Alfred Wegener, die Kontinentaldrift und eine wichtige Schlussfolgerung

Es dauerte manchmal viele Jahre, bis sich eine neue wissenschaftliche Erkenntnis durchsetzte. Ich habe im Blogbeitrag vom 26.9.2020 („Kopernikus, Galilei und die Bibel“) über den Widerstand gegen die Theorie des Kopernikus berichtet, dass alle Planeten um die Sonne kreisen. Erst nach ungefähr 150 Jahren wurde sie endlich allgemein akzeptiert.

Eine andere berühmte Idee, die lange Zeit abgelehnt wurde, ist die Kontinentaldrift. Alfred Wegener publizierte 1915 das Buch „Die Entstehung der Kontinente und Ozeane“, in dem er viele Belege dafür präsentierte, dass die Kontinente einst in einem Superkontinent vereinigt waren. Er nannte ihn Pangaea. In den nächsten 15 Jahren erschienen noch drei deutlich überarbeitete Fassungen, in die er jeweils seine neuesten Erkenntnisse aufnahm. Doch als er im Jahr 1930 im Alter von nur 50 Jahren auf einer Grönlandexpedition starb, glaubte noch kaum jemand an seine Theorie. Erst seit den 1960er Jahren wurde sie anerkannt.

Einer der Gründe für die Ablehnung war, dass Wegener nicht aus der Geologie kam. Er hatte Astronomie und Meteorologie studiert und 1905 seinen Doktor in Astronomie gemacht. Doch er fand die Meteorologie spannender und nahm deshalb einen Job an einer meteorologischen Forschungsstation an. Zusammen mit seinem Bruder unternahm er einmal einen über 52-stündigen Flug in einem Wetterballon. Seine Leidenschaft galt der Insel Grönland, und er nahm bis zu seinem frühen Tod insgesamt an vier Forschungsexpeditionen dorthin teil. Im Jahr 1908 erhielt er eine Professur in Meteorologie in Marburg. 

Die Idee der Kontinentaldrift kam ihm 1910, als er bemerkte, wie gut die Küstenlinien von Südamerika und Afrika zusammenpassen – als wären sie zwei zusammengehörige Puzzleteile. (Noch besser passen die Kontinente zusammen, wenn man die Ränder der Kontinentalplatten statt der Küstenlinien betrachtet.) Dies war früher auch schon anderen Leuten aufgefallen, und der Gedanke, dass die Kontinente sich bewegt haben, wurde schon seit dem 18. Jahrhundert immer wieder geäußert. Doch Wegener verfolgte diesen Gedanken viel intensiver und sammelte eine Fülle von Belegen. Er fand heraus, dass Brasilien und Westafrika viele fossile Tier- und Pflanzenarten gemeinsam haben, und dass sie auch ähnliche Gesteinsformationen haben. Diese Ähnlichkeiten betreffen z.B. Gesteinsabfolgen, Deformationsmuster, Diamantlagerstätten und glaziale Schleifspuren. Auch für andere Erdteile findet man derartige Nachweise dafür, dass sie einst miteinander verbunden waren. So findet zum Beispiel das nordamerikansche Appalachengebirge seine geologische Fortsetzung im schottischen Hochland und in Norwegen. Auf seinen Grönlandexpeditionen fand Wegener zudem Belege dafür, dass auch Grönland einst mit Nordamerika verbunden war. Dass die Kontinente sich bewegt haben müssen, begründete Wegener zusätzlich damit, dass arktische Gebiete wie z.B. die Insel Spitzbergen Fossilien von Tropenpflanzen haben. Vielleicht war ein so interdisziplinär orientierter Wissenschaftler wie Wegener nötig, um all diese verschiedenen Belege zusammenzutragen. Die jeweils nur auf ihr enges Spezialgebiet fokussierten Fachwissenschaftler konnten diese Vielfalt von Belegen anscheinend nicht richtig würdigen.

Aber der Hauptgrund für die Ablehnung von Wegeners Theorie war, dass man sich keinen Mechanismus vorstellen konnte, der die Kontinente über so weite Strecken bewegt. Keiner der früher gemachten Vorschläge, wie Erdexpansion oder Gezeitenkräfte, schien plausibel. Wegener schlug als Mechanismus zunächst die „Polflucht“ vor: Er meinte, dass die Zentrifugalkraft die Kontinente weg von den Polen in Richtung vom Äquator treibt und dabei auseinander schiebt, doch die meisten Geologen glaubten nicht, dass diese Kraft stark genug ist. Auch die Idee, dass die Kontinente auf einem flüssigen Erdmantel schwimmen, gab es schon, doch sie wurde zunächst ignoriert. Gleiche Fossilien auf beiden Seiten eines Ozeans erklärte man lieber mit vormals vorhanden Landbrücken, die inzwischen im Meer versunken sein sollen – selbst wenn das nicht die zueinander passenden Küstenlinien der Kontinente und die früher ganz anderen Klimazonen in arktischen Gebieten erklären konnte.

Erst seit den 1960er Jahren erkannte man, dass die Idee der Kontinentaldrift korrekt ist. Man sah dies zuerst bei der Echolot-Untersuchung des Ozeanbodens. Zwischen den Kontinenten erstrecken sich tief unter Wasser über tausende von Kilometern Ketten von Vulkanen, die man mittelozeanische Rücken nennt. Dort tritt flüssige Magma aus und erkaltet am Meeresboden. Eine genauere Untersuchung zeigte, dass der Ozeanboden umso älter ist, je weiter man sich von dieser Vulkankette entfernt. Man erkannte, dass dies mit der von Wegener postulierten Bewegung der Kontinente zusammenhängen muss und entwickelte die Idee der Plattentektonik: Die Kontinentalplatten liegen auf dem aus dichterem Material bestehenden Erdmantel, dessen zähplastisches Gestein sich in einer langsamen Konvektionsströmung bewegt, angetrieben durch die Wärme im Erdinneren. Die mittelozeanischen Rücken sind die Stellen, an denen sich Platten voneinander wegbewegen und dadurch eine „Ozeanbodenspreizung“ verursachen. Anderswo stoßen die Platten zusammen, was z.B. zur Gebirgsbildung führt. Heute können wir mit Hilfe von Satelliten die Bewegung der Kontinente und das Anheben der Gebirge sogar direkt messen. Seit den 1970er Jahren ist Alfred Wegeners Idee der Kontinentaldrift und auch die Existenz des Superkontinentes Pangaea vor ca. 250 Millionen Jahren allgemein anerkannt und wird auch in der Schule gelehrt. Aufgrund seines frühen Todes konnte Wegener den Triumph seiner Ideen leider nicht mehr erleben….

Dieses Schicksal von Alfred Wegeners Ideen beinhaltet eine wichtige Lehre: Es kann für einen Sachverhalt gewichtige, ja überwältigende Belege geben, auch wenn der Mechanismus hinter dem Sachverhalt noch unklar ist. Wegener hatte eine Fülle von Belegen ganz verschiedener Art zusammengetragen (Form der Küstenlinien, fossile Pflanzen und Tiere, Gesteinssorten und -formationen, das damalige Klima, Faltengebirge, ...), die zusammengenommen jeden von der Tatsache der Kontinentaldrift überzeugen sollten. Doch es fehlte noch die Erklärung dafür, wie die Kontinentaldrift zustande kommt, und dies hielt die meisten Geologen davon ab, Wegeners These zu akzeptieren. Die Erklärung, die Wegener selbst vorschlug, schien falsch zu sein. Rückblickend würden bestimmt viele von uns sagen, die damaligen Geologen hätten offener sein müssen für die Belege, auch wenn die Mechanismen noch unverstanden waren.

Ich sehe gewisse Parallelen zwischen der Theorie der Kontinentaldrift und der Evolutionstheorie. Dafür, dass Evolution stattgefunden hat, gibt es überwältigende Belege, darunter die Verteilung der Arten über die Erde (s. den Beitrag vom 14.11.), die Ähnlichkeiten im Körperbau (s. den Beitrag vom 19.12.) und die vielen Spuren unserer Vorgeschichte in unserem Erbgut (s. den Beitrag vom 9.1.). Diese und weitere Belege unterstützen die „Tatsache Evolution“, ähnlich wie die von Wegener gesammelten Belege die „Tatsache Kontinentaldrift“ belegen. Über diese Belege kann man reden, ohne die Mechanismen zu kennen, die für die Veränderung der Spezies verantwortlich sind. Das ist analog dazu, dass man über Wegeners Belege für die Kontinentaldrift reden kann, ohne die Mechanismen hinter der Bewegung der Kontinente zu kennen.

Wie die Veränderung der Arten passiert und durch welche Mechanismen sich neue Spezies und neue Merkmale ausbilden, ist Gegenstand der „Evolutionstheorie“, ganz analog dazu, dass die Mechanismen hinter der Bewegung der Kontinente durch die Theorie der Kontinentaldrift untersucht werden. Ich habe oben die Theorie der Kontinentaldrift so dargestellt, als sei sie schon vollständig verstanden. Doch das stimmt nicht ganz, denn es gibt auch heute noch eine Reihe von offenen Fragen darüber, was sich genau im Erdmantel abspielt. Ähnlich ist es mit der Evolutionstheorie: Auch wenn man inzwischen viel darüber versteht, wie das Leben sich verändert hat und heute verändert, gibt es spannende offene Fragen. Diese offenen Fragen ändern aber nichts daran, dass die Belege dafür, dass Evolution stattgefunden hat, absolut überwältigend sind. 

Bei Diskussionen über Evolution wird leider oft nicht unterschieden, ob man über die Belege dafür redet, dass Evolution stattgefunden hat, oder über die Theorie darüber, was die Mechanismen und Gesetzmäßigkeiten hinter der Veränderung der Arten sind. Evolutionskritische Texte greifen meist nur die gängigen Erklärungen darüber an, wie Evolution funktioniert, und nicht die Belege dafür, dass Evolution stattgefunden hat. Gerne werden solche Argumente durch Wahrscheinlichkeitsrechnungen untermauert, die auf einer Folge zufälliger Mutationen oder Reaktionen beruhen. Ein beliebtes Beispiel ist die Entstehung des Flagellums der Kolibakterien mit seinem rotierenden Motor. Aus den Rechnungen wird dann gefolgert, dass Evolution nicht stattgefunden haben kann, weil die berechneten Wahrscheinlichkeiten verschwindend klein sind. Doch dieser Schluss ist genauso wenig zwingend wie derjenige der Zeitgenossen Wegeners, die die Kontinentaldrift ablehnten. Die Rechnung besagt bestenfalls, dass der betrachtete Entstehungsprozess nicht so abgelaufen sein kann, wie die Rechnung voraussetzt. (Und schlechtestenfalls greifen die Rechnungen nur einen Strohmann an und nicht die tatsächliche Theorie.) Umgekehrt erwecken biologische Lehrbücher und populärwissenschaftliche Artikel oft den Eindruck, als sei Evolution schon vollständig verstanden und als sei dies der Grund dafür, dass man Evolution akzeptieren solle. Die spannenden offenen Fragen traut man sich vielleicht auch deshalb nicht anzusprechen, weil dies dann von manchen Personen so aufgebauscht wird, als gäbe es fundamentale Zweifel am Evolutionsprozess selbst.

Ich wünsche uns allen, dass wir gelassen, ehrlich und objektiv mit dem Thema Evolution umgehen. Oben habe ich nur auf die wissenschaftlichen Fragen Bezug genommen und dafür plädiert, die Belege für die gemeinsame Abstammung der Lebewesen und ihre lange Entwicklungsgeschichte von der Frage nach den dahinterstehenden Mechanismen zu trennen. Im Gegensatz zur Kontinentaldrift ist beim Thema Evolution noch eine weitere thematische Abtrennung nötig, nämlich die der weltanschaulichen Fragen. Diese werden leider oft mit den wissenschaftlichen Fragen vermischt. Wir haben also noch viel Stoff für weitere Blogbeiträge…

Literaturhinweise: Im Internet findet man viele Texte zu Wegener, Kontinentaldrift und Plattentektonik. Auch die wikipedia-Einträge zu diesen Themen sind informativ. Für das Leben von Alfred Wegener habe ich u.a. diese Quelle verwendet.


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