Der Mythos vom historischen Konflikt zwischen Wissenschaft und Kirche

Haben Sie gewusst, das die katholische Kirche im Mittelalter und der frühen Neuzeit mehr als sechshundert Jahre lang der größte Sponsor astronomischer Forschung weltweit war? Das erweckt nicht den Eindruck, als sei die Kirche generell wissenschaftsfeindlich gewesen…

Wie kommt es dann, dass sie Galileo Galilei verurteilte für die Lehre, dass die Planeten um die Sonne kreisen? Der auf das Verhältnis von Wissenschaft und Christentum spezialisierte Geschichtsprofessor Peter Harrison argumentiert, dass dies zwei Gründe hat, die nichts damit zu tun haben, dass die Kirche der Wissenschaft gegenüber grundsätzlich feindlich eingestellt sei. Zum einen sei die Auseinandersetzung um das kopernikanische Weltbild eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zwischen zwei Theorien gewesen. Damals war die Mehrzahl der Experten der Meinung, dass die Beobachtung die stationäre Erde unterstützt. (Dazu habe ich in meinem Blogbeitrag vom 26.9.2020 einiges erzählt.) Erst durch die Gravitationstheorie von Isaac Newton wurde diese wissenschaftliche (bzw., nach damaliger Sprechweise, naturphilosophische) Auseinandersetzung endgültig geklärt. Zum anderen sei die Auseinandersetzung mit Galilei eine Auseinandersetzung um die Autorität in der Bibelauslegung gewesen. Galilei interpretierte nämlich die Bibel anders als die Kirche, um seine Position zu rechtfertigen. Bekannt ist seine Aussage „Die Bibel lehrt uns nicht, wie die Himmel gehen, sondern wie wir zum Himmel gehen.“ Mit seiner eigenständigen Bibelinterpretation wagte er sich auf das Gebiet der Kirchenvertreter und tat zudem genau das, was die von der katholischen Kirche bekämpfte Reformationsbewegung tat: die Bibel selbständig lesen und interpretieren.

Der Mythos, dass sich die westliche Zivilisation zu Beginn der Neuzeit von den Fesseln der Kirche löste und dass dann endlich der Verstand siegte und sich die Wissenschaft entwickelte, hält sich hartnäckig. Auch ich habe in der Schule gelernt, dass man im Mittelalter glaubte, die Erde sei flach. Kolumbus wollte angeblich beweisen, dass die Erde eine Kugel sei. Dazu wollte er nach Westen reisen, bis er Indien fand (das ja bekanntermaßen im Osten liegt). Die Kirche hätte gewarnt, er würde am Rand der Erde in den Abgrund stürzen. Kolumbus wollte diesen Aberglauben widerlegen. Doch diese Geschichte ist fabriziert. Der Streit damals betraf nicht die Gestalt der Erde, sondern ihre Größe. Dass die Erde eine Kugel ist, wusste man schon seit den alten Griechen, also seit dem fünften Jahrhundert vor Christus. Im Mittelalter wussten das nicht nur die Gelehrten, sondern auch die einfachen Leute, denn die Erde wurde überall als Kugel dargestellt: In astronomischen Uhren mit Modellen von Erde, Mond und Sonne; in Bildern des geozentrischen Weltbilds von Ptolemäus; in Darstellungen von Atlas, der die Erdkugel trägt; im Reichsapfel, der ein altes Herrschaftszeichen ist und das Kreuz auf der Erdkugel darstellt, u.s.w.

Der Mythos, dass man im Mittelalter an die flache Erde glaubte, wurde im 19. Jahrhundert geschaffen. Washington Irvins biographischer Roman „The Life and Voyage of Christopher Columbus“ (1828), der von der angeblichen Auseinandersetzung von Christopher Kolumbus mit kirchlichen Autoritätspersonen über die Gestalt der Erde erzählt, wurde schnell die beliebteste Quelle für das Leben von Kolumbus in der englischsprachigen Welt. Kolumbus wurde als der Held dargestellt, der gegen Ignoranz und Aberglauben kämpfte. Wer den Mythos von der flachen Erde weitererzählt, will den Eindruck vermitteln, dass wir den religiösen Leuten des Mittelalters intellektuell überlegen sind.

Der Beginn der modernen Naturwissenschaft ist weit davon entfernt, eine Loslösung vom christlichen Glauben zu sein. Im Gegenteil, die religiöse Atmosphäre der damaligen Zeit trug dazu bei, dass die Naturwissenschaft sich entwickelte. Sie lieferte (i) die Motivation, (ii) die Denkvoraussetzungen und (iii) die Inspiration für die wissenschaftlichen Methoden, (iv) die soziale und moralische Legitimation für wissenschaftliche Forschung:

(i) Die Motivation: Die großen Naturwissenschaftler im 16. und im 17. Jahrhundert wie Kepler, Galileo, Descartes, Bacon und Newton waren Christen. Ihr Glaube motivierte sie dazu, Wissenschaft zu betreiben. Robert Boyle meinte, dass das Erforschen und Mitteilen der Wunder der Schöpfung eine priesterliche Tätigkeit sei. Kepler sagte, dass er früher gerne ein Theologe werden wollte. Aber jetzt sehe er, dass Gott auch durch seine astronomische Forschung gepriesen wird. Er glaubte, dass der Mensch das Ebenbild Gottes sei und dass Gott uns deshalb erlaube, seine Gedanken nachzudenken. Deshalb zweifelte er nicht daran, dass er die mathematischen Gesetze finden könne, nach denen die Planeten sich bewegen.

(ii) Die Denkvoraussetzungen: Die Grundannahme der Forscher damals war, dass die Natur von Gesetzen regiert wird. Das Konzept eines Naturgesetzes beruht auf einer theologischen Grundlage. Alle Kulturen glaubten zwar an Regularitäten in der Natur, aber diese wurden verschieden verstanden. Der griechische Philosoph Aristoteles glaubte zum Beispiel, dass die Bewegung von Objekten auf in der Materie wohnenden Fähigkeiten beruhe. Die Idee, dass es „Naturgesetze“ gibt, kam nur in unserer Kultur auf. So schrieb z.B. Robert Boyle, dass die Gesetze der Bewegung nicht aus der Natur der Materie kommen, sondern Gottes Willen entspringen. Ähnlich formulierte es der Philosoph und Kirchenmann Samuel Clarke. Der Lauf der Natur beruhe auf dem beständigen Einwirken des Willens Gottes. Auch Descartes meinte, dass Gott der Materie ihre Bewegungen vorschreibt. Die Naturgesetze seien unveränderlich, weil Gott unveränderlich ist. Die Erforschung der Natur war also im Verständnis all dieser Männer die Erforschung von Gottes Wirken.

(iii) Die Methoden: Zur Zeit des Aristoteles und der von ihm beeinflussten mittelalterlichen Wissenschaft war man der Meinung, dass man vieles über die Natur durch Nachdenken und Logik herausfinden könne. Wissenschaftler wie Robert Hooke und Francis Bacon sagten dagegen, dass man nur durch Nachschauen und Experimentieren etwas über die Natur herausfinden könne. Sie gaben eine theologische Begründung dafür: Durch den Sündenfall haben wir die Fähigkeit verloren, über die Schöpfung zu herrschen. Seitdem kann unser Verstand nur fehlerhaft über die Natur nachsinnen. Weil man dem menschlichen Verstand folglich nicht trauen kann, müsse man Experimente durchführen. So würden die Denkfehler mit Hilfe der experimentellen Untersuchung der Natur korrigiert. Weil auch unsere Sinne durch den Sündenfall beeinträchtigt sind, müssen wir Instrumente bei der Beobachtung der Natur zur Hilfe nehmen.

(iv) Die Legitimation: Auch in früheren Zeiten und anderen Kulturen hat es Blütezeiten der Naturwissenschaften gegeben: In Indien, im goldenen Zeitalter des Islam, in China und bei den alten Griechen. Doch nach diesen Phasen der Blüte gab es wieder Einbrüche. Erst in der frühen Neuzeit begann in Europa ein permanenter Aufschwung der Naturwissenschaften. Peter Harrison argumentiert, dass diese Permanenz christlich motiviert ist. Theologische Überlegungen lieferten die Werte und Zielvorstellungen, die für ein langfristiges Unternehmen nötig sind. Auf der einen Seite gab es, wie oben erwähnt, die Auffassung, dass die Erforschung der Natur eine Art Gottesdienst ist. Auch Newton betrachtete die Erforschung der Natur als einen Weg, etwas darüber zu lernen, wie Gott die Welt regiert. Auf der anderen Seite wurde die Erforschung der Natur als ein Weg gesehen, um den durch den Sündenfall angerichteten Schaden wieder gut zu machen. Francis Bacon meinte, dass wir die durch den Sündenfall verlorene Kontrolle über die Natur mit Hilfe der Wissenschaft wiedergewinnen können.

Trotz all dieser historischen Belege für eine fruchtbare Interaktion zwischen dem Christentum und der Naturwissenschaft ist der Mythos vom fortwährenden Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Glauben weiterhin lebendig. Wahrscheinlich wird er durch kein Gebiet der Wissenschaft so stark genährt wie durch die Evolutionstheorie. In der Tat forderten Teile der Evolutionstheorie die christliche Lehre über die Erschaffung von Adam und Eva und den Sündenfall heraus, so wie man sie im 19. Jahrhundert verstanden hat und zum Teil heute noch versteht. Doch es gab keine einheitliche Ablehnung durch die Kirche, im Gegenteil, es gab eine Reihe christlicher Unterstützer für Darwins Theorie. Der anglikanische Priester und Schriftsteller Charles Kingsley meinte, dass Darwins Theorie einen erhabeneren Blick auf Gottes Schöpfung gewährt, weil Gott die Evolution dazu gebraucht, dass sie für ihn schaffend tätig ist. Darwins wichtigster Unterstützer in den USA, der Botanikprofessor Asa Gray war der Auffassung, dass Evolution einen umfassenderen und stimmigeren Blick auf die Gestaltung der Natur bietet als die bisherige Vorstellung, dass Gott jede Art einzeln geschaffen hat. Auch der anglikanische Priester Aubrey Moore hielt Evolution für viel passender zum christlichen Glauben als eine separate Erschaffung aller Arten, weil das besser mit Gottes Immanenz und Allgegenwart vereinbar ist. Der amerikanische Theologe Henry Ward Beecher sagte, Design des Ganzen sei großartiger als Design aller Details.

All diese Ausführungen zeigen, dass das Verhältnis von Naturwissenschaft und Glaube in Laufe der Jahrhunderte sehr facettenreich war. Oft haben beide sich gegenseitig herausgefordert und befruchtet, aber manchmal auch bekämpft. Um einen umfassenden Blick auf die Wirklichkeit zu bekommen, brauchen wir beide, da sie auf verschiedene Fragen Antwort geben und einander auf vielfältige Weise ergänzen. Entsprechend lang ist meine Liste von Themen für zukünftige Blogbeiträge, die ich noch schreiben möchte….

Hinweise: Darüber, wie Keplers Glaube seine wissenschaftliche Forschung motivierte, habe ich in meinem Buch „Augustinus traute dem Verstand“ geschrieben, basierend auf der Biographie von Max Caspar. Der Vortrag von Peter Harrison, auf dem der größte Teil dieses Blogbeitrags beruht, ist hier zu finden. Darüber, wie die Erschaffung von Adam und Eva, die Ebenbildlichkeit Gottes des Menschen und der Sündenfall zur wissenschaftlich erforschten Entwicklungsgeschichte der Menschen passen, habe ich in früheren Blogbeiträgen geschrieben. Sie finden sie in dieser Liste.

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