Der Unterschied zwischen „Ist“ und „Soll“

Vor einigen Jahren sah ich im Fernsehen eine Dokumentation über die Bonobos. Diese Schimpansenart ist recht friedlich verglichen mit anderen Primatenarten, und ihr friedliches Miteinander wird dadurch aufrechterhalten, dass sie untereinander täglich eine Vielzahl verschiedener sexueller Interaktionen haben. Die Art und Weise, wie in der Dokumentation darüber berichtet wurde, weckte bei mir den Eindruck, dass die Autoren eine Agenda verfolgen. Sie wollten ihren Zuhörern vermitteln, dass sexuelle Promiskuität natürlich sei, weil unsere nächsten Verwandten sie praktizieren und weil dadurch ihr friedliches Miteinander befördert wird.

Mir scheint der Gedanke, dass unsere menschliche Neigung zu sexueller Promiskuität in unseren Genen begründet ist, in der Tat naheliegend. Doch darf man daraus folgern, dass man diese Promiskuität ausleben soll? So manches andere, was wir bei Schimpansen beobachten, möchten wir den Menschen nicht gestatten. Die gemeinen Schimpansen, die mit uns genauso eng verwandt sind wie die Bonobos, sind weniger friedlich als diese. Man beobachtet bei ihnen Aggression und tödliche Gewalt gegen Artgenossen, Mord an Kindern und Kannibalismus. Dass uns nah verwandte Tiere etwas tun, sagt an sich also nichts darüber, ob wir ein solches Tun bei Menschen gutheißen.

Dies bringt uns zurück zum Thema des letzten Blogbeitrags und dem, was Einstein in seinem Vortrag am Princeton Theological Seminary angesprochen hat. Er sagte: „Dennoch ist es ebenso klar, dass das Wissen über das, was ist, keinen direkten Zugang bietet zu dem, was sein soll. Man kann eindeutig und vollständig die Tatsachen kennen und trotzdem nicht daraus ableiten, was das Ziel unserer menschlichen Bestrebungen sein soll.“

Wissenschaftliche und moralische Fragen sind wesensmäßig verschieden und müssen getrennt voneinander beantwortet werden. Das lässt sich gut am Beispiel der aktuellen Corona-Pandemie illustrieren. Fragen, mit denen sich die Wissenschaft befasst, sind z.B.: Wie gut schützen Masken vor Ansteckung? Wie wirkt sich welche Schutzmaßnahme auf die Ausbreitung des Virus aus? Was sind die Nebenwirkungen von Impfungen? Wie wirkt ein Lockdown auf die Wirtschaft? Auf die Kinder? Gibt es mehr häusliche Gewalt? Die Wissenschaft sammelt also Informationen und untersucht Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge.

Bei den moralischen Fragen dagegen geht es um Entscheidungen: Sollen wir einen Lockdown verhängen? Sollen Kinder im Unterricht Masken tragen? Soll es eine Impfpflicht geben? Um solche Entscheidungen zu fällen, müssen Wertvorstellungen formuliert und Ziele gesteckt werden: Wollen wir vorrangig Menschenleben schützen? Die Krankenhäuser entlasten? Das Leben der Kinder möglichst wenig beeinträchtigen? Die Wirtschaft am Laufen halten? Die Freiheit des Einzelnen unangetastet lassen?

Doch Wissenschaft und Moral beeinflussen sich auch gegenseitig. Die Wissenschaft liefert wichtige Grundlagen für unsere Entscheidungen. Sie hilft uns, die Auswirkungen unserer Entscheidungen vorherzusehen und abzuschätzen, wie hoch jeweils die Kosten und Nutzen von Maßnahmen sind. Umgekehrt beeinflussen moralische Fragen und Entscheidungen wissenschaftliche Fragestellungen. Nachdem entschieden wurde, dass man gegen die Ausbreitung von Corona kämpfen möchte, wurde die Entwicklung von Schnelltests und Impfstoffen vorangetrieben. Die Entscheidung, Arbeitnehmer nach Möglichkeit ins Homeoffice zu schicken, führte zu Untersuchungen über die Produktivität und Konfliktträchtigkeit von Heimarbeit.

Fassen wir das Bisherige zusammen: (i) Wissenschaftliche und moralische Fragestellungen sind wesensmäßig verschieden. (ii) Wissenschaft kann hilfreiche Hintergrundinformationen für moralische Entscheidungen liefern, sie aber nicht ersetzen. (iii) Moralische Fragen können wissenschaftliche Forschung motivieren.

Leider werden wissenschaftliche und moralische Fragen in der Praxis nicht immer sauber unterschieden. Ein ungutes Vermischen passiert zum Beispiel, wenn jemand eigentlich eine moralische Entscheidung gefällt hat (z.B. „Ich will mir meine Freiheit nicht nehmen lassen“), sie aber wissenschaftlich tarnt, indem er einseitig diejenigen Informationsschnipsel sammelt, die das bestätigen, was er hören will: dass Masken angeblich nichts nützen oder dass COVID-19 nicht gefährlicher als eine Grippe sei. Umgekehrt werden wissenschaftliche Erkenntnisse manchmal so verkündigt, als müsste eine bestimmte moralische Entscheidung zwangsläufig aus ihnen folgen, wie im eingangs genannten Bonobo-Beispiel. Diese scheinbare Zwangsläufigkeit wird noch verstärkt, wenn man so tut, als gäbe es keine Unsicherheiten, offenen Fragen oder Spielräume bei der Interpretation der Daten. Es erfordert ein hohes Maß an Ehrlichkeit, differenziertem Denken und Korrekturbereitschaft, um den Stand der wissenschaftlichen Forschung korrekt wahrzunehmen und darzustellen. Doch selbst, wenn ein wissenschaftliches Ergebnis eindeutig ist, führt es nicht zwangsläufig zu einer bestimmten moralischen Entscheidung; erst müssen Werte und Ziele formuliert werden.

Auf ähnliche Weise wie bei der aktuellen Corona-Pandemie gibt es auch beim Klimawandel einen Unterschied zwischen den wissenschaftlichen und den moralischen Fragen: Die Wissenschaft untersucht, wie sich unser Kohlendioxidausstoß aller Wahrscheinlichkeit nach auf die Temperaturen, den Meeresspiegel, die Häufigkeit von Unwettern, Wirbelstürmen, Dürren und Bränden auf der Erde auswirkt. Sie berechnet auch, welche Klimaschutzmaßnahmen sich wie auswirken werden. Sie hilft uns abzuschätzen, welche Kosten der Klimawandel verursacht und wie hoch die Kosten von Gegenmaßnahmen sein könnten. Sie kann uns also verschiedene Szenarien vorstellen einschließlich der Maßnahmen, die zum Erreichen dieser Szenarien nötig sind. Doch um uns für ein Szenario zu entscheiden, brauchen wir Werte und Ziele. Wir müssen wählen, in welcher Welt wir leben wollen oder welche Welt wir unseren Enkeln hinterlassen wollen.

Und genau wie bei Corona gibt es auch beim Thema „Klimawandel“ den Versuch, moralische Entscheidung (z.B.: „Ich will meinen Lebensstil nicht ändern“) hinter wissenschaftlich klingenden Argumenten zu verstecken (z.B.: „XY sagt, der Klimawandel sei nicht menschengemacht“). 

Beim eingangs angesprochenen Thema „Sexualität“ ist es wahrscheinlich noch schwerer als bei „Corona“ oder „Klimawandel“, offen zu sein für wissenschaftliche Untersuchungen und Erkenntnisse, da uns dieses Thema noch stärker persönlich betrifft. Wir erwarten aufgrund unserer moralischen Einstellung, dass gewisse Dinge wahr oder nicht wahr sind. Deswegen findet man öfters sehr einseitige Darstellungen zu moralischen Themen. So wurde früher zum Beispiel behauptet, dass Homosexualität durch überdominante Mütter verursacht wird. Doch die Wirklichkeit ist leider vielschichtig, und menschliches Verhalten wird von vielen biologischen und sozialen Faktoren beeinflusst. Die Wissenschaft kann sich im Prinzip mit allen Aspekten unseres sexuellen Verhaltens und unserer Neigungen befassen: Sie kann untersuchen, wie häufig eheliche Untreue ist und durch was sie ausgelöst wird, oder wie viele Ehen geschieden werden und aus welchen Gründen. Sie erforscht auch, welcher Anteil der Bevölkerung homosexuell empfindet und wie häufig oder selten sich die sexuelle Empfindung unter äußeren Einflüssen ändert. Sie kann auch untersuchen, wie der familiäre Status oder der sexuelle Lebensstil mit der körperlichen und psychischen Gesundheit korreliert.

Als Wissenschaftlerin betrachte ich derartigen Studien mit großem Interesse. Freilich gibt es dabei manches, das nicht zu meiner Erwartung passt. Doch ich finde es wichtig, dass wir uns den Fakten stellen, wie sie sind. Letztlich ergänzen Wissenschaft und Glaube einander auch bei diesem Thema: Die Wissenschaft gibt Einblicke in die Situation unserer Gesellschaft und in das Zusammenspiel von Veranlagung und Umwelteinflüssen beim Menschen. Sie kann uns helfen, besser zu verstehen, wie unsere Psyche funktioniert. Die durch den christlichen Glauben geprägte Weltsicht ordnet das Gelesene in den großen Kontext ein, von dem die Bibel erzählt: von der Herrlichkeit und Gebrochenheit der Schöpfung, von der Schuld des Menschen und der Erlösung durch Christus. Deshalb gibt der Glaube mir Kraft und Wegweisung in moralischen Fragen. Wenn ich gefragt werde, wie sich mein Glaube in meinem Leben auswirkt, dann sage ich meist zuerst: „In meiner Ehe“. Ohne den Glauben hätte ich wahrscheinlich nicht den Mut gehabt, mich auf eine lebenslange, ausschließliche Beziehung einzulassen. Und der Glaube hilft mir, in Schwierigkeiten durchzuhalten in dem Vertrauen darauf, dass Gott mich dadurch reifen lässt und dass die Beziehung zu meinem Mann auf diese Weise tiefer und stabiler wird.

Der christliche Glaube bietet mir also nicht nur Werte und Ziele, die als Richtschnur für das „Sollen“ dienen, sondern er gibt auch die Kraft zur Lebensveränderung.

Hinweise: Dass Wissenschaft trotz aller Unvollkommenheiten zu echten Erkenntnissen führt, wird schön in diesem MaiLab-Video erklärt. Auf moralische Fragen rund um das Impfen, den Klimawandel und das Thema Gender gehen meine Blogbeiträge „Warum ich mich impfen lassen werde“, „Fromme Einwände gegen den Klimawandel“ und „Was ist mein Geschlecht?“ ein.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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