutionsprozess häufig als blinder, zielloser Prozess interpretiert wird, folgert man daraus, dass wir Menschen ein Produkt des Zufalls sind, ungeplant und ungewollt. Doch dies ist nur eine mögliche Interpretation des wissenschaftlichen Befunds. Er lässt sich auch im Einklang der biblischen Darstellung interpretieren. Dass wir mit den Tieren verwandt sind, passt gut dazu, dass in der Schöpfungserzählung die Menschen genau wie die Landtiere am sechsten Schöpfungstag geschaffen wurden. Und genau wie diese wurden sie aus Erde geformt, also aus dem vorhandenen irdischen Material (vgl. in 1. Mose 2 die Verse 7 und 19). Dass wir Menschen eine lange Entwicklungsgeschichte haben, ändert nichts daran, dass wir uns auf vielfältige Art von Tieren unterscheiden, wie man durch unmittelbare Beobachtung feststellen kann: Mit unserer Befähigung zu Sprache und Kunst, Wissenschaft und Religion sind wir einmalig unter den Lebewesen. Die Formulierung der Bibel, dass wir „Gottes Ebenbild“ sind, spiegelt dies wider. (Über die verschiedenen Interpretationen von „Gottes Ebenbild“ habe ich im Februar 2021 geschrieben.) Diese Fähigkeiten als ‚Zufälle‘ abzutun oder als rein materielle Phänomene, wird ihnen meines Erachtens nicht gerecht.

    Die Entdeckung, dass wir Menschen tierische Vorfahren haben, weist auch auf unsere enge Verbundenheit mit dem Rest der Schöpfung hin. Wir sind von der ganzen Schöpfung abhängig, und wenn wir sie zerstören, zerstören wir auch unsere Lebensgrundlage. Diese Verbundenheit kommt schon in der Bibel zum Ausdruck. Im Alten Testament wird mehrfach darauf hingewiesen, dass Gott seine ganze Schöpfung wichtig ist und er sich an allen Lebewesen freut. Man denke an die Bestimmungen im mosaischen Gesetz, dass man seine Tiere gut behandeln soll, oder an den Psalm 104, in dem Gott alle seine Geschöpfe versorgt und sogar mit ihnen ‚spielt‘ (Vers 26). Wenn die Menschen die Schöpfung in der Vergangenheit unterdrückt und ausgebeutet haben, haben sie also gegen Gottes Anweisungen gehandelt, selbst wenn sie dabei die Bibel zitiert haben.

  3. Wir sind nicht Herr über unsere Handlungen: Wer diese Aussage so interpretiert, dass unser Verhalten vollständig durch von uns nicht kontrollierbare Einflüsse bestimmt wird, macht eine unzulässige Vereinfachung. Wenn es so wäre, wären auch diese Überlegung durch unkontrollierbare Einflüsse determiniert, und man könnte ihr keinen Wahrheitsgehalt zuschreiben. Unserer gesamten Rechtsprechung, die den Menschen ein gewisses Maß an Schuldfähigkeit und Verantwortung für ihre Handlungen zuschreibt, wäre die Grundlage entzogen. Auch unsere Erfahrung, dass wir handelnde Wesen sind, würde verleugnet werden. Gleichzeitig gilt aber auch, dass wir weniger frei sind, als wir oft meinen. Unsere Veranlagungen, aber auch unsere Prägung durch Erziehung und Gesellschaft beeinflussen unsere Entscheidungen stark. Wiederholt getroffene Entscheidungen widerum werden zu festen Gewohnheiten, die wir nicht mehr so einfach ändern können. Die Bibel ist sehr realistisch, wenn es um die Grenzen unserer Entscheidungsfreiheit geht: Sie spricht von der Sündhaftigkeit des Menschen, aus der er aus eigener Kraft nicht herauskommen kann. Die Veranlagung zur Sünde ist tief in der Menschheitsgeschichte verankert, vgl. auch den Blogbeitrag zum Sündenfall. Die zentrale Botschaft der Bibel von der Erlösung durch Jesus knüpft genau an dieses Gebundensein des Menschen an.

All diese Überlegungen zeigen, dass die drei ‚Kränkungen‘ der Menschheit eigentlich nur dort Anstoß erregen, wo Menschen sich selbst überschätzen und zu etwas machen möchten, was sie nicht sind. Wenn man die wissenschaftlichen Erkenntnisse differenziert betrachtet, helfen sie uns, unsere Stellung in der Schöpfung realistisch einzuschätzen. Dann stehen diese Erkenntnisse nicht im Widerspruch zum christlichen Menschenbild, sondern verleihen ihm mehr Profil. Das Zusammenspiel guter wissenschaftlicher Arbeit mit einem christlich geprägten Menschenbild hilft dabei, sowohl einseitige Bewertungen der wissenschaftlichen Erkenntnisse, als auch einseitige Bibelauslegungen zu korrigieren.

Hinweise: Über den Auftrag des Menschen, mit der Schöpfung verantwortungsvoll umzugehen, habe ich auch im Blogbeitrag „Fromme Einwände gegen den Klimawandel“ geschrieben. Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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