In memoriam John Polkinghorne

Am 9. März verstarb eine der auf dem Gebiet „Glaube und Naturwissenschaft“ bekanntesten Persönlichkeiten, John Polkinghorne, im Alter von 90 Jahren. Er war von 1968 bis 1979 Professor für Mathematische Physik an der Universität Cambridge und wurde für seine wichtigen Beiträge zur Elementarteilchenphysik zum Fellow der Royal Society ernannt.

Im Alter von 49 Jahren gab er seine prestigeträchtige Position an der Universität auf, um Theologie zu studieren und Priester zu werden. Diesen Schritt begründete er so: „Ich habe nicht die Wissenschaft verlassen, weil ich desillusioniert gewesen wäre, sondern weil ich den Eindruck hatte, dass ich nach 25 Jahren soviel zur Forschung beigetragen hatte, wie ich konnte. Ich arbeitete an sehr mathematischen Aspekten der Physik, und dort bringt man seine beste Leistung, bevor man 45 Jahre alt ist. Nachdem ich diese Schwelle überschritten hatte, dachte ich, ich sollte etwas Neues anfangen. Weil das Christentum immer ein zentraler Teil meines Lebens war, schien es mir passend, als zweite berufliche Laufbahn nun meine geistliche Berufung unter Beweis zu stellen und die Ordination anzustreben.

Nach seiner Ordination im Jahr 1982 hatte er zunächst Pfarrstellen inne, kehrte aber nach fünf Jahren als Geistlicher an die Universität Cambridge zurück, wo er 1989 Präsident des Queens' College wurde. Er schrieb über 20 Bücher über die Beziehung zwischen Glaube und Naturwissenschaft, die große Verbreitung fanden und von denen einige auch ins Deutsche übersetzt wurden. Im Jahr 2002 erhielt er für seine wichtigen Beiträge zu Glaube und Wissenschaft den hochdotierten Templeton-Preis. Bei der Pressekonferenz zur Bekanntgabe der Preisverleihung sagte er „Die beiden Arten, die Wirklichkeit zu erkunden, liefern verschiedene Perspektiven. Die Naturwissenschaft untersucht die Prozesse die in der Welt ablaufen, während Religion sich mit der tieferen Frage befasst, ob es einen göttlichen Sinn und eine Absicht hinter den Geschehnissen gibt. Ich glaube dass wir diesen doppelten Blick der Naturwissenschaft und der Religion brauchen, wenn wir die tiefe und reichhaltige Wirklichkeit der Welt, in der wir leben, angemessen erfassen wollen.

Mich haben die Bücher und Artikel von John Polkinghorne sehr angesprochen, und ich habe mir manche seiner Argumente zu eigen gemacht. Aus meinem Lieblingsbuch „Science and Christian Belief. Theological Reflections of a Bottom-Up Thinker“ möchte ich gerne ein paar Gedanken mit Ihnen teilen. Dieses Buch ging aus den Gifford-Vorlesungen hervor, die er im akademischen Jahr 1993/4 in Edinburgh hielt. In diesen Vorlesungen befasst er sich mit dem Nizäischen Glaubensbekenntnis, dessen Artikel er der Reihe nach bespricht. Mich faszinieren besonders die vielen Vergleiche, die er zwischen Physik und Theologie zieht.

Beiden ist seiner Ansicht nach gemeinsam, dass sie von der Erfahrung ausgehen und diese dann durch die Formulierung von „Theorien“ aufarbeiten und zu verstehen suchen. Das christliche Glaubensbekenntnis hält er für das Ergebnis einer solchen Aufarbeitung und daher auch heute noch für aktuell: „Es sollte keine Überraschung sein, dass die Essenz von vier Jahrhunderten christlicher Erfahrung und intensiver theologischer Auseinandersetzung einen bleibenden Wert hat“ (S. 2/3). Er möchte das Glaubensbekenntnis nicht „modernisieren“, denn „Ich meine nicht, dass die Theologie über die Dreieinigkeit und die Menschwerdung aufgegeben werden muss zugunsten einer vereinfachten Theologie über ein kosmisches Bewusstsein und einen inspirierten Lehrer, was angeblich dem modernen Denken zugänglicher sei. Ein Naturwissenschaftler erwartet, dass eine fundamentale Theorie schwer eingängig, überraschend und aufregend ist“ (S.1)

Das, was uns über die Erfahrungen mit Jesus berichtet ist, hält Polkinghorne im Wesentlichen für glaubwürdig: „Die Schreiber der Evangelien wollten erzählen, was geschehen war, im Rahmen der Gepflogenheiten ihrer Zeit. Sie bauten auf die mündliche Überlieferung während der Generation zwischen der Kreuzigung und dem Verfassen des Markusevangeliums. (Diese Lücke entspricht derjenigen zwischen heute und meiner ersten Begegnung mit den führenden Wissenschaftlern der Hochenergiephysik, von der ich mir einbilde, eine lebendige und im Wesentlichen zuverlässige Erinnerung zu haben.)“ (S. 91/2)

Die Verarbeitung dieser Erfahrung in der frühen Kirche sollten wir laut Polkinghorne daher ernst nehmen: „Ich denke nicht, dass diese Entwicklungen des Denkens im ersten christliche Jahrhundert das Resultat ungezügelter metaphysischer Spekulationen ist. Im Gegenteil, wir sehen das Ringen darum, der Begegnung mit diesem Mann gerecht zu werden, in seinem Leben, seinem Tod und seiner Auferstehung, und dies kann einfach nicht angemessen in rein menschlicher Sprache ausgedrückt werden.“ (S. 135)

Den Weg von der Erfahrung, oder den „Daten“, zur Theorie beschreibt er so: „Die Daten für die christliche Theologie finden wir in der Bibel und in der Tradition der Kirche (inklusive unserer eigenen Erfahrung), und außerdem in dem allgemeinen Eindruck von Ordnung und Zielgerichtetheit, den wir beim Nachdenken über die Vorgänge in der Welt gewinnen. All dies zusammen ist das, was der Physiker eine 'phänomenologische' Beschreibung nennt – also eine Ansammlung von Daten, die bestimmte Muster nahelegen. In der Physik möchte man als nächstes daraus eine Theorie formulieren – also eine sparsame Interpretation, die den Daten bestmöglich gerecht wird und wirklichkeitsgetreu das widerspiegelt, was tatsächlich der Fall ist. In der Naturwissenschaft geschieht dieser Übergang von Phänomenologie zu Theorie, indem man nicht mehr nur davon spricht, dass Teilchen aus Quarks zusammengesetzt sind, sondern dass man mit einer Feldtheorie, der Quantenchromodynamik arbeitet, um das Verhalten der Quarks zu verstehen. In der Theologie geschieht der Übergang von Phänomenologie zu Theorie zum Beispiel dadurch, dass man von der grundsätzlichen Aussage 'Jesus ist Herr' zu einer Lehre über die Menschwerdung voranschreitet.“ (S. 35/6)

Die Ergebnisse der Theoriebildung sind laut Polkinghorne allerdings weder in der Physik noch in der Theologie perfekt und allumfassend. Wir müssen mit verschiedenen Modellen leben, die einander ergänzen und von denen jedes einen Teil der Wirklichkeit beschreibt. Wir sollen dabei auch nicht versuchen, Spannungen aufzuheben, z.B. wenn es darum geht, dass Jesus gleichzeitig Gott und Mensch war: „Mir scheint, dass die Lehre über Christus eine radikale Veränderung unserer Denkweise verlangt; sie muss die Spannung zwischen göttlicher Notwendigkeit und der Abhängigkeit von den Umständen und die Komplementarität des Göttlichen und Menschlichen einschließen. Die verwirrende Paradoxie der Wellen- und Teilchennatur des Lichts wurde nicht durch die bisherige, klassische Denkweise gelöst, sondern indem man sie umgestaltete in eine neue quantenphysikalische Denkweise“ (S. 143).

Besonders gut gefällt mir der Vergleich, den Polkinghorne zwischen dem Urknall und dem Auftreten und der Auferstehung von Jesus zieht. Beides waren gewaltige Ereignisse, deren Spuren wir bis heute sehen und ohne die wir vieles nicht erklären können. „'Von Nichts kommt Nichts', und von Jesus kam so viel, dass in ihm etwas gegenwärtig gewesen sein muss, das der Wirkung entspricht, die er hatte. Ich denke, die neutestamentlichen Theologen brauchen etwas von der korrekturbereiten Kühnheit der Kosmologen, als sie vor einer ähnlichen Herausforderung standen“ (S. 119). „Das erste Jahrhundert ist eine Zeit fruchtbarer christologischer Erkundungen, während derer die historische Gestalt des Predigers aus Galiläa verschiedene Titel und Beschreibungen verliehen bekommt. Mcquarry verglich diese Phase nach der Auferstehung, während der sich so vieles entwickelte, mit den bemerkenswerten Veränderungen, die das Universum in den ersten Sekunden nach dem Urknall durchlief, wie uns die Kosmologen erzählen. Ich habe (weiter vorne) die Christliche Kirche und ihre fortgesetzte Bezeugung der Auferstehung mit der kosmischen Hintergrundstrahlung verglichen, die als 'Erinnerung' an diese frühen kosmischen Ereignisse bis heute existiert“ (S. 128).

Ja, so wie der Urknall bis heute mit der kosmischen Hintergrundstrahlung seine Spuren hinterlassen hat, so hat die Auferstehung Jesu in der Geschichte ihre Spuren hinterlassen. Zu diesen Spuren gehört laut Polkinghorne insbesondere, dass der erste Tag der Woche als Tag der Auferstehung gefeiert wird, und zwar schon seit der ersten Generation von Christen. Doch die Auferstehung Jesu bedeutet für ihn noch viel mehr, denn sie bringt die Verheißung einer Neuen Schöpfung mit sich: „Gott allein ist die Grundlage für eine endgültige Hoffnung. Wir selbst und das ganze Universum erwarten das transformierende Geschehen einer göttlichen Erlösung. Im christlichen Denken wird dies als neue Schöpfung beschrieben (1. Kor. 5,17) und als neuer Himmel und neue Erde (Offb. 21,1-4). Die Auferstehung Christi in der Geschichte ist eine Vorwegnahme dieses großen Ereignisses, das jenseits der Geschichte liegt; sie ist der Same, aus dem einst die eschatologische Erfüllung für alle hervorgehen wird (1. Kor. 15,20-28). […] Die Neue Schöpfung ist eine Umgestaltung dieses Universums, bei der es in eine neue und engere Beziehung mit seinem Schöpfer tritt, so dass es eine vollständig sakramentale Welt wird, durchdrungen von göttlicher Gegenwart“.

In dieser Hoffnung auf die Neue Schöpfung ist John Polkinghorne von uns gegangen.

Hinweise: Die beiden ersten Zitate sind von dieser Webseite. Die Seitenangaben zu „Science and Christian Belief“ beziehen sich auf die 4. Auflage von 2002 (The University Press, Cambridge).

Nachtrag vom 6.4.21: In englischer Sprache gibt es u.a. Nachrufe von Fraser Watts und David Wilkinson und ein Nachruf-Interview mit Alister McGrath



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