Nachruf auf Steven Weinberg

Am 23. Juli starb Steven Weinberg, einer der großen Physiker des letzten Jahrhunderts und ein bekennender Atheist. Er bekam im Jahr 1979 den Nobelpreis für seinen Beitrag zur Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung. Weinberg hatte erkannt, dass die elektromagnetischen Kräfte und die schwache Kernkraft zusammen eine Einheit bilden. Seine Theorie ist die Fortsetzung dessen, was Maxwell im 19. Jahrhundert erreichte: Maxwell zeigte, dass elektrische und magnetische Phänomene eine Einheit bilden.

Seit seiner Entdeckung hoffte Weinberg und mit ihm viele andere Physikerinnen und Physiker, dass es eines Tages gelingen würde, eine erweiterte vereinheitlichte Theorie zu finden, in der auch die verbleibenden beiden grundlegenden Kräfte der Physik, nämlich die starke Kernkraft und die Gravitation, ihren Platz finden. Solch eine Theorie wäre nach seiner Auffassung eine „Weltformel“, die alles bestimmt, was in der Welt passiert. In seinem Buch „Dreams of a Final Theory“ hat Weinberg diesen Traum beschrieben.

Die Hoffnung, eine solche Theorie zu finden, scheint durch die beeindruckenden Erfolge der Teilchenphysik gerechtfertigt. Die Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung und die Theorie der starken Wechselwirkung haben die Existenz mehrerer Teilchen vorhergesagt, die später durch Experimente am großen Teilchenbeschleuniger am CERN tatsächlich entdeckt wurden: die Z- und W-Bosonen, das Top-Quark und das Higgs-Teilchen. Zu diesen Vorhersagen kam man, weil man die Theorien auf Symmetrie- und Einfachheitsprinzipien gründete.

Weinberg war zeitlebens ein beliebter Interviewpartner für die Medien, da er physikalische Zusammenhänge anschaulich vermitteln konnte und sich auch offen zu weltanschaulichen Fragen äußerte. Durch seine populärwissenschaftlichen Bücher erreichte er ein breites Laienpublikum. Am bekanntesten ist wohl sein Buch „Die ersten drei Minuten“, in dem er erzählt, was nach den Gesetzen der Teilchenphysik in den ersten drei Minuten nach dem Urknall im Universum passierte. Dieses Buch erschien im Jahr 1977; ich las es fasziniert, als ich noch in der Schule war. Darin steht sein oft zitierter Satz: „Je besser wir das Universum verstehen, desto sinnloser erscheint es.“

Zu diesem Urteil kommt er, weil er meint, dass wissenschaftliche Erklärungen die religiösen Erklärungen abgelöst haben. In einem bekannten Essay mit dem Titel „Without God“ erklärt er, wie er das Verhältnis von Naturwissenschaft und Religion sieht. Da er exzellente Wissenschaftler kennt, die überzeugte Christen sind (wie z.B. Francis Collins und John Polkinghorne), will er nicht behaupten, dass Wissenschaft und Religion einander direkt widersprechen. Man kann seiner Meinung nach gleichzeitig Wissenschaftler und ein gläubiger Mensch sein. Aber die Wissenschaft habe es möglich gemacht, die Welt ohne Gott zu verstehen. Dies habe die Religion deutlich geschwächt, und der Glaube würde in den westlichen Ländern daher abnehmen. Weinberg zählt vier Bereiche auf, in denen Wissenschaft und Religion seiner Meinung nach in Spannung zueinander stehen. Ich fasse diese Punkte im Folgenden zusammen:

  1. Früher beruhte die Macht von Religionen stark auf mysteriösen Phänomenen: Donner, Erdbeben und Krankheiten wurden als direkte Intervention göttlicher Wesen angesehen. Doch nun können die Wissenschaften diese Phänomene erklären. Dies war für die Anhänger der Religionen seit Beginn der Wissenschaft beunruhigend. Viele von ihnen klammern sich heutzutage an die verbleibenden Verstehenslücken und verwenden sie als Evidenz für Gott. Insbesondere die Tatsache, dass die Wissenschaft die Entstehung des ersten Lebens noch nicht erklären kann, wird als Argument für Gott verwendet. Doch mit dem Fortschreiten der Wissenschaft werden die Erklärungslücken nach und nach geschlossen, und für Gott bleibt immer weniger Platz.

  2. Die wissenschaftlichen Entdeckungen haben immer mehr Zweifel an der Sonderstellung des Menschen gesät: während früher die Erde als Mittelpunkt der Welt die Theaterbühne war, auf der der Mensch zwischen Gut und Böse kämpft und von Gott dabei beobachtet wird, ist sie nun ein unbedeutender Ort im Universum geworden: Sie ist nur einer von mehreren Planeten, die um die Sonne kreisen; die Sonne ist nur einer von hundert Milliarden Sternen in unserer Galaxie; unsere Galaxie ist nur eine von Milliarden von Galaxien. Die Sonderrolle des Menschen in der Natur wird durch die Evolutionstheorie in Frage gestellt. Die Menschen entstanden durch Mutation und Selektion, ohne die Notwendigkeit eines Schöpfers. Und in Zukunft wird die Wissenschaft zeigen, dass unser Verhalten durch die Chemie und Physik des Gehirns erklärt wird, und dann wird die immaterielle Seele überflüssig.

  3. Da die Naturgesetze bestimmen, was in der Welt passiert, sind Gott die Hände gebunden. Weinberg meint, dass man aus diesem Grund besonders im Islam der Vorstellung von Naturgesetzen skeptisch gegenübersteht. Er beruft sich hier auf den muslimischen Theologen und Philosophen Abu Hamid al-Ghazzali (um 1100 n. Chr.) Das Christentum hätte auf die Idee von Naturgesetzen anderes reagiert, weil große mittelalterliche Theologen wie Thomas von Aquin und Albertus Magnus die Philosophie des Aristoteles und damit die Idee von Naturgesetzen bewahrt hätten.

  4. Traditionelle Religionen berufen sich auf Autoritäten, die als unfehlbar gelten, seien es Personen wie Propheten, Päpste und Imame oder heilige Schriften wie die Bibel oder der Koran. Die Naturwissenschaft dagegen geht mit Autoritäten anders um. Wer heute die Allgemeine Relativitätstheorie lernen will, liest nicht die Originalarbeit von Einstein, sondern ein gutes neueres Lehrbuch. Heutige Wissenschaftler verstehen die Allgemeine Relativitätstheorie besser, als Einstein es tat.

Weinberg klagt im weiteren Verlauf seines Essays darüber, dass vermeintlich gläubige Menschen heutzutage oft nicht mehr viel Glauben haben. Wenn er seine in die Kirche gehenden Freunde fragt, ob sie an ein Leben nach dem Tod oder Gottes Gericht glauben, hätten sie keine klaren Antworten. Für sie sei nicht wichtig, was man glaubt, sondern wie man lebt. Aber ihm als Naturwissenschaftler ginge es darum herauszufinden, was wahr ist, und nicht, was glücklich macht. Dem, was er als wahr erkannt hat, möchte Weinberg sich ehrlich stellen. Deshalb warnt er diejenigen, die den Glauben an Gott verloren haben, davor, sich einen Ersatz zu suchen, den sie anbeten können. Man solle nichts und niemanden anbeten. Man müsse akzeptieren, dass Wissenschaft keinen wirklichen Trost bietet; sie könne keinen Sinn des Lebens vermitteln und biete keine objektive Grundlage für moralische Prinzipien. Die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod und ein Wiedersehen mit geliebten Menschen sei durch die Wissenschaft vergangen. Es bleibe uns nur, uns dieser Situation ohne Verzweiflung oder Wunschdenken und mit Humor zu stellen. Immerhin bleiben uns in diesem Leben viele schöne Dinge: Die Schönheit der Natur, die Freuden des Genusses und der Kunst.

Die Ehrlichkeit Weinbergs ist beeindruckend. Seine Trauer darüber, dass die Wissenschaft eine trostlose Welt beschreibt, die keinen Sinn hat und keine Hoffnung über dieses Leben hinaus bietet, ist spürbar. Mir scheint, dass seine Schlussfolgerungen auf seinem reduktionistischen Verständnis der Gesetze der Physik beruhen. Für ihn legen die ‚fundamentalen‘ Gesetze der Physik alles fest, was in der Natur passiert. Eigentlich verdient jeder der vier oben genannten Punkte Weinbergs eine ausführliche Antwort. Man müsste über Erst- und Zweitursachen reden, über verschiedene Erklärungsebenen, über die Unvollständigkeit der Gesetze der Physik, über die kausale Offenheit der Natur, über die christlichen Grundlagen der Idee von Naturgesetzen und viele andere Dinge. Doch das würde diesen Blogbeitrag zu einem langen Aufsatz aufblähen. Manches davon habe ich in in meinen Blogbeiträgen „Lassen die Naturgesetze Raum für Gottes Wirken“ vom 19.6. und „Was ist die Seele“ vom 26.6. diskutiert. Anderes wird anhand von Ausführungen von Alister McGrath und Peter Harrison in Blogbeiträgen in den kommenden Wochen besprochen werden.

Zum Abschluss sei noch ein Kommentar Weinbergs zu Pascals Wette erwähnt, den man in diesem kurzen Youtube-Video findet. Der christliche Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623-1662) verglich einmal die Entscheidung zu glauben oder nicht zu glauben mit einer Wette: Wenn das Christentum nicht stimmt und mit dem Tod alles aus ist, verliert man nichts, wenn man trotzdem geglaubt hat. Wenn das Christentum aber Recht hat und man nicht an Gott geglaubt hat, muss man dafür ewig in der Hölle leiden. Also sei es auf jeden Fall besser zu glauben, egal ob das Christentum stimmt oder nicht. Weinbergs Kommentar hierzu ist Folgender: Pascal stellt fälschlicherweise nur zwei Möglichkeiten vor, obwohl es noch mehr gibt. Gott könnte z.B. jemand sein, der nicht möchte, dass die Menschen nur aus Furcht vor Strafe an ihn glauben, und Menschen, die dies tun, in die Hölle schickt. Dagegen gewährt er solchen Leuten die ewige Seligkeit, die ehrlich nach der Wahrheit suchen, auch wenn das Ergebnis ihrer Suche ist, dass sie nicht an ihn glauben.

Mit dem letzten Satz ist Weinberg gar nicht so weit weg von biblischen Aussagen, dass Gott das Herz ansieht und dass er ein gerechter Richter ist….

Hinweise: Den Text zu „Without God“ findet man hier. Einen ausführlichen englischen Nachruf auf Weinberg brachte die New York Times, einen lesenswerten deutschen Nachruf die Zeit. Ein längeres Interview mit Weinberg über seinen Atheismus bringt die Serie „The Atheism Tapes“.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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