Die Evolution der Evolutionstheorie

Der Begriff „Evolution“ wird mit verschiedenen Bedeutungen verwendet, die leider oft durcheinander gebracht werden. Nach Michael Ruse1 sollte man drei Bedeutungen dieses Begriffs klar voneinander trennen. Die erste Bedeutung ist die „Tatsache Evolution“, nämlich dass alle biologischen Spezies über einen gemeinsamen Stammbaum miteinander verwandt sind. Die zweite Bedeutung ist die „Evolutionstheorie“, die sich mit den Prozessen und Mechanismen befasst, die hinter der Entwicklung der Arten stehen. Die dritte Bedeutung schließlich ist der „Evolutionismus“, also eine naturalistische Weltanschauung, die behauptet, dass die wissenschaftliche Beschreibung eine vollständige Beschreibung der Welt liefert und dass es keine darüber hinaus gehende Realität gibt. Diese Weltanschauung steht natürlich im Gegensatz zum christlichen Glauben, dass Gott die sichtbare Welt geschaffen hat. 

Die „Tatsache Evolution“ ist durch die Fossilien, die Biogeographie (d.h. die Verteilung der Arten über die Erde), die vergleichende Anatomie, und insbesondere durch die Molekulargenetik so vielfältig belegt, dass sie unter fachkundigen Wissenschaftlern praktisch universell akzeptiert ist. Der ehemalige Leiter des Genomprojekts, Francis Collins, erzählt in seinem Buch „Gott und die Gene“ 2 von den zahlreichen Spuren, die die Entwicklungsgeschichte der Menschen in ihrem Erbgut hinterlassen hat und die ihn davon überzeugen, dass der Mensch gemeinsame Vorfahren mit dem Schimpansen und auch mit der Maus hat. Ich habe in einem früheren Blogbeitrag darüber berichtet.

Die Evolutionstheorie befasst sich mit den Mechanismen, die hinter dem Evolutionsprozess stehen. Diese werden nach und nach immer besser erkannt. Deshalb hat die Evolutionstheorie seit Darwins Zeiten viele neue Forschungsergebnisse aufgenommen und sich beständig weiterentwickelt. Vor längerer Zeit hörte ich einen Vortrag von Massimo Pigliucci über die Geschichte und den Stand der Evolutionstheorie, dessen wesentliche Punkte ich im Folgenden zusammenfasse. Details kann man in einem von Pigliucci herausgegebenen Buch nachlesen, das die modernen Entwicklungen der Evolutionstheorie ausführlich darlegt.3

Massimo Pigliucci vergab in seinem Vortrag für die verschiedenen Entwicklungsstufen der Evolutionstheorie zur Veranschaulichung Versionsnummern, wie man sie Computerprogrammen gibt. Version 1.0 der Evolutionstheorie ist der Darwinismus, also Darwins ursprüngliche Theorie, die die natürliche Selektion als die treibende Kraft von Evolution betrachtet. 

Version 1.1 ist der Neodarwinismus, der auf Wallace und Weissman zurückgeht und die Idee der Vererbung erworbener Eigenschaften (Lamarckismus) ablehnt, da Vererbung nur über die Keimbahn, also über Ei- und Samenzellen geschieht. Version 2.0 geht auf Fisher, Haldane und Wright zurück, die ab den 1920er Jahren die mendelschen Vererbungsgesetze mit einer mathematisch-statistischen Formulierung von Evolutionsprozessen verbanden. Die von ihnen begonnene moderne Synthese von Genetik und Evolution fand ihre Vollendung (Version 2.1) durch die Arbeiten von Dobshanski, Huxley, Mayr, Simpson, Stebbins, u.a., die in die Theorie weitere Bausteine intergrierten, nämlich die natürliche Variabilität von Populationen, den Prozess der Speziesbildung und die verschiedenen Paarungssysteme. 

Heute entwickelt sich laut Pigliucci die Evolutionstheorie zu einer Version 3.0, die als erweiterte moderne Synthese die aktuellen Forschungsergebnisse zur Evolution integriert. Hier ist zunächst die Verbindung der Evolutionsbiologie mit der Entwicklungsbiologie zu nennen („Evo-Devo“). Man ist heute der Auffassung, dass wichtige evolutionäre Veränderungen durch solche Mutationen bewirkt wurden, die die Embryonalentwicklung modifiziert haben. Die Embryonalentwicklung baut aus dem „Genotyp“ (dem Erbgut) den „Phänotyp“ (den Organismus mit seinem Aussehen und seinem Verhalten). Während Mutationen den Genotyp verändern, wirkt die Selektion auf den Phänotyp. Der Zusammenhang zwischen Genotyp und Phänotyp ist extrem komplex. Man kann dies sogar schon an einer einzelnen Zelle sehen, deren faszinierendes Netzwerk von ineinander greifenden Signalkaskaden, Stoffwechselvorgängen und Genregulationsmechanismen von der Systembiologie bisher erst ansatzweise verstanden ist. Ein besseres Verständnis des Zusammenhangs zwischen dem Erbgut und der Entwicklung und Funktionsweise eines Organismus ist unabdingbar für ein besseres Verständnis von evolutionären Abläufen. Dieser Zusammenhang wird durch die phänotypische Plastizität noch zusätzlich verkompliziert, also dadurch, dass genetisch identische Organismen je nach Umweltbedingungen während ihrer Entwicklung einen verschiedenen Phänotyp ausbilden und somit an mehrere Umweltsituationen angepasst sein können. Ein Beispiel sind Pflanzen, die, wenn sie im Wasser stehen, andere Blätter ausbilden, als wenn sie im Trockenen stehen. 

Ein weiterer wichtiger Baustein der Version 3.0 ist die Erkenntnis, dass Fitnesslandschaften zusammenhängende Bereiche hoher Fitness haben. Eine Fitnesslandschaft ist eine Veranschaulichung dafür, wie die Fitness eines Organismus, also seiner Fähigkeit zu überleben und Nachkommen zu produzieren, mit seinem Genotyp zusammenhängt. Diese Landschaft ist hochdimensional und hat deshalb viele Plateaus und Grate. Das bedeutet, dass es viele mögliche Mutationen gibt, die die Fitness gar nicht erniedrigen, sondern ungefähr gleich lassen. Die Individuen einer Spezies können also durch Mutationen genetisch immer verschiedener werden und dabei trotzdem alle an ihre Umwelt angepasst sein. Wenn sich dann die Umwelt verändert, ändert sich allerdings auch die Fitness, und die verschiedenen Individuen kommen verschieden gut mit der neuen Situation zurecht. Dabei ist die Chance hoch, dass unter diesen Individuen auch welche zu finden sind, die schon an die neuen Umweltbedingungen angepasst sind. 

Ebenfalls wichtig in der Version 3.0 sind die verschiedenen Selektionsebenen. Lange Zeit herrschte die Auffassung, dass die Selektion im Wesentlichen auf Individuen wirkt, die besser oder schlechter an ihre Umgebung angepasst sein können. Inzwischen gibt es aber immer mehr Belege dafür, dass die Gruppe, in der sich das Individuum befindet, oft einen mindestens genauso starken Einfluss auf das Überleben hat. Dies bedeutet, dass in vielen Fällen die Gruppe als Ganzes der Selektion unterworfen ist. Diese Überlegung lässt sich zu höheren Hierarchieebenen fortsetzen. Letztlich spielt das gesamte Ökosystem eine entscheidende Rolle für das Überleben von Organismen. 

Zur Version 3.0 gehören noch zwei weitere Effekte. Der eine ist die „Nischenkonstruktion“: Ein Organismus ist nicht unbedingt darauf angewiesen, die für ihn passende Nische in der Umwelt zu finden. Er kann sich seine Nische gestalten. Biber bauen Dämme, Bienen regulieren die Temperatur in ihrem Nest, und Regenwürmer verändern den Erdboden so, dass er Wasser besser aufnimmt. Ein Meister in der Nischenkonstruktion ist der Mensch, der es sich in allen Klimazonen auf der Erde wohnlich eingerichtet hat und dort ziemlich unabhängig von seiner genetischen Konstitution überleben kann. Der zweite Effekt ist die Weitergabe von nichtgenetischer Information an die nächste Generation. Hier ist zunächst die Epigenetik zu nennen, also die vielen Markierungen, die an der DNA angebracht sind, und die Art und Weise, wie die DNA im Zellkern zusammengepackt wird. Beides hat starken Einfluss darauf, welche Gene in welchem Maß aktiv sind. Auch viele erlernte Verhaltensweisen werden an die nächste Generation weitergegeben, wie z.B. Jagdstrategien oder das Verwenden von Werkzeugen. Schließlich ist noch das große Gebiet der Selbstorganisations- und Komplexitätstheorie zu nennen. Viele Muster oder Strukturen bilden sich automatisch aus, wenn gewisse Bausteine zusammenkommen, während andere Strukturen aus denselben Gründen unmöglich sind. Dies bedeutet, dass es hier nichts zu tun gibt für die Selektion, da höhere Gesetze bestimmen, was passiert.

Die Schlussfolgerung aus all diesen Erkenntnissen ist, dass natürliche Selektion längst nicht so wichtig ist, wie man lange Zeit geglaubt hat, da die eben aufgezählten Effekte ebenfalls eine bedeutende Rolle spielen. Die Evolutionstheorie wird dadurch komplizierter, und sie wird befreit von einigen negativen Etiketten wie „Kampf aller ums Überleben“, „beständiges Aussieben des Untauglichen“, „Recht des Stärkeren“. Leider begegnet man trotz dieser aufregenden Entwicklungen immer wieder der Auffassung, dass der Evolutionsprozess eigentlich schon vollständig verstanden sei und dass durch zufällige Mutationen und damit einhergehende Selektion alles erklärt werden könne. Doch die Prozesse, die die Entwicklung des Lebens auf der Erde steuern, sind keineswegs so einfach und dumm, wie man uns manchmal glauben machen möchte. Die Forschung der nächsten Jahrzehnte wird noch zeigen, wie ausgeklügelt und großartig der Evolutionsprozess angelegt ist.

Hinweise:

Der Text dieses Blogbeitrags erschien in ähnlicher Form in meinem Artikel „Die Rolle des Zufalls in der Evolution aus Sicht einer Physikerin“, der 2010 im Jahrbuch „Glaube und Denken“ der Karl-Heim-Gesellschaft, Jhg. 23, veröffentlicht wurde.

Obwohl der „Neodarwinismus“ schon seit fast 100 Jahren überholt ist (er war ja die Version 1.1), wird der Begriff auch heute häufig für die Evolutionstheorie verwendet, wie man z.B. in meinem Blogbeitrag zum Leserbrief des Kardinals Schönborn sieht. Ich denke, das liegt daran, dass viele die Weiterentwicklungen der letzten 100 Jahre nur noch als Randnotizen oder Detailarbeit ansehen und meinen, dass im Wesentlichen Mutation und Selektion alles erklären.

Den Unterschied zwischen der „Tatsache“ Evolution und der „Theorie“ der Evolution habe ich durch den Vergleich mit dem Thema „Kontinentaldrift“ im Februar 2021 versucht zu veranschaulichen.

Zwei Monate später habe ich über ein für die Weiterentwicklung der Evolutionstheorie besonders interessantes Thema berichtet, nämlich dass biologische Zellen in Reaktion auf Herausforderungen ihr Erbgut selbst verändern können. Vielleicht bezieht ja eine zukünftige Version 4.0. das kreative Potenzial lebendiger Organismen ein?

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

1 Michael Ruse, The Evolution-Creation Struggle, Harvard University Press 2005.

2 Francis S. Collins, Gott und die Gene: Ein Naturwissenschaftler begründet seinen Glauben. Gütersloher Verlagshaus, 2007. Das englische Original erschien unter dem Titel „The Language of God“ (Free Press, 2007).

3 Evolution-The Extended Synthesis. M. Pigliucci und G.B. Müller (Hrg), MIT Press (2010).


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