Forscht, wer an Gott glaubt, anders?

Vor 20 Jahren saß ich auf einer Konferenz über die Modellierung von Evolutionsprozessen in Ungarn beim Frühstück dem bekannten Evolutionsbiologen Eörs Szathmáry gegenüber. Er fragte mich, wie ich dazu kam, als Physikerin an der Evolutionstheorie zu forschen. Ich erzählte ihm, dass mein christlicher Glaube mich dazu motivierte. Ich war mit der Lehre aufgewachsen, dass die Evolutionstheorie falsch sei. Durch die Auseinandersetzung mit meinem Chef in den USA wurde mir klar, dass ich mich nie gründlich über den Wissensstand zu Evolution informiert hatte. Als Christin fühlte ich mich aber verpflichtet, aufrichtig zu sein und mich über die Fakten zu informieren. Schnell wurde ich nach Lektüre einiger Bücher davon überzeugt, dass Evolution stattgefunden hat. Aber die Erklärungen darüber, wie Evolution funktioniert, fand ich nicht ausreichend. Um mehr darüber zu lernen, habe ich dann beschlossen, in dieses Forschungsgebiet einzusteigen. Eörs Szathmáry hörte offen zu und meinte, dies sei eine interessante Geschichte…

Seit der damaligen Zeit stellte ich mir immer wieder die Frage, ob Christen am Thema „Evolution“ und auch an anderen naturwissenschaftlichen Themen anders forschen als Atheisten. Ich merke, wie mein Glaube an Gott meine Erwartung darüber prägt, wie die Natur beschaffen sein könnte. Als ich zum ersten Mal von der „Müll-DNA“ las, also von den Teilen der DNA, von denen man damals nicht wusste, wofür sie gut sein sollen, dachte ich: „Welch ein Vorurteil! Das folgert man nur deshalb, weil man meint, der Evolutionsprozess sei ein blöder und einfacher Prozess.“ Ähnlich ging es mir, als Transposons als „egoistische Elemente“ oder „Parasiten“ bezeichnet wurden. Da dachte ich: „Schon wieder so ein Vorurteil, weil man natürliche Selektion als einzige treibende Kraft von Evolution betrachtet. Transposons könnten doch von der Zelle für nützliche Zwecke verwendet werden!“ Inzwischen ist die Wissenschaft weiter gekommen. Es ist klar geworden, dass die „Müll-DNA“ kein „Müll“ ist, sondern dass sie sogar zum großen Teil gelesen wird. Dabei erzeugte kleine RNA-Moleküle beeinflussen die Aktivität von Genen. Andere Teile der DNA dienen als Vorratskammer für die Entwicklung neuer Gene, als Kennsequenzen für Einfügungen und für das Binden von anderen Molekülen, als Stütze oder Gerüst zur Ausbildung der dreidimensionalen DNA-Konfiguration und für manches andere.

Das klingt doch gut, oder? Wie großartig wäre es, wenn ich viele weitere Beispiele anfügen und behaupten könnte, dass meine Intuition immer die richtige war, weil mein Glaube an Gott mir ja das richtige Verständnis der Natur vermittelt. Doch es gibt auch die Gegenbeispiele, wo mein Glaube dafür gesorgt hat, dass ich länger brauchte, um von einer wissenschaftlichen Tatsache überzeugt zu werden. Oben habe ich ja angedeutet, dass meine christliche Sozialisation mich bis ins Alter von 32 Jahren daran gehindert hat, die klaren Belege dafür, dass Evolution stattgefunden hat, überhaupt wahrzunehmen. Und heute ist es immer noch so, dass ich aufgrund meines Glaubens an Gott zögerlich bin anzuerkennen, wenn in der Biologie etwas tatsächlich unnütz oder gar schädlich oder grausam ist.

In der Geschichte der Naturwissenschaft gibt es viele Beispiele dafür, dass die weltanschaulichen Überzeugungen zunächst bestimmten, welche Entdeckungen begrüßt oder welche Ideen abgelehnt wurden. Mein Lieblingsbeispiel dafür, dass der christliche Glaube einen Forscher inspirieren kann, ist Johannes Kepler. Weil er davon überzeugt war, dass Gott ein großer Mathematiker ist, erwartete er, dass sich die Bahnen der Planeten durch mathematische Gesetze beschreiben lassen. Er arbeitete (neben anderen Dingen) 20 Jahre lang daran, diese Gesetze zu finden. Er zweifelte nicht daran, dass er sie finden würde, weil er glaubte, dass Gott uns Menschen als sein Ebenbild geschaffen hat und daher möchte, dass wir an seinen Gedanken ein Stück weit teilhaben. Und tatsächlich fand er drei Gesetze für die Planetenbahnen. Doch gleichzeitig gab es damals viele Personen, die den Gedanken, dass die Planeten um die Sonne kreisen, mit dem Verweis auf Bibelstellen ablehnten, siehe meinen Blogbeitrag vom 27.9.2020.

Auch die Geschichte der Entdeckung des Urknalls ist von weltanschaulichen Auseinandersetzungen geprägt, wie ich am 24.10.2020 erzählt habe. Zunächst wurde der Urknall von vielen Atheisten abgelehnt, weil sie meinten, das rieche zu sehr nach einem Schöpfungsakt. Derjenige, der den Urknall zuerst vorgeschlagen hat, war nicht nur Physiker, sondern auch Priester. Für ihn war die Idee des Urknalls kein Problem. Doch als die Belege für den Urknall sich immer mehr häuften, ließen sich auch fast alle Skeptiker überzeugen und akzeptierten den Urknall. Die weltanschaulichen Überzeugungen äußern sich heute nicht mehr darin, ob man an den Urknall glaubt, sondern in welchen Kontext man gedanklich diesen Urknall einbettet, wie z.B. in ein Multiversum.

Die Geschichte der Entdeckung des Urknalls ist ein schönes Beispiel dafür, wie die Naturwissenschaft funktioniert: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ganz verschiedenem weltanschaulichen und kulturellen Hintergrund arbeiten an denselben Forschungsfragen, oft sogar in derselben Arbeitsgruppe oder am selben Institut. Auf Tagungen tauschen sie sich weltweit über ihre Ergebnisse aus und diskutieren dabei durchaus auch mal heftig und kontrovers. Manchmal können Kontroversen Jahre oder gar Jahrzehnte dauern. (Die 150 Jahre, die es dauerte, bis die Lehre, dass die Erde um die Sonne kreist, allgemein anerkannt war, sind dabei ein besonderer Extremfall.) Wenn die beteiligten Personen intellektuell redlich sind und von Neugier und Wissensdrang geprägt sind, wird dieser Prozess schließlich dahin führen, dass solides naturwissenschaftliches Wissen erarbeitet wird, das weiterer Überprüfung standhält und auf das in der zukünftigen Forschung aufgebaut werden kann.

Ein gutes Beispiel dafür, wie Wissenschaftler durch die Fachdiskussion und die offene Betrachtung der Fakten zum Umdenken gebracht wurden, ist eine Episode aus der Geschichte der Geologie vor 200 Jahren. Führende Geologen der damaligen Zeit, insbesondere William Buckland und Adam Sedgwick, waren gleichzeitig Theologen. Sie waren aufgrund ihres Verständnisses der Bibel davon überzeugt, dass es eine weltweite Flut gegeben hatte, und dass man Spuren dieser Flut in Ablagerungen auf der Erdoberfläche erkennen könne. An vielen Orten in England und Schottland war der Felsboden von unregelmäßigen Ansammlungen von Kies, Sand und Felsbrocken bedeckt. Buckland schrieb 1823 eine Abhandlung mit dem Thema „Reliquiae diluvianae“ (Überreste der Sintflut), in der er argumentierte, dass diese Ablagerungen von der Flut hinterlassen worden waren. (Daran, dass die Sintflut auch für die geologischen Schichten im festen Gestein unter diesen Ablagerungen verantwortlich war, glaubten Geologen schon seit ca. 1750 nicht mehr.) Doch diese Theorie hatte ein paar Probleme: Es gab riesige erratische Felsblöcke, von denen man sich schlecht vorstellen konnte, dass Wasser sie angeschwemmt hatte. Außerdem waren die Kanten der abgelagerten Steine nicht glattgespült. Der felsige Untergrund, auf dem sie lagerten, war von Kratzspuren bedeckt. Damals kam eine alternative Theorie auf, nämlich dass Gletscher diese Ablagerungen antransportiert hatten. Ein Hauptvertreter dieser Theorie war Louis Agassiz, ebenfalls ein überzeugter Christ. Er war der Erste, der erkannte, dass es eine Eiszeit gegeben haben muss, in der weite Teile Europas von Gletschern bedeckt waren. In Bezug auf die Sintflut meinte er, dass sie nur ein räumlich begrenztes Ereignis war. Als Sedgwick und Buckland sich in den Bergen ein eigenes Bild davon machten, wie Gletscher Gestein transportieren und ablagern, wurden sie davon überzeugt, dass die Geröllablagerungen von Gletschern stammen müssen. Damit lösten sich die Rätsel, die die Fluttheorie aufgab: Gletscher können auch riesige Felsblöcke transportieren. Das im Gletscher eingeschlossene Gestein hinterlässt auf den Felsen, über die der Gletscher fließt, Kratzspuren. Und Gletscher lassen die transportierten Steine so kantig, wie sie anfangs waren, und glätten sie nicht. Bemerkenswert ist eine Rede, die Adam Sedgwick aufgrund dieser Erfahrung des Umdenkens im Jahr 1831 als Präsident der Geological Society in London gehalten hat:

„Nachdem ich lange etwas glaubte und nach außen vertrat, was ich inzwischen als eine philosophische Häresie betrachte, und nachdem ich dafür zitiert werde, halte ich es nun für richtig, als eine letzte Handlung, bevor ich den Posten des Präsidenten abgebe, einen Widerruf zu verkündigen. Inzwischen ist es unbestreitbar erwiesen, dass die großen Mengen an Gesteinsablagerungen, die fast überall auf der Erdoberfläche verteilt sind, nicht auf ein einziges heftiges, kurzlebiges Ereignis zurückgehen. Wir hätten innehalten sollen, bevor wir die Fluttheorie akzeptierten und all diese alten Geröllablagerungen auf der Erdoberfläche auf die Mosaische Flut schoben. Wir haben weit voneinander entfernte Formationen, von denen wir viele nicht selbst gesehen hatten, unter einer Bezeichnung zusammengefasst und sie auf denselben Ursprung zurückgeführt. Wir haben den Zeitpunkt ihrer Entstehung nicht auf Basis der organischen Reste in ihnen bestimmt, sondern aufgrund dessen, was wir erwarteten, innerhalb der Ablagerungen zu finden. Damit haben wir ein neues Beispiel dafür geliefert, mit welcher Leidenschaft unser Denken sich auf allgemeine Schlussfolgerungen festlegt, und wie leicht wir es versäumen, Fakten zu beachten, die nicht dazu passen.“

Doch ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass es immer die weltanschaulichen Voreinstellungen sind, die die anfängliche Haltung eines Forschers zu wissenschaftlichen Ideen prägen. Die menschliche Seele ist vielschichtig und durch viele, oft miteinander im Widerspruch stehende Einflüsse geprägt. Zum Beispiel habe ich früher trotz meines Glaubens wissenschaftliche Sichtweisen übernommen, von denen ich heute meine, dass sie mit dem Glauben nicht gut zusammenpassen. Als ich anfing, Physik zu studieren, dachte ich, man würde eines Tages die allumfassende „Theory of Everything“ finden, die die ganze materielle Welt beschreibt. Und ich wählte die Elementarteilchenphysik als Wahlpflichtfach, weil ich dachte, dass dies die fundamentale Physik sei, die alles andere implizit enthält. Doch im Laufe vieler Jahre Forschung und Lehre wurde mir immer deutlicher, dass diese beiden Sichtweisen Produkte reduktionistischer und physikalistischer Überzeugungen und nicht etwa das direkte Ergebnis physikalischer Forschung sind. Hier war ich dem starken Einfluss der populärwissenschaftlichen Bücher erlegen, die ich während meiner Schulzeit las, und später im Studium der geistigen Atmosphäre, die in Vorlesungen und Lehrbüchern recht weit verbreitet ist.

Die im Titel gestellte Frage, ob an Gott glaubende Wissenschaftler anders forschen, muss daher mit einem klaren Jein beantwortet werden. Unser Glaube, unsere Bibelinterpretation, unsere konfessionelle und kulturelle Färbung prägen unser Denken und unsere Erwartungen, aber ebenso auch unsere Erziehung und Schulbildung, Freunde und Lieblingsbücher, geschmackliche Vorlieben und Freizeitgruppen, unser Temperament und unser Geschlecht. Deshalb ist es so wichtig, dass in der Forschung eine bunte Vielfalt von Menschen zusammenarbeiten, deren blinde Flecken und Einseitigkeiten jeweils durch die anderen in Frage gestellt und korrigiert werden können.

Literaturhinweise: Die Geschichte von Agassiz und Buckland kann man hier nachlesen. Was Transposons sind und wie sie entdeckt wurden, habe ich im Blogbeitrag vom 10.4. erzählt.









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