Was ist die Seele?

In der Alltagssprache und besonders im christlichen Kontext kommt die Seele häufig vor: Wir tun etwas „mit Leib und Seele“, die Pfarrer betreiben „Seelsorge“, und das höchste Gebot der Bibel bezieht die Seele ein: „Du sollte den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ (5. Mose 6,5). In der Psychologie dagegen und erst recht in der Biologie wird nicht mehr von der Seele geredet. Heißt das, dass die Seele ein veraltetes Konzept ist, das man heute nicht mehr ernst nehmen kann? Hat die Naturwissenschaft nun all unser Fühlen und Wollen und Denken auf neurophysiologische Vorgänge reduziert und durch sie erklärt? Ist die Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele und dem Weiterleben nach dem Tod wissenschaftlich widerlegt?

Um diesen Fragen nachzugehen, untersuchen wir zunächst, wie der Begriff „Seele“ in der Bibel verwendet wird. Das Wort für „Seele“ im hebräischen Alten Testament ist nefesch (oft auch als näfäsch transkribiert). Dieses Wort steht zum Beispiel im Psalm 103,1: „Lobe den Herrn, meine Seele“. Doch die Übersetzung mit „Seele“ trifft die Bedeutung von nefesch nicht wirklich, und oft wird nefesch auch anders übersetzt. Zum ersten Mal tritt dieses Wort in 1. Mose 1,20 auf: „Und Gott sprach: Es wimmle das Wasser von lebendigen Wesen [...]“ (Übersetzung Züricher Bibel) Hier bezeichnet nefesch also allgemein ein Lebewesen. Ähnlich ist es bei der in 1. Mose 2,7 beschriebenen Erschaffung des Menschen: „Da bildete der HERR, Gott, den Menschen aus Staub vom Erdboden und blies Lebensatem in seine Nase. So wurde der Mensch ein lebendiges Wesen.“ (Wieder nach der Züricher Übersetzung.) Manche Übersetzungen, z.B. die Elberfelder Bibel, schreiben hier sogar „eine lebendige Seele“. Nefesh ist also das, was Menschen und Tiere zu Lebewesen macht. Nefesh bedeutet auch Kehle oder Schlund und steht mit dieser Bedeutung für menschliche Bedürfnisse und menschliches Begehren. Der Wikipedia-Eintrag zu nefesch fasst die Bedeutung dieses Begriffs so zusammen: „Ungefähr lässt sich die Nefesch als 'die Vitalität, die sprudelnde Lebensenergie, die Leidenschaftlichkeit' umschreiben.“ Die Vorstellung einer nichtmateriellen Seele, die bei der Erschaffung des Menschen zum Körper dazugegeben wird und ihn nach dem Tod wieder verlässt, ist dem alttestamentlichen Denken fremd. Der lebendige Mensch als Ganzer ist nefesch.

Im Neuen Testament ist es nicht grundlegend anders. Das griechische Wort für „Seele“ im Neuen Testament ist psyche und bezeichnet einerseits die Lebendigkeit an sich und ist andererseits der Inbegriff geistiger Fähigkeiten und verschiedener Bedürfnisse. Hier ein paar Beispiele: Matth. 2,20: „sie sind gestorben, die dem Kindlein nach dem Leben getrachtet haben.“ Joh. 10,11: „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“ Matth. 16,25: „Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.“ Röm. 13,1: „Jedermann (wörtlich 'jede psyche') sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.“ Luk. 12,18+19: „Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin sammeln all mein Korn und meine Güter und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut!“ Luk. 1,46+47: „Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes“.

Die Vorstellung, dass sich beim Tod die Seele von Körper löst, wird im Neuen Testament nicht gelehrt. Sie scheint zwar bei manchen Bibelversen nahezuliegen, doch die eigentliche Hoffnung des Weiterlebens nach dem Tod gründet sich auf die Auferstehung von den Toten, die den Menschen als Ganzen umfasst und bei der er einen neuen, 'geistigen' Leib bekommt (1. Kor. 15,44+45). Laut Paulus wäre mit dem Tod alles aus, wenn es keine Auferstehung gäbe, s. 1. Kor. 15,32: „Wenn die Toten nicht auferstehen, dann »lasst uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot!« (Jesaja 22,13)“

Die Vorstellung, dass die Seele eine eigene 'Substanz' ist, die sich vom Körper trennen kann, findet man in der Antike beim griechischen Philosophen Plato. Die christlichen Philosophen-Theologen des Mittelalters, die Scholastiker, haben ebenfalls diese Vorstellung vertreten. Der frühneuzeitliche Philosoph René Descartes formulierte philosophische Argumente für den Leib-Seele-Dualismus, die bis heute fortwirken. Doch die große Mehrzahl der heutigen Philosophen und Neurowissenschaftler vertritt diesen Substanzdualismus nicht mehr, da er scheinbar nicht damit zusammenpasst, dass Körper und Seele sich bei der Entstehung jedes Lebewesens gemeinsam entwickeln und dass jede Gefühlsregung, jeder Gedanke und jede Entscheidung untrennbar mit Aktivitäten im Gehirn verbunden sind. Auch die Evolutionstheorie wird als Argument gegen den Leib-Seele-Dualismus angeführt.

Leider folgern viele Philosophen und Neurowissenschaftler aus diesen Beobachtungen, dass es gar keine geistige Realität gibt, sondern dass die Gesetze der Physik alles Geschehen in der Welt und insbesondere auch in Lebewesen regieren. Je nach Spielart nennt man diese Sicht Reduktionismus oder Physikalismus. Im letzten Blogbeitrag habe ich im Gegensatz hierzu argumentiert, dass die Gesetze der Physik nicht lückenlos alles Geschehen in der Welt festlegen. Die durch die Physik beschriebene Welt ist kausal offen für Einflüsse von außerhalb der Physik.

Doch auch vielen Gegnern einer reduktionistischen oder physikalistischen Sicht widerstrebt die klassische Auffassung des Substanzdualismus aus den erwähnten Gründen. Eine mit dem biblischen Menschenbild und auch mit dem empirischen Befund besser harmonisierende Sicht ist ein Eigenschaftsdualismus, der anerkennt, dass wir Menschen, auch wenn wir eine untrennbare Einheit sind, sowohl materielle, als auch geistige Eigenschaften oder Seiten haben. Der Begriff „Seele“ wird daher auch nicht überflüssig. Er beschreibt das, was ein lebendiges von einem toten Wesen unterscheidet, und das, was uns als „Ich“ ausmacht. Es gibt verschiedene Bilder hierfür, die allerdings alle ihre Grenzen haben: Manche vergleichen das Verhältnis von Leib und Seele mit dem von Hardware und Software. Manche betonen die Bedeutung von „Information“ als nichtmaterieller Größe, wenn es darum geht, Leben zu charakterisieren. Manche weisen auf die Vorstellung des antiken griechischen Philosophen Aristoteles hin, der die „Materie“ von der „Form“ unterscheidet. Demnach ist die „Seele“ die „Form“ des Körpers, also das was ihm seine Individualität und Lebendigkeit verleiht.

Und was passiert mit der so verstandenen „Seele“ beim Tod? Die naheliegende Auffassung ist, dass der Mensch als Ganzes stirbt und als Ganzes von Gott bei der Auferstehung wieder auferweckt wird. Der Physiker und Theologe John Polkinghorne stellt es sich so vor, dass alles, was uns als Person ausmacht, bei Gott aufgehoben ist, vielleicht ähnlich wie man Software außerhalb ihrer bisherigen Hardware speichern kann, und dass Gott all dies, was uns ausmacht, bei der Auferstehung wieder mit einem (nun anders beschaffenen) Körper versieht. Doch ich möchte mich in dieser Frage nicht zu sehr festlegen. Ich sehe aus Sicht der Physik kein Verbot, dass nicht auch unsere nichtmaterielle Seite nach dem Tod fortbestehen könnte, selbst wenn sie in diesem Leben untrennbar mit unserem Körper verschmolzen ist und keine eigene Substanz ist. Selbst den Substanzdualismus kann man aus Sicht der Physik meines Erachtens nicht streng ausschließen, auch wenn ich ihn unplausibel finde. Heutige Vertreter des Substanzdualismus, wie der Religionsphilosoph Richard Swinburne, bringen verschiedene philosophische Argumente vor, die zu besprechen den Rahmen dieses Blogbeitrags sprengen würde. Mich überzeugen diese Argumente nicht, aber ich finde auch die Gegenargumente nicht zwingend. Die oft vorgebrachte kritische Anfrage, wie im Falle eines Substanzdualismus die Schnittstelle zwischen Leib und Seele funktionieren soll, ist für mich nicht grundlegend verschieden von der Frage, wie Gott als rein geistiges Wesen in dieser materiellen Welt wirken kann. Dass ich an ein solches Wirken glaube, habe ich im Beitrag vor einer Woche („Lassen die Naturgesetze Raum für Gottes Wirken?“) erklärt.

Manche Personen weisen auf Nahtoderlebnisse hin, um für ein Fortbestehen der Seele nach dem Tod zu argumentieren. Andere interpretieren Nahtoderlebnisse dagegen als Geschehen im Gehirn und nicht als ein echtes Außerhalb-des-Körpers-Sein.

All diese Diskussionen zeigen, dass wir es hier mit Fragen zu tun haben, die letztlich unsere Denk- und Vorstellungsmöglichkeiten übersteigen. Vielleicht ist alles ganz anders als jede der erwähnten Vorstellungen. Ich möchte damit zufrieden sein, mich mit allen offenen Fragen in Gottes Hand zu wissen und auf seine Verheißung der Auferstehung zu vertrauen!

Literaturhinweis: Bei der Vorbereitung dieses Textes habe ich das Buch „Seelenphänomene“, Hrg. U. Beuttler, M. Mühling, M. Rothnagel (Peter Lang 2016) zu Rate gezogen, insbesondere die Kapitel „Psychologie mit und ohne Seele“ von Wolfgang Mack und „Biblische Begriffe und Vorstellungen von 'Seele'“ von Jürgen Kegler. Dieses Buch entstand im Nachgang zu einer Tagung der Karl-Heim-Gesellschaft zum Thema „Seele“ im Jahr 2015, die mir viele Impulse zum Nachdenken über dieses Thema gab.

Beliebte Posts aus diesem Blog

Wie alt wurden Noah, Jakob und Mose?

Eine Art Dreikampf

Am dritten Tage auferstanden von den Toten

Long Covid

Harald Lesch und die Frage nach Gott