Einstein und die Religion

Albert Einstein wird ab und zu von Christen als Kronzeuge dafür zitiert, dass Glaube und Wissenschaft einander ergänzen. Man bekommt dabei manchmal fast den Eindruck, Einstein sei ein Christ gewesen. Doch das stimmt leider nicht. Einstein sagte zwar, dass Wissenschaft und Religion einander brauchen, da die Wissenschaft uns nichts über Sinn und Moral sagen kann. Doch gleichzeitig war er der Auffassung, der Glaube an einen persönlichen Gott sei nicht mit der Wissenschaft verträglich. Dies behauptete er in einem Vortrag über Wissenschaft und Religion, den er im Jahr 1939 am Princeton Theological Seminary hielt. Der Vortrag ist im englischen Original im Internet frei verfügbar. Da ich keinen Zugriff auf eine deutsche Übersetzung habe (und diese evtl. ja auch urheberrechtlich geschützt ist), übersetze ich im Folgenden diesen Vortrag selbst. So erfahren Sie aus erster Hand, was Einstein wirklich glaubte. Wegen der Länge des Textes kürze ich ein wenig.

Im letzten und zum Teil auch im vorletzten Jahrhundert war die Auffassung weit verbreitet, dass es einen unversöhnlichen Konflikt zwischen Wissen und Glauben gibt. Gebildete Geister meinten, es sei an der Zeit, den Glauben zunehmend durch Wissen zu ersetzen; Glaube, der nicht auf Wissen beruht, sei Aberglaube und daher abzulehnen. [...]

Wahrscheinlich findet man selten, wenn überhaupt, den rationalistischen Standpunkt in solch krasse Form gekleidet; jeder nachdenkende Mensch kann sofort sehen, wie einseitig eine solche Darstellung ist. Aber es hilft, eine These deutlich und unverhüllt zu formulieren, um sich leichter eine Meinung über sie bilden zu können.

Es stimmt, dass Überzeugungen auf Erfahrung und klaren Überlegungen beruhen sollten. Hier muss man dem extremen Rationalisten uneingeschränkt zustimmen. Der Schwachpunkt seiner Auffassung ist aber, dass er auf diesem soliden wissenschaftlichen Weg nicht diejenigen Überzeugungen erzielen kann, die notwendig und bestimmend für unser Verhalten und unsere Wertungen sind.

Denn die wissenschaftliche Methode kann uns nur zeigen, wie verschiedene Fakten einander bedingen und sich zueinander verhalten. Nach solch objektivem Wissen zu streben, ist eines der höchsten Dinge, zu denen der Mensch fähig ist, und Sie werden mir gewiss nicht unterstellen, dass ich die diesbezüglichen Errungenschaften und die heroischen Anstrengungen des Menschen kleinreden will. Dennoch ist es ebenso klar, dass das Wissen über das, was ist, keinen direkten Zugang bietet zu dem, was sein soll. Man kann eindeutig und vollständig die Tatsachen kennen und trotzdem nicht daraus ableiten, was das Ziel unserer menschlichen Bestrebungen sein soll. Objektives Wissen ist ein wichtiges Werkzeug, um gewisse Ziele zu erreichen, aber das Ziel selbst und unser Verlangen danach, es zu erreichen, muss aus einer anderen Quelle kommen. Es ist kaum nötig darzulegen, dass unsere Existenz und unser Tun nur dadurch Sinn bekommen, dass solche Ziele und die damit verbundenen Werte definiert werden. Tatsachen zu kennen ist wunderbar, aber sie können uns nicht leiten, ja sie können noch nicht einmal erklären, warum es gerechtfertigt und wertvoll ist, diese Tatsachen überhaupt herausfinden zu wollen. Hier erkennen wir die Grenzen einer rein rationalen Betrachtung unserer Existenz.

Trotzdem sollten wir nicht meinen, dass intelligentes Nachdenken nicht dazu beitragen kann, Ziele und ethische Bewertungen zu formulieren. Wenn jemand sich klar macht, dass zum Erreichen eines Zieles bestimmte Mittel hilfreich sind, wird das Erwerben dieser Mittel selbst zu einem Ziel. Logisches Denken zeigt uns den Zusammenhang zwischen Mitteln und Zielen. Aber reines Nachdenken gibt uns keine Einsicht in die ultimativen und fundamentalen Ziele. Diese fundamentalen Ziele und Werte klarzumachen und sie fest im emotionalen Leben eines Individuums zu verankern, scheint mir die wichtigste Funktion zu sein, die Religion im sozialen Leben der Menschen ausüben soll. [...]

Die höchsten Prinzipien für unsere Bestrebungen und Wertungen werden uns in der jüdisch-christlichen Tradition gegeben. Sie ist ein sehr hohes Ziel, das wir mit unseren begrenzten Fähigkeiten nur sehr unvollkommen erreichen können, aber das eine sichere Grundlage für unsere Bestrebungen und Wertungen liefert. Wenn wir dieses Ziel aus seiner religiösen Verpackung nehmen und nur seine menschliche Seite betrachten, können wir es vielleicht so formulieren: Freie und verantwortungsvolle Entwicklung des Individuums, so dass es seine Fähigkeiten freiwillig und gerne in den Dienst der Menschheit stellt.

[...]

Es ist nicht schwierig sich darauf zu einigen, was Naturwissenschaft ist. Naturwissenschaft ist das jahrhundertealte Unterfangen, die beobachtbaren Phänomene dieser Welt durch systematisches Nachdenken möglichst umfassend miteinander in Beziehung zu setzen. [...] Aber wenn ich mich frage, was Religion ist, fällt mir keine so einfache Antwort ein. Und selbst wenn mich eine Antwort in dem Moment befriedigt, werde ich nie auch nur ansatzweise imstande sein, die Gedanken von all denjenigen zusammenzubringen, die hierüber schon ernsthaft nachgedacht haben.

Anstelle zu fragen, was Religion ist, möchte ich lieber fragen, was die Bestrebungen einer religiösen Person charakterisiert: Ein religiös erleuchteter Mensch scheint mir jemand zu sein, der sich, so gut er kann, von den Fesseln seiner egoistischen Wünsche befreit hat und nun Gedanken, Gefühle und Bestrebungen hat, an denen er wegen ihres übernatürlichen Wertes festhält. Was für mich zählt, ist die Kraft dieses übernatürlichen Inhalts und das tiefe Überzeugtsein von seinem Sinn, unabhängig davon, ob man diesen Inhalt mit einem göttlichen Wesen verbindet, denn sonst könnte man Buddha und Spinoza nicht als religiöse Persönlichkeiten betrachten. Also ist eine religiöse Person gläubig in dem Sinn, dass sie keine Zweifel an der Bedeutung und Erhabenheit dieser die Person übersteigenden Dinge und Ziele hat, die keine rationale Grundlage brauchen oder haben können. Sie existieren genauso notwendig und selbstverständlich wie die Person selbst. [...]

Wenn man Religion und Wissenschaft in diesem Sinne definiert, dann ist ein Konflikt zwischen ihnen unmöglich. Denn Wissenschaft kann nur feststellen, was ist, und nicht, was sein soll, und jenseits ihres Geltungsbereichs sind Werturteile jeder Art nötig. Religion, auf der anderen Seite, befasst sich nur mit der Bewertung menschlicher Gedanken und Taten: Sie kann nicht von Fakten und den Beziehungen zwischen ihnen sprechen. Gemäß diesem Verständnis muss der wohlbekannte Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft der Vergangenheit auf ein Missverständnis dessen zurückgehen, was ich eben beschrieben habe.

Zum Beispiel entsteht ein Konflikt, wenn eine religiöse Gemeinschaft auf der absoluten Wahrheit aller Aussagen der Bibel besteht. Das ist ein Eingriff der Religion in den Bereich der Wissenschaft; so war es bei dem Kampf der Kirche gegen die Lehre von Galileo und Darwin. Auf der andern Seite haben Vertreter der Wissenschaft oft versucht, grundlegende Urteile über Werte und Ziele auf Basis der wissenschaftlichen Methode abzugeben, und haben sich damit in Opposition zur Religion gestellt. Diese Konflikte entspringen fatalen Fehlern.

Auch wenn es zwischen den Bereichen der Religion und Wissenschaft klare Abgrenzungen gibt, existieren zwischen ihnen doch starke wechselseitige Beziehungen und Abhängigkeiten. Auch wenn Religion das Ziel bestimmt, hat sie von der Wissenschaft gelernt, welche Mittel zum Erreichen dieses Ziels helfen. Umgekehrt kann Wissenschaft nur von denjenigen geschaffen werden, die von dem Streben nach Wahrheit und Einsicht durchdrungen sind. Die Quelle dieses Empfindens entspringt dem Reich der Religion. Hierzu gehört auch der Glaube, dass die Regeln der Welt rational, also dem Verstand einsichtig sind. Ich kann mir keinen Wissenschaftler ohne diesen tiefen Glauben vorstellen. Diese Situation kann durch ein Bild veranschaulicht werden: Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.

Auch wenn ich oben versichert habe, dass es keinen legitimen Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft geben kann, muss ich dies nochmals an einem wichtigen Punkt einschränken, nämlich in Zusammenhang mit dem tatsächlichen Inhalt der historischen Religionen. Diese Einschränkung betrifft die Vorstellung von Gott. Während der Frühzeit der geistigen Entwicklung der Menschheit erschuf die menschliche Phantasie in ihrem Bilde Götter, die durch ihren Willen die sichtbare Welt bestimmen oder zumindest beeinflussen können. Der Mensch versuchte, durch Magie und Gebet die Götter zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Die Vorstellung von Gott, die in den Religionen zurzeit gelehrt wird, ist eine Vergeistigung dieser alten Vorstellung von den Göttern. Ihr anthropomorpher Charakter zeigt sich zum Beispiel darin, dass die Menschen sich an Gott im Gebet wenden und um Erfüllung ihrer Wünsche flehen.

Gewiss wird niemand leugnen, dass die Vorstellung eines allmächtigen, gerechten und allgütigen persönlichen Gottes dem Menschen Trost, Hilfe und Orientierung gibt; wegen ihrer Einfachheit ist sie auch schlichten Geistern verständlich. Aber diese Vorstellung hat deutliche Schwächen, die sich seit dem Beginn der Geschichte schmerzlich ausgewirkt haben. Wenn dieses Wesen allmächtig ist, dann sind alle Ereignisse, auch alle menschlichen Taten, Gedanken, Gefühle und Bestrebungen sein Werk; wie kann man dann die Menschen für ihre Taten und Gedanken gegenüber einem solchen allmächtigen Wesen verantwortlich machen? Wenn er bestraft und belohnt, richtet er in gewissem Sinn sich selbst. Wie passt das zu der ihm zugeschriebenen Güte und Gerechtigkeit?

Die Hauptquelle des gegenwärtigen Konflikts zwischen Religion und Wissenschaft liegt in dieser Vorstellung von einem persönlichen Gott. Die Wissenschaft möchte allgemeine Regeln aufstellen, die die wechselseitigen Beziehung zwischen Objekten und Ereignissen in Raum und Zeit bestimmen. Diese Regeln, oder Naturgesetze, müssen absolut allgemeingültig sein. Das ist nicht bewiesen, aber das ist das Programm der Wissenschaft. Der Glaube daran beruht auf Teilerfolgen. Kaum jemand leugnet diese Teilerfolge und erklärt sie zu Täuschungen. Dass man auf Basis solcher Gesetze die zeitliche Entwicklung von Phänomenen auf bestimmten Gebieten mit großer Präzision und Gewissheit vorhersagen kann, hat sich dem modernen Menschen tief eingeprägt, selbst bei denen, die wenig vom Inhalt dieser Gesetze verstehen. Sie brauchen sich nur zu vergegenwärtigen, dass man den Lauf der Planeten im Sonnensystem auf Basis weniger einfacher Gesetze mit großer Genauigkeit vorausberechnen kann. [...]

Gewiss, wenn die Zahl der relevanten Faktoren in einem Komplex von Phänomenen zu groß ist, versagt die wissenschaftliche Methode. Man braucht nur ans Wetter zu denken, für das die Vorhersage sogar über wenige Tage unmöglich ist. Trotzdem bezweifelt niemand, dass wir hier kausale Zusammenhänge haben, deren Bestandteile uns im Wesentlichen bekannt sind. Phänomene auf diesem Gebiet sind nur wegen der vielen Einflussfaktoren nicht exakt vorhersagbar und nicht, weil der Natur die Ordnung fehlen würde.

In die Regelmäßigkeiten im Bereich der lebenden Dinge sind wir deutlich weniger tief eingedrungen, aber genügend tief, um zu sehen, dass auch hier feste Notwendigkeiten herrschen. Man muss nur an die Vererbungsgesetze denken oder an den Effekt von Giften wie Alkohol auf das Verhalten lebendiger Wesen. Was uns noch fehlt, sind die tiefen allgemeinen Zusammenhänge, aber nicht das Wissen um die Ordnung an sich.

Je mehr ein Mensch die geordnete Regelmäßigkeit aller Ereignisse wahrnimmt, desto stärker wird seine Überzeugung, dass neben ihnen kein Platz ist für Ursachen anderer Art. Für ihn stellt weder menschliches noch göttliches Handeln eine unabhängige Ursache natürlicher Ereignisse dar. Gewiss kann die Doktrin, dass ein persönlicher Gott in die natürlichen Ereignisse eingreift, niemals wirklich durch die Wissenschaft widerlegt werden, denn diese Doktrin kann immer in jenen Bereichen Zuflucht nehmen, in denen wissenschaftliche Erkenntnis noch nicht genügend Fuß gefasst hat.

Aber ich bin überzeugt, dass ein solches Verhalten der Religionsvertreter nicht nur unwürdig, sondern auch fatal wäre. Denn eine Doktrin, die sich nicht im klaren Licht, sondern nur im Dunkeln halten kann, wird ihre Wirkung auf die Menschheit verlieren, und das wäre ein unbeschreiblicher Schaden für den Fortschritt der Menschheit. [...]

Wenn ein Ziel der Religion darin besteht, die Menschheit so weit wie möglich von der Gefangenschaft in egozentrischem Verlangen, Begierden und Ängsten zu befreien, dann kann wissenschaftliches Denken der Religion noch auf eine andere Weise helfen. Auch wenn das Ziel der Wissenschaft darin besteht, mit Hilfe von Gesetzen Fakten zusammenzubringen und vorherzusagen, ist das nicht ihr einziges Ziel. Sie versucht auch, die entdeckten Zusammenhänge auf eine möglichst kleine Zahl konzeptioneller Elemente zu reduzieren. In diesem Streben nach Vereinigung der Vielfalt liegt ihr größter Erfolg, auch wenn genau dieser Versuch die Gefahr mit sich bringt, einer Illusion zu erliegen. Aber wer den erfolgreichen Fortschritt der Wissenschaft erlebt hat, staunt über die Rationalität, die sich in ihr offenbart. Durch Verstehen emanzipiert er sich von den Fesseln persönlicher Hoffnungen und Begierden und erreicht dadurch eine demütige Geisteshaltung. [...] Diese Haltung scheint mir religiös im höchsten Sinn des Wortes. […] Je weiter die geistige Entwicklung der Menschheit voranschreitet, desto gewisser scheint mir, dass der Pfad zu wahrer Religiosität nicht in Angst vor dem Leben oder Sterben oder in blindem Glauben liegt, sondern im Streben nach rationalem Wissen. […]“

Naja - mit rationalem Wissen allein kann man das Leben und das Sterben nicht bewältigen…. 

Meine Entgegnung auf die These, dass die physikalischen Gesetze alles Geschehen festlegen, habe ich im Blogeintrag vom 19.6. („Lassen die Naturgesetze Raum für Gottes Wirken?“) aufgeschrieben. 

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge finden Sie hier.

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