Was ist mein Geschlecht?

Das Thema „Geschlecht“ bekommt in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit. Wir werden durch Gender-Stern und Gender-Gap und eine Liste von 60 verschiedenen Geschlechtern dazu veranlasst, unsere bisherigen Vorstellungen zu hinterfragen. Was sage ich als Naturwissenschaftlerin und traditionell geprägte Christin dazu?

Zunächst reagiere ich auf dieses Thema weder als Naturwissenschaftlerin noch als Christin, sondern als Person, die einen langen und schwierigen Weg hinter sich hat, ihre Identität zu finden. Ich bin biologisch eine Frau, doch als Kind konnte ich damit nicht viel anfangen und sagte öfters, dass ich lieber ein Junge wäre. Ich spielte im Sandkasten und im Kindergarten immer mit den Jungen. Ich wollte keine Mädchenkleider tragen und spielte ungern mit Puppen. Lieber spielte ich Fußball und kletterte auf Bäume – dafür sind Mädchenkleider unpraktisch. Die Rollen, in denen die meisten anderen Mädchen sich anscheinend wohl fühlten, passten nicht zu mir. Als ich im neuen Freibad meiner Heimatstadt beobachtete, dass nur Jungen und Männer vom 10-Meter-Turm sprangen, fand ich das gar nicht gut und stieg kurzerhand hinauf und sprang ebenfalls herunter. Spaß machte mir ein Sprung von einer solchen Höhe allerdings nicht… Es gab eine Phase in meiner Jugend, da träumte ich davon, eines Tages fünf Söhne zu haben, mit denen ich Fußball spielen kann. Seltsam, dass ich nicht an mir selbst gelernt hatte, dass man auch mit Mädchen Fußball spielen kann. Irgendwie zählte ich mich wohl nicht wirklich zu den Mädchen...

Noch im Alter von 16 Jahren kam es vor, dass man mich für einen Jungen hielt. Naja, mein Körper produziert auch ein wenig mehr männliche Hormone als bei den meisten Frauen…

Meine Entscheidung fürs Physikstudium fällte ich gegen die wohlgemeinte Warnung meiner Physiklehrerin, dass Frauen es im Physikstudium schwer hätten. Als sie Physik studierte, gab es noch kaum Frauen in diesem Studium. Selbst als ich studierte (ab Winter 1982), betrug der Frauenanteil bei uns in Deutschland nur sieben Prozent. (Inzwischen sind es 20-25 Prozent.) Die Warnung meiner Lehrerin weckte in mir eher Kampfeslust, als dass sie mich abschreckte. Der Direktor meiner Schule wunderte sich über diese Berufsentscheidung und war der Meinung, Frauen sollten einen Beruf wählen, der zu ihrer künftigen Rolle als Hausfrau und Mutter passt. Dagegen war die Haltung meiner Eltern wohltuend. Sie sahen meine Begabung und waren der Meinung, dass mit einer so deutlichen Begabung auch die Aufgabe verbunden sei, diese Begabung zu entfalten. Gott würde für mich schon den richtigen Platz im Leben bereithalten. Obwohl sie sehr traditionelle Vorstellungen hatten und ihre Ehe perfekt zu dem klassischen Rollenbild passte, waren sie offen dafür, dass ich anders war.

Meine erste Freundschaft scheiterte an der Frage der Rollenverteilung in einer Ehe und daran, dass ich im Studium viel erfolgreicher war als mein Freund in seinem Studium. Damit kam er nicht zurecht. Ich folgerte damals, dass eine Ehe wohl nichts für mich sei, und stellte mich darauf ein, Single zu bleiben. Dieser Gedanke war für mich nicht erschreckend. Im Gegenteil, ich war befreit davon, in eine Schablone gepresst zu werden, die nicht zu mir passte.

Als ich mich hoffnungslos in den Mann verliebte, mit dem ich nun schon seit 32 Jahren glücklich verheiratet bin, wehrte ich mich zunächst dagegen. Doch weise Menschen aus unserem Umfeld halfen mir, nicht nur die (vermeintlichen und echten) Probleme, sondern auch die Möglichkeiten und Chancen einer solchen Beziehung zu sehen. Mein Mann hat den Spagat geschafft, mich so anzunehmen und zu lieben, wie ich bin, und mich gleichzeitig zu verändern. Er hat einen besonderen Blick für die Begabungen und Stärken eines Menschen. Es kam immer wieder vor, dass er mir abends nach der Arbeit davon erzählte, wie eine Kollegin ihn durch ihre Fähigkeiten beeindruckt hat und welches Potenzial er in ihr sieht. Er betrachtete es als seine Aufgabe, mein Potenzial zu fördern. Seiner Ermutigung und Unterstützung habe ich es zu verdanken, dass ich nach dem Studium das Angebot zu promovieren annahm und danach die abenteuerlichen Auslandsjahre als Postdoc wagte, während derer ich mich für eine Professur qualifizierte. Wir fanden sogar Gefallen daran, als christliches Ehepaar nicht dem üblichen Schema zu folgen, dass die Frau die Karriere ihres Mannes unterstützt und ihn an seine beruflichen Stationen begleitet. Mein Mann suchte sich in allen drei Ländern, in denen wir lebten, Jobs, in denen er dazulernen konnte. Als wir nach sieben Jahren Ausland nach Darmstadt zogen, fand er mit seiner fachlichen Breite und Auslandserfahrung schnell eine Stelle bei der Telekom.

Mein Mann machte mich auch mehr zur Frau. Er fand und findet meinen Körper schön und brachte mich dazu, weibliche Dinge wie Ohrringe, Schuhe mit Absätzen oder Parfum auszuprobieren. Früher kam das für mich nicht in Frage. Andere liebe Menschen aus meinem Umfeld gingen mit mir shoppen und brachten mir bei, welche Art von Kleidung mich richtig gut aussehen lässt.

So wenig wie ich auf das typische Frauenbild passe, passt mein Mann auf das typische Männerbild. Während ich oft eine der wenigen Frauen in männerdominierten Veranstaltungen war, fand mein Mann sich während der Seelsorgekurse, die er besuchte, in überwiegend aus Frauen bestehenden Gruppe wieder. Bis wir die passende Aufgabenverteilung in unserer Ehe gefunden hatten, vergingen ein paar Jahre. Wir waren beide so fest darauf geprägt, dass der Mann die Steuererklärung machen muss, dass wir erst nach ca. 7 Jahren entdeckten, dass es stressfreier ist, wenn ich mich darum kümmere. An Blumen für die Wohnung oder Geschenke für andere Personen denkt mein Mann dagegen viel eher als ich.

Was ist angesichts dieses Befundes und vieler weiterer nicht erwähnter Dinge mein Geschlecht? Wenn ich Listen der möglichen Geschlechter durchgehe, gibt es einiges, das auf mich passt, oder zu dem ich eine gewisse Anlage in mir sehe. Ich denke, dass ich mich unter dem entsprechenden Einfluss in meiner Jugend in verschiedene Richtungen hätte entwickeln können. Rückblickend meine ich, dass eine solche Vielfalt von Optionen mich überfordert und verwirrt hätte. Ich bin sehr dankbar dafür, dass mein unmittelbares Umfeld mich überwiegend so sein ließ, wie ich war. Wahrscheinlich entwickelte ich deshalb nie eine ernsthafte Ablehnung meiner weiblichen Identität, auch wenn mir Vorbilder, mit denen ich mich identifizieren konnte, weitgehend fehlten. Statt mich in ein neues Geschlecht einzuordnen, möchte ich lieber die Definition dessen, was eine Frau ist, so weit fassen, dass ich voll dazugehöre.

Und das bringt mich zur Eingangsfrage, was die Christin und Naturwissenschaftlerin in mir zu dem Thema denkt. Die Naturwissenschaftlerin sieht zunächst die biologischen Fakten: Chromosomen, Hormone und äußere Geschlechtsmerkmale passen bei mir zusammen. Bei intersexuellen Personen ist die Situation ganz anders. Die Naturwissenschaftlerin in mir interessiert sich auch für Studien und Erfahrungsberichte zum Thema Geschlecht und möchte sich möglichst unvoreingenommen mit den Fakten befassen. Dabei stelle ich mir viele Fragen und weiß oft noch nicht einmal, ob es zu einer Frage schon solide Erkenntnisse gibt, die beim Fortgang der Wissenschaft bestehen bleiben werden. Ich erkenne, dass ich hier sehr wenig Fachwissen habe und daher nicht allzu viel zu dem Thema sagen sollte.

Als Christin betrachte ich mich als Geschöpf Gottes und möchte mit dem Körper und der geistigen Ausstattung, die Gott mir mitgegeben hat, verantwortungsvoll umgehen. Für mich sind die im Christentum verankerten moralischen und ethischen Leitlinien ein hilfreiches Geländer, das mir Orientierung gibt; ich empfinde sie nicht als Zwangsjacke.

Aber mir ist bewusst, dass andere dies anders erleben, darunter auch viele Christen. Hier gilt es zunächst einmal, sich an das wichtigste Gebot zu halten, das Gott uns Menschen für unser Miteinander gegeben hat, nämlich Liebe und Barmherzigkeit zu üben. Wenn dies die oberste Priorität hat, können Christen auch mal kontrovers um die rechte Bibelinterpretation ringen und um die passende Anwendung von Gottes Leitlinien für unser Leben in der heutigen Zeit.

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