Der Gastkommentar von Kardinal Schönborn

Am 7.7.2005 veröffentlichte die New York Times einen Gastkommentar des Wiener Kardinals Schönborn mit dem Titel „Finding Design in Nature“ („Den Plan in der Natur entdecken“), der einen Sturm an Reaktionen auslöste. In diversen Medienreaktionen wurde Schönborn beschimpft als „Kreationist“, „Fundamentalist“ oder als jemand, der hinter die Aufklärung zurückgehen will. Was sind die Aussagen des Kardinals, die derartige Vorwürfe ausgelöst haben?

Sein Artikel, den man z.B. hier in deutscher Übersetzung nachlesen kann, beginnt mit den Worten:

Seit Papst Johannes Paul II. 1996 erklärt hat, dass die Evolution (ein Begriff, den er nicht definierte) „mehr“ sei als nur eine „Hypothese“, haben die Verteidiger des neo-darwinistischen Dogmas eine angebliche Akzeptanz oder Zustimmung der römisch-katholischen Kirche ins Treffen geführt, wenn sie ihre Theorie als mit dem christlichen Glauben in gewisser Weise vereinbar darstellen. Aber das stimmt nicht. Die katholische Kirche überlässt der Wissenschaft viele Details über die Geschichte des Lebens auf der Erde, aber sie verkündet zugleich, dass der menschliche Verstand im Licht der Vernunft leicht und klar Ziel und Plan in der natürlichen Welt, einschließlich der Welt des Lebendigen, erkennen kann. Evolution im Sinne von gemeinsamer Abstammung mag wahr sein, aber Evolution im neodarwinistischen Sinne - ein ungesteuerter, ungeplanter Prozess von zufälliger Variation und natürlicher Selektion - ist es nicht. Jedes Denksystem, das die überwältigenden Beweise für Design in der Biologie leugnet oder wegzuerklären versucht, ist Ideologie, nicht Wissenschaft.

Das Fazit am Ende des Kommentars lautet:

Wissenschaftliche Theorien, die den Versuch machen, das Aufscheinen des Plans als ein Ergebnis von „Zufall und Notwendigkeit“ wegzuerklären, sind nicht wissenschaftlich, sondern – wie Johannes Paul II. festgestellt hat – eine Abdankung der menschlichen Vernunft.

Als ich den Kommentar damals las, war meine Reaktion weitgehend zustimmend. Das hatte zwei Gründe. Zum einen teile ich seine Kritik daran, dass Evolution häufig atheistisch verstanden wird. Sie wird nämlich oft als blinder, ungeplanter Zufallsprozess beschrieben. Doch dies ist keine wissenschaftliche Aussage, sondern eine weltanschauliche Interpretation. Wer Evolution als „blind“ und „ungeplant“ bezeichnet, behauptet, dass kein Gott hinter der Entwicklung des Lebens steht, und das ist eine weltanschauliche Aussage. Zum anderen teile ich auch seine Kritik an der weitverbreiteten neodarwinistischen Version der Evolutionstheorie, die als Mechanismen hinter dem Evolutionsprozess nur zufällige Mutationen und natürliche Selektion sieht. Aus meiner Sicht bleiben viele spannende wissenschaftliche Fragen dabei unbeantwortet: Wovon hängt es ab, dass es einen möglichen Entwicklungspfad von den ersten Zellen bis hin zu Säugetieren gibt? Woher kommt es, dass ähnliche „Erfindungen“ im Laufe der Evolution immer wieder gemacht wurden? Der Paläontologe Simon Conway Morris spricht von tieferen Gesetzen, denen die Entwicklung des Lebens folgt und die wir noch nicht gut verstehen.

Dass von atheistischer Seite scharfe Kritik an dem Kommentar des Kardinals kam, überrascht nicht. Wer Evolution zu einer Weltanschauung gemacht hat, die eine universelle Erklärung für alles Existierende ist, wehrt sich gegen den Hinweis darauf, dass Gott etwas mit der Entwicklung des Lebens auf der Erde zu tun haben könnte. Ein Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum ist das folgende Zitat von Frank Wuketits, das man in diesem Aufsatz findet: „Der Biologe erkennt, dass es keine Absichten und keinen Sinn in der Natur gibt und dass der Glaube an Gott bloß einem elementaren menschlichen Bedürfnis nach Sinn entsprungen ist.

Doch Schönborn erfuhr auch viel Kritik aus kirchlichen Kreisen. Der damalige Leiter des Vatikan-Observatoriums, George Coyne, sagte in einer Rede, dass Schönborn seines Erachtens in fünf Punkten irrt:

(1) Die Evolutionstheorie ist wie alle Theorien der Naturwissenschaft in Bezug auf religiöse Fragen völlig neutral; (2) die Botschaft von Johannes Paul II, die der Kardinal als „eher unbestimmt und weniger bedeutend“ bezeichnet, ist eine grundlegende Lehre der Kirche, die die Debatte über Evolution deutlich voranbringt; (3) Neodarwinistische Evolution ist nicht, wie der Kardinal behauptet, „ein ungerichteter, ungeplanter Prozess aus zufälliger Variation und natürlicher Selektion“; (4) die scheinbare Zielgerichtetheit, die die Wissenschaft im Evolutionsprozess wahrnimmt, erfordert keinen Designer; (5) Intelligent Design ist keine Wissenschaft, trotz der Behauptung des Kardinals, dass „Neodarwinismus und die Multiversenhypothese der Kosmologie erfunden wurden, um die überwältigenden Belege für Plan und Design, die die moderne Wissenschaft entdeckt, wegzuerklären“.

Auch der Physiker und Präsident der Gesellschaft katholischer Wissenschaftler, Stephen Barr, wirft Schönborn vor, Wissenschaft und Theologie in seinem Text zu vermischen. Denn er erwähnt Neodarwinismus mal im Sinne einer wissenschaftlichen Theorie (was er auch ist) und mal im Sinne einer Weltanschauung:

Mit seiner Aussage, dass „Neodarwinismus“ mit „Evolution“ synonym ist [...], verwendet er diesen Begriff so wie er allgemein unter Wissenschaftlern verstanden wird. Also beruht Neodarwinismus auf der Idee, dass die Hauptquelle des Evolutionsprozesses natürliche Selektion ist, die auf zufällige genetische Variationen wirkt. An anderer Stelle in seinen Artikel gibt der Kardinal aber eine andere Definition: „Evolution im neodarwinistischen Sinn ist ein ungesteuerter, ungeplanter Prozess von zufälliger Variation und natürlicher Selektion“. Dies ist der Hauptfehler in dem Artikel von Kardinal Schönborn. Er hat in die Definition von Neodarwinismus, einer wissenschaftlichen Theorie, die Begriffe „ungesteuert“ und „ungeplant“ eingeschleust, die mit theologischer Bedeutung geladen sind.

[…] Selbst innerhalb eines neodarwinistischen Rahmens gibt es viele Möglichkeiten, die Evidenz der „Zielgerichtetheit“ zu sehen, von der Johannes Paul II spricht. Dass ein Entwicklungsprozess möglich ist, der die wunderbar komplexen Formen hervorbringt, die wir beobachten, setzt ein Universum voraus, dessen Struktur, Materie, Prozesse und Gesetze einen speziellen Charakter haben.

Kardinal Schönborn reagierte auf die Kritik und meinte in einem späteren Vortrag, dass manches in seinem Kommentar missverständlich war: Er sagte „Ich gebe zu, er war etwas holzschnittartig und hätte noch einiger Differenzierungen bedurft.“ Diese Differenzierung holte er nach und erklärte dabei auch die Unterschiede zwischen seiner Auffassung und Kreationismus und Intelligent Design. Zum Kreationismus sagt er „die Idee der Erschaffung fertiger einzelner Wesen oder Arten ist absurd. Sie ist so unhaltbar wie die kreationistischen Thesen von einer Erschaffung der Welt in sechs 24-Stunden-Tagen, wie die pseudowissenschaftlichen Spekulationen über eine 'junge' Erde, über eine historische Deutung der Sintflut, etc.“ In Bezug auf Intelligent Design äußert Schönborn: „Genau hier liegt m.E. der Fehler der ‘Intelligent-Design’-Schule (mit der ich zu Unrecht immer noch in Verbindung gebracht werde). Der Versuch dieser Schule, hohe Komplexität in der Natur als Aufweis oder Beweis für ein ‘intelligent design’ zu bewerten, krankt an dem fundamentalen Denkfehler, dass ‘design’, Plan, Zielgerichtetheit nicht auf der Ebene der Kausalität gefunden werden kann, mit der sich die naturwissenschaftliche Methode befasst.“ Dies alles kann man in mehr Detail in einem Blogbeitrag von Heinz-Hermann Peitz im Forum Grenzfragen nachlesen, der auch einen Link zu Schönborns Vortrag enthält.

Soweit ich es sehen kann, bleiben nach dieser Klarstellung zwei Unterschiede zwischen der Auffassung Schönborns und der von Coyne und Barr übrig: Coyne und Barr scheinen mit der Evolutionstheorie in ihrer momentanen (neodarwinistischen) Form halbwegs zufrieden zu sein, Schönborn ist es nicht. Alle drei sind sich einig darin, dass es keinen logischen Widerspruch zwischen der neodarwinistischen Theorie (als wissenschaftlicher Theorie) und Gottes Schöpfungshandeln gibt, da beide auf verschiedenen Erklärungsebenen liegen. In meinem Blogbeitrag „Zufall und Notwendigkeit“ habe ich ähnlich argumentiert. Doch ebenso wie Schönborn scheinen mir zufällige Mutation und natürliche Selektion als wissenschaftliche Erklärung völlig unzureichend. Hier unterscheide ich mich von einigen anderen christlichen Wissenschaftlern, die ebenso wie Barr und Coyne mit der bestehenden Evolutionstheorie keine Probleme zu haben scheinen.

Der zweite Unterschied zwischen Coyne und Barr auf der einen und Schönborn auf der anderen Seite scheint mir zu sein, dass Barr und Coyne wissenschaftliche Theorien nicht theologisch kommentieren wollen, während Schönborn deutlich sagt, dass die Erkenntnisse der Naturwissenschaft auf den Schöpfer hinweisen. Mir ist Schönborns Haltung sympathisch, auch wenn ich mich dabei zurückhaltender ausdrücken und nicht von einer „Abdankung der Vernunft“ sprechen möchte, wenn jemand abstreitet, dass der Anschein von Zweck und Plan in der Natur ein Hinweis auf Gott ist.

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