Kann die Wissenschaft nur Gegenwärtiges erforschen?

Neulich las ich auf einer Webseite, dass die Wissenschaft nur Gegenwärtiges erforschen kann. Ich fragte mich, was damit gemeint sei. Zählen Kosmologie, Paläontologie, Geologie, Archäologie, Kriminalistik und die Geschichtswissenschaften nicht zu den Wissenschaften? Sie alle befassen sich mit Dingen, die in der Vergangenheit geschehen sind. Beim Nachdenken und Weiterlesen wurde mir deutlich, dass man mit dieser Aussage auf verschiedene Dinge abzielen kann und dass ich schon verschiedene Versionen dieser Aussage gehört habe. Diese möche ich im Folgenden besprechen.

1. Wissenschaft kann nur mit gegenwärtig verfügbaren Belegen und Daten arbeiten: Dies ist richtig und schränkt unsere Erkenntnismöglichkeiten ein. Wir können nur über diejenigen Ereignisse und Vorgänge etwas erfahren, deren Spuren noch vorhanden und uns zugänglich sind. Wenn ein steinzeitlicher Volksstamm vom Rest der Welt isoliert war und keine mehrere tausend Jahre überdauernden Spuren zurückgelassen hat, werden wir nie erfahren, dass er existiert hat. Wenn gestern ein Stern im Andromedanebel explodiert ist, merken wir nichts davon. Erst in ca. 2,5 Millionen Jahren werden Wesen auf der Erde von dieser Explosion erfahren, da das bei der Explosion abgestrahlte Licht und die Neutrinos so lange zur Erde unterwegs sein werden. Wenn vor 500 Millionen Jahren eine Spezies gelebt hat, von der kein Individuum zu einem Fossil wurde, und wenn auch ihre möglichen Nachfolgespezies ausgestorben sind, werden wir nie etwas über diese Spezies wissen.

2. Wissenschaft kann nur gegenwärtig ablaufende Prozesse erforschen: Dies stimmt nicht. Wenn vergangene Prozesse Spuren hinterlassen haben, können wir diese Spuren untersuchen und auf frühere Prozesse schließen. Der Dieb wird aufgrund seiner Fingerabdrücke überführt. Aus marinen Fossilien in den Bergen folgern wir, dass dort früher einmal ein Meer war. Wenn wir irgendwo Basaltgestein entdecken, bedeutet das, dass dort einst Magma aus dem Erdinneren ausgetreten ist. Als die kosmische Hintergrundstrahlung entdeckt wurde, wurden die meisten Kosmologen davon überzeugt, dass das Universum früher einmal ganz heiß und dicht war, so wie es das Urknallmodell besagt. Auf Basis des Urknallmodells war nämlich postuliert worden, dass man eine solche Strahlung finden müsse. (Davon habe ich im Blogbeitrag „Am Anfang war der Urknall“ erzählt.)

3. Die Naturgesetze könnten sich geändert haben: Unsere Schlüsse auf vergangene Prozesse aus gegenwärtigen Beobachtungen gelten nur dann, wenn die Natur früher nach denselben Regeln funktioniert hat wie heute. Wenn die Lichtgeschwindigkeit früher größer war, liegen die Ereignisse, die wir mit unseren Teleskopen in den Fernen des Universums sehen, weniger weit in der Vergangenheit. Wenn die Kernkräfte früher anders waren, waren die radioaktiven Zerfallszeiten anders, und unsere Datierungsmethoden schließen auf das falsche Alter. Allerdings haben die Physiker an genau diese Möglichkeiten gedacht und eine Vielfalt von Berechnungen und Messungen durchgeführt, um zu überprüfen, ob die Naturkonstanten sich geändert haben. Dazu gehören die Messung der Spektren weit entfernter Sterne ebenso wie die Auswertung der relativen Häufigkeit verschiedener radioaktiver Kerne. Die gemeinsame Erkenntnis dieser und aller anderen Untersuchungen ist, dass sich die Naturkonstanten nicht geändert haben oder nur so wenig, dass wir es nicht nachweisen können.

4. Daten aus der Vergangenheit sind vielfältig interpretierbar, vor allem wenn die Ereignisse sehr weit zurück liegen: Für eine isolierte Beobachtung ist dies völlig richtig. Wenn man ein Fossil findet, das aussieht wie ein Meeressäuger mit Hinterbeinen, müssen wir daraus noch nicht folgern, dass Wale sich aus Landlebewesen entwickelt haben. Es könnte sich um eine eigenständige Art handeln, die nicht näher mit Walen oder Landlebewesen verwandt ist. Wale könnten von Anfang an so ausgesehen haben wie heute. Doch wenn man ganze Folgen solcher Fossilien findet mit verschiedenem Ausmaß der Anpassung ans Meer (von Beinen zu Hinterflossen, Nase wandert nach oben, etc.), und wenn diese Fossilien genau in den geologischen Schichten liegen, in denen man sie erwartet, wenn es eine Evolution von Huftieren der Zeit des Eozän hin zu Meeressäugern gab, dann wird es schwierig, eine alternative Interpretation dieser Funde zu finden. Für bestimmte Details des Stammbaums der Wale mag es durchaus noch miteinander konkurrierende Hypothesen geben, aber nicht für die große Linie. Ähnlich ist es bei vielen Erkenntnissen der Kosmologie und Geologie. Die wissenschaftlich etablierte Geschichte des Universums und der Erde beruht auf einer Fülle unabhängiger Daten, für die es in ihrer Gesamtheit keine andere plausible Erklärung gibt. Zumindest hat bisher niemand eine überzeugende alternative Erklärung für die Gesamtheit der Daten vorgeschlagen. Wissenschaftliche Diskussionen betreffen einzelne Aspekte, nicht das große Ganze. Man kann eher umgekehrt sagen, dass es erstaunlich ist, dass eine solch große Fülle verschiedener Daten sich zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenfügt.

5. Gegenwärtiges können wir direkt beobachten, Vergangenes nur indirekt: Es stimmt, dass wir Vergangenes nicht direkt beobachten können. Doch genauso wenig nehmen wir die meisten gegenwärtige Dinge direkt wahr. Niemand hat ein Virus, ein Elektron oder gar das Higgs-Teilchen direkt gesehen. Wir benötigen hierfür aufwendige Messgeräte, deren Ausgabe wir mit Hilfe von Berechnungen und auf Basis eine theoretischen Vorverständnisses erst einmal interpretieren müssen. Die von Elektronenmikroskopen gelieferten Bilder von Viren erscheinen uns hierbei noch deutlich „direkter“ als die Signale der Detektoren des CERN, aus denen man die Existenz des Higgs-Teilchens folgerte. Auch dass im Inneren der Sonne Wasserstoff zu Helium fusioniert wird, hat niemand direkt gesehen. Die Prozesse im Inneren der Sonne folgern wir aus einem ganzen Netzwerk von Beobachtungen und Berechnungen. Aus den Spektrallinien der Sonne schließen wir, dass sie zu 75% aus Wasserstoff besteht. Mit Hilfe des Gravitationsgesetzes und der Bahn der Erde um die Sonne bestimmen wir die Masse der Sonne. Um die Temperatur und den Druck im Sonneninneren zu ermitteln, verwenden wir die Gesetze der Thermodynamik. Dass diese Bedingungen für Kernfusion geeignet sind, berechnen wir aus den Erkenntnissen der Kernphysik. Schließlich überprüfen wir, dass diese Kernfusion tatsächlich stattfindet, indem wir die dabei erzeugten Neutrinos messen, die aus dem Inneren der Sonne strömen und in großer Zahl auf die Erde treffen.

6. Wissenschaft kann nur Wiederholbares erforschen, nicht Einmaliges: Es kommt darauf an, worauf man „Wiederholbares“ bezieht. Damit wissenschaftliche Ergebnisse überprüfbar sind, muss es möglich sein, dass jemand anders die Messung wiederholen kann oder auf dieselben Daten zugreifen und sie selbst auswerten kann. Wissenschaft muss objektiv und nachvollziehbar sein, sonst ist sie keine Wissenschaft. Aber das bedeutet nicht, dass Wissenschaft sich nur mit Vorgängen befassen kann, die wir im Labor reproduzieren können oder die unter unserer Kontrolle stehen. Wie weiter oben gesagt, haben vergangene Ereignisse Spuren hinterlassen, die wir untersuchen können. Aus solchen Spuren folgern wir, dass die Kontinente gedriftet sind, dass Meteoriten an verschiedenen Stellen der Erde eingeschlagen haben und dass es früher einmal Dinosaurier gab. Selbst bei vergangenen Ereignissen, die in derselben Form heute nicht mehr passieren (z.B. intensive Bombardierung der Erde mit Meteoriten in ihrer Frühzeit oder katastrophale Flutwellen durch das Auslaufen von riesigen Gletscherseen am Ende der Eiszeit) sind die zugrunde liegenden Naturgesetze dieselben, so dass wir uns mit Modellen oder Computersimulationen oder Berechnungen erarbeiten  können, wie solche Ereignisse entstehen und sich auswirken.

7. Bei Ursprungsforschung werden die Erkenntnisse stark von der Weltanschauung beeinflusst: Der Begriff „Ursprungsforschung“ wird in der universitären Forschung kaum verwendet. Er wird in gewisser christlicher Literatur verwendet, wenn von der Geschichte des Universums oder des Lebens auf der Erde die Rede ist. Damit wird suggeriert, dass die Frage nach der Entstehung von Sternen oder der Erde oder der Dinosaurier sehr viel spekulativer und unzuverlässiger ist als Forschung, die eher im Labor stattfindet, und dass sie rein wissenschaftlich womöglich nicht zu beantworten sei. Doch die Erforschung der Entwicklung des Universums, der Erde und der biologischen Arten ist ein zentraler Bestandteil der normalen naturwissenschaftlichen Forschung an Universitäten und Forschungseinrichtungen, und ihre Hypothesen und Schlussfolgerungen lassen sich mit verschiedenen wissenschaftlichen Methoden testen und weiterentwickeln. Dass die Weltanschauung diese Forschung beeinflusst (und übrigens auch jede andere Forschung), lässt sich nie ganz verhindern, doch es gibt gute Mittel, diese Einflüsse zu minimieren, wie ich in einem früheren Blogbeitrag diskutiert habe. An weltanschaulichen Fragen kommt man nur dann grundsätzlich nicht vorbei, wenn es um die Frage nach der Letztursache geht, also nach dem Ursprung des Universums und der Naturgesetze an sich. Bei dieser Frage haben wir es nämlich nicht mehr mit Wissenschaft zu tun, denn die Wissenschaft kann nur erkunden, was geschieht, wenn es das Universum und die Naturgesetze schon gibt. Sie kann nicht die Frage beantworten, ob Gott das Universum aus dem Nichts geschaffen hat oder ob das Universum aus irgendeinem materiellen Substrat hervorging. Sie kann auch nicht sagen, ob das, was in diesem Universum geschieht und entsteht, von jemandem geplant und gewollt ist und von ihm beständig abhängig ist. Dies sind weltanschauliche Fragen, zu denen die Naturwissenschaft schweigen muss.

All diese Überlegungen zeigen, dass die einfache Einteilung der Forschung in „Einmaliges“ und „Wiederholbares“, in „Ursprungsfragen“ und „Gegenwartsfragen“ nicht wirklich angemessen ist. Naturwissenschaftliche Forschung kann im Prinzip auf alle Vorgänge in der Natur angewendet werden, über die wir Daten und Erkenntnisse gewinnen können. Freilich muss sie ihre Methoden jeweils dem Untersuchungsgegenstand anpassen. In der Ökologie arbeiten wir anders als in der Molekülphysik, in der Geologie anders als in der Kosmologie. Für mich als christliche Wissenschaftlerin gibt es keinen Widerspruch zwischen der Erforschung der Entwicklung des Universums und dem Glauben an Gott als Schöpfer. Im Gegenteil, die Tatsache, dass die Vorgänge in der Welt so gesetzmäßig sind, dass wir sie erforschen können, und die Fähigkeit des menschlichen Verstandes, so vieles über das Universum zu herauszufinden, sind für mich ein starker Hinweis auf den Schöpfer!

Hinweis: Zur Frage, ob sich die Naturkonstanten geändert haben, gibt es hier einen kurzen informativen Artikel auf Englisch. 

Wie die Wissenschaft darauf kam, dass die Erde alt ist und dass es einen Urknall gab, habe ich vor einem Jahr erzählt. Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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