Die gentechnischen Werkzeuge unserer Zellen

Es ist faszinierend zu sehen, mit wie vielen molekularen Werkzeugen das Leben ausgestattet ist, die ihm ermöglichen, sein Erbgut zu verändern, zu schützen oder nach einem Schaden wiederherzustellen. Im Blogbeitrag der letzten Woche habe ich erzählt, wie Barbara McClintock entdeckte, dass durch Bestrahlung auseinandergebrochene DNA wieder zusammengefügt wird. In den vergangenen Jahren hatte ich das Vorrecht, mit Kollegen aus der Biologie zusammenzuarbeiten, die erforschen, wie Zellen auf einen Strahlenschaden reagieren. Inzwischen kennt man die molekularen Prozesse, die dabei ablaufen, recht gut. Die losen Enden der DNA werden markiert, vor Abbau geschützt, zurechtgeschnitten, zusammengebracht und miteinander verbunden. In einer späteren Phase kann die Zellen noch die beim Zusammenfügen entstandenen kleinen Veränderungen gegenüber der ursprünglichen DNA korrigieren, indem aus einem Partnerchromosom die entsprechende Stelle als Vorlage verwendet wird. 

Hierbei laufen ähnliche Prozesse ab wie beim Crossover, der bei der Erzeugung von Ei- und Samenzellen stattfinden und der zwei einander entsprechende elterliche Chromosomen zu zwei gemischten Chromosomen kombiniert. In beiden Fällen muss DNA aufgeschnitten und neu zusammengefügt werden. Auch bei Transpositionen, also der Bewegung von „Springenden Genen“ auf der DNA, kommen die Schneide- und Zusammenfügwerkzeuge zum Einsatz, denn es muss ja ein DNA-Abschnitt an anderer Stelle eingefügt werden. (Über die Entdeckung von Crossover und Transpositionen wurde ebenfalls im letzten Blogbeitrag berichtet.) 

Neben den erwähnten drei Sorten von genetischen Veränderungen gibt es viele weitere, z.B. Verdoppelung des gesamten Erbguts oder eines größeren Teils des Erbguts oder einzelner Gene, Löschung von DNA-Abschnitten, Umstellung oder Ändern der Orientierung eines DNA-Abschnitts, Integrieren von aus der Umgebung aufgenommener DNA ins Erbgut, etc. Für all diese Änderungen benötigt die Zelle ebenfalls Werkzeuge, mit denen sie DNA schneiden, vervielfältigen und zusammenfügen kann.

Der an der Universität Chicago forschende Mikrobiologe James Shapiro, der auf die Genetik von Bakterien spezialisiert ist, betont die Bedeutung dieser Entdeckungen für die Evolution. Wenn die Zelle all diese Werkzeuge hat, ihr Erbgut zu verändern, ist davon auszugehen, dass sie diese Werkzeuge bei Bedarf einsetzt, nicht nur für Reparatur und Crossover, sondern auch in vielen anderen Situationen. Die weit verbreitet Vorstellung, dass viele der genannten Veränderungen nur zufällig, „aus Versehen“ oder durch unkontrollierbaren äußeren Einfluss passieren, ist für Shapiro nicht plausibel. Es ist offensichtlich, dass ein kontrolliertes Benutzen der Werkzeuge bei Stress und veränderten Umweltbedingungen sehr nützlich wäre. Dann könnten solche Veränderungen am Erbgut und der Genregulation vorgenommen, die die Chance erhöhen, dass der Organismus mit der Herausforderung fertig wird. Im vorigen Blogbeitrag habe ich schon berichtet, dass in Stresszeiten Transposons aktiviert werden, die dafür sorgen, dass manche Gene anders reguliert werden. Die Stelle, an die ein Transposon eingefügt wird, ist keineswegs willkürlich, sondern es gibt Bereiche auf der DNA, wo diese Einfügungen häufiger passieren. Dabei werden zwar nicht gezielt nur diejenigen Veränderungen gemacht, die das zu bewältigende Problem lösen, aber offenbar eine passende Sorte von Veränderungen, die die Chance einer Problemlösung erhöhen.

Diese Erkenntnisse verändern grundlegend das Bild vom Genom (also unserer gesamten DNA). Während man früher dachte, dass das Genom eine Art Datenspeicher ist, aus dem die genetische Information nur ausgelesen wird und in dem ab und zu zufällige Mutationen passieren, muss man es nun als Schreib-Lese-Speicher verstehen, der auf vielfältige Art durch die Zelle aktiv verändert wird. Shapiro spricht von „natürlicher Gentechnik“ (natural genetic engineering). In der Onlinezeitung „Huffington Post“ findet man eine Serie von an die Allgemeinheit adressierten Blogs, die er zu dem Thema verfasst hat. Ein gleichzeitig faszinierendes und erschreckendes Beispiel für diese natürliche Gentechnik ist die schnelle Verbreitung von Antibiotikaresistenz unter Bakterien, von der Shapiro hier schreibt. Diejenigen Gene, die für die Resistenz gegen ein Antibiotikum zuständig sind, werden auf einem sogenannten Plasmid gelagert und nicht auf dem ringförmigen Chromoson, auf dem die meiste Erbinformation der Bakterien sitzt. Ein Plasmid ist ein kleiner DNA-Ring, der nur wenige Gene enthält. Der Transfer vom Chromosom auf das Plasmid geschieht mit Hilfe von – Sie ahnen es – Transposons. Plasmide können unabhängig vom Hauptchromosom vervielfältigt werden, und sie können an andere Bakterien weitergegeben werden. Nicht nur an Bakterien derselben Spezies, sondern auch an andere Spezies. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, haben Bakterien „Genkassetten“ (auch Integrons genannt), in die weitere Gene für die Resistenz gegen Antibiotika eingefügt werden. So werden schließlich alle Resistenzgene auf demselben Plasmid gesammelt, vervielfältigt und als Gesamtpaket weitergegeben. Auf diese Weise entstehen multiresistente Erreger in Umgebungen, in denen viele Antibiotika verwendet werden, z.B. in Krankenhäusern. Da das Erhalten und Vervielfältigen von Plasmiden zusätzliche Energie kostet, gehen Plasmide allmählich wieder verloren, wenn sie nicht gebraucht werden. Nur einzelne Bakterien behalten sie dann noch.

Shapiro hat bei der Huffington Post noch mehr Blogs geschrieben, die allesamt lesenswert sind und über seine o.g. Webseite gefunden werden können. Der Blog zu natürlicher Gentechnik beschreibt sehr gut Shapiros Gesamtsicht. Ich übernehme im Folgenden Teile daraus und übersetze sie:

Natürliche Gentechnik umfasst einen Werkzeugkasten, der eine fast unendliche Vielfalt von DNA-Sequenzen erzeugen kann, ähnlich wie bei LEGO oder Computerprogrammen. Die Aktivitäten dieser Werkzeuge sind nicht zufällig. Jeder beteiligte biochemische Prozess führt zu einer charakteristischen Sorte von Resultaten. Manchmal sind diese Resultate genau festgelegt, wie beim Vervielfältigen des Erbguts bei der Zellteilung, aber meist sind sie es nicht. Das sehen wir an den zielgerichteten Prozessen in unserem Immunsystem, die eine Fülle verschiedener Antikörper erzeugen. Die natürliche Gentechnik spielt eine wichtige Rolle bei evolutionären Neuerungen, wie wir an den vielfältigen Spuren erkennen, die sie durch ihre Aktivitäten im Erbgut der Lebewesen hinterlassen haben. Einige Werkzeuge der natürlichen Gentechnik helfen uns zu verstehen, wie schnelle evolutionäre Änderungen passieren können. Zu ihnen gehört die Erzeugung neuer Proteine durch die Kombination verschiedener Domänen anderer Proteine und das Kopieren von Genregulationsabschnitten an mehrere Stellen im Genom. Wie alles in der Biochemie werden diese Aktivitäten von der Zelle reguliert (d.h. sie werden in Antwort auf eingehende Signale an- und ausgeschaltet) und auf bestimmte Stellen im Genom fokussiert. Erstaunlich viele Stressfaktoren aktivieren Werkzeuge, die das Genom verändern. Diese Entdeckungen werfen wichtige Fragen auf: Wie merken die Zellen, welche Sorte von Änderung in einer gegebenen Situation nützlich sein könnte? Gibt es eine Rückkoppelung zwischen dem, was die Zelle aus ihrer Umwelt wahrnimmt und den Veränderungen, die am Erbgut durchgeführt werden? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der biologischen Herausforderung und dem Ergebnis der genetischen Veränderung? Zellen können ihre Stoffwechselaktivitäten so anpassen, dass sie besser überleben, wachsen und sich vermehren. Können sie auch ihre genetischen Veränderungen entsprechend anpassen? Wir müssen überlegen, mit welchen Experimenten man so etwas testen kann. Bisher wissen wir noch nicht einmal, ob Kolibakterien jeweils eine andere Sorte von Veränderungen ihrer DNA machen, wenn sie einen Mangel an Kohlenhydraten erleben und wenn sie einen Mangel an Aminosäuren erleben. Und wenn es so ist, stellt sich die Frage, welche Art von Berechnungen Zellen hierbei anstellen. Dies führt uns in das Gebiet der Kybernetik…

Diese Vermutung, dass Zellen einzeln oder im Kollektiv „Berechnungen“ anstellen, wenn sie molekulare und andere Signale und Informationen aus der Außenwelt empfangen und ihre Antwort darauf geben, habe ich auch schon von anderen prominenten Wissenschaftlern gehört. Die biochemischen Abläufe in und zwischen Zellen stellen komplexe Netzwerke dar, deren Funktionsweise wir bisher erst in Ansätzen verstehen. Ich finde den Gedanken faszinierend, dass Gott das Leben mit kreativen Fähigkeiten ausgestattet hat, so dass es sich verändern und anpassen kann und auch Neuerungen entwickeln kann. Dabei spielt neben den schon erwähnten Dingen vieles weitere eine Rolle, was bisher gar nicht erwähnt wurde, z.B. die Epigenetik. Doch das ist Stoff für einen anderen Beitrag.

Zum Schluss möchte ich noch auf „Kopierfehler“ eingehen, die beim Vervielfältigen der DNA passieren können und die bekannteste Art von Mutationen sind. Meist bestehen diese Kopierfehler darin, dass ein falscher DNA-Baustein eingesetzt wird. Man nennt eine solche Mutation „Punktmutation“, da sie jeweils nur einen Baustein im Erbgut betreffen. Doch selbst diese Punktmutationen entgehen nicht den Kontrollmöglichkeiten der Zelle. Es gibt verschiedene Korrekturlesewerkzeuge, die dafür sorgen, dass die meisten Kopierfehler ausgebessert werden. Außerdem ist die Fehlerhäufigkeit in unterschiedlichen Abschnitten der DNA verschieden und auch unter verschiedenen äußeren Bedingungen verschieden. Shapiro und andere interpretieren das so, dass der Organismus die Häufigkeit von Mutationen, die beim Kopieren passieren, kontrollieren kann. Dabei ist es durchaus nützlich, ein gewisses kleines Ausmaß an Punktmutationen zuzulassen. Punktmutationen spielen eine wichtige Rolle bei der Anpassung von Proteinen an veränderte Bedingungen. Auch wenn Bakterien Antibiotikarestistenz entwickeln, geschieht dies zunächst durch Punktmutationen, bevor dann die oben erwähnten Mechanismen einsetzen, um die Resistenzgene auf Plasmide zu transferieren und an andere Bakterien weiterzugeben.

Trotz allem, was wir schon herausfinden durften, steckt die Erforschung der komplexen Abläufe in biologischen Zellen noch in den Kinderschuhen. Ich bin sehr gespannt darauf, was wir alles noch herausfinden werden. Gewiss wird es unseren Blick auf das Leben und auf Evolution gründlich verändern!

Literaturhinweis: Auf der o.g. Webseite von James Shapiro findet man viele interessante Artikel und Informationen, incl. einem Link zu den meisten Kapiteln aus seinem Buch „Evolution: A View from the 21st Century“. Ein sehr guter Übersichtsartikel ist „How life changes itself: The Read-Write (RW) genome“.

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