Darwin auf dem Sterbebett

Als ich ein Teenager war, hörte ich zum ersten Mal die Geschichte, Darwin hätte auf dem Sterbebett seine Evolutionstheorie widerrufen und sich dem christlichen Glauben seiner Jugend wieder zugewandt. Bestimmt stand sie in einem der Bücher, die zu der Zeit in manchen christlichen Kreisen zirkulierten.

Wer diese Geschichte erzählt, vermittelt damit gleich drei Dinge: Erstens sei die Evolutionstheorie nicht besonders gut fundiert; zweitens würden diejenigen, die heute noch daran glauben, dies nur tun, weil sie blind Darwin folgen und nicht wissen, dass er den Glauben daran aufgegeben hat; drittens müsse man sich zwischen dem christlichen Glauben und der Evolutionstheorie entscheiden.

Ich kann mich nicht erinnern, was ich damals zu dieser Geschichte dachte. Wahrscheinlich fühlte ich mich weder imstande, die Historizität dieser Geschichte zu beurteilen, noch die Schlussfolgerungen zu akzeptieren oder zu widerlegen. Erst vor einigen Jahren begegnete mir eine Untersuchung darüber, wie diese Geschichte entstanden ist. Der Historiker und Darwin-Biograph James Moore berichtet davon in Kapitel 16 des Buchs „Galileo Goes to Jail and Other Myths About Science and Religion“ (Hrg. Ronald L. Numbers, Harvard University Press 2010).

Die Geschichte tauchte zum ersten Mal im August 1915 in Boston in dem baptistischen Familienmagazin Watchman-Examiner auf, also 33 Jahre nach Darwins Tod und auf der anderen Seite des Atlantik. Eine unter der Bezeichnung Lady Hope bekannte Person erzählte sie. Die im Jahr 1842 geborene Lady Hope war lange Zeit als Evangelistin und in der den Alkoholmissbrauch bekämpfenden Abstinenzbewegung in England aktiv. Sie eröffnete Kaffeehäuser und Hostels. Ihr zweiter Ehemann, der ebenso wie der erste viel älter war als sie, starb im Jahr 1909. Zwei Jahre später ging sie bankrott und zog im Jahr 1912 nach New York. Die Geschichte vom Besuch bei Darwin wenige Monate vor seinem Tod erzählte sie, kurz nachdem bei ihr ein Brustkrebs diagnostiziert wurde. Sie starb im Jahr 1922. Im Wikipedia-Artikel über Lady Hope findet sich der volle Text ihrer Erzählung, den ich im Folgenden übersetze:

Es war einer der prächtigen Herbstnachmittage, die wir manchmal in England haben, als ich hereingelassen wurde und neben dem berühmten Professor Charles Darwin Platz nehmen durfte. Er lag in den Monaten vor seinem Tod fast immer im Bett. Schon immer, wenn ich ihn sah, dachte ich, dass seine vornehme Erscheinung ein großartiges Bild in unserer königlichen Akademie abgeben würde. Doch nie empfand ich dies stärker als bei diesem Besuch. Er saß aufrecht in seinem Bett und trug einen weichen bestickten Umhang von satt purpurroter Färbung. Gestützt durch Kissen blickte er auf eine weite Szene von Wald und Maisfeldern, die im Licht eines der herrlichen Sonnenuntergänge erstrahlte, die Kent und Surrey so schön machen. Seine edle Stirn und seine feinen Gesichtszüge schienen sich freudig zu erhellen, als ich den Raum betrat.

Er wies mit seiner Hand zum Fenster und machte mich auf die Szene draußen aufmerksam, während er in der anderen Hand eine offene Bibel hielt, in der er immerzu las. „Was lesen Sie zur Zeit?“ fragte ich, als ich mich neben sein Bett setzte. „Hebräer“ antwortete er – immer noch Hebräer. Ich nenne es das 'königliche Buch'. Ist es nicht großartig?“ Dann zeigte er mit seinem Finger auf bestimmte Stellen und kommentierte sie.

Ich machte ein paar Bemerkungen über die starken Meinungen, die viele Personen über die Geschichte der Schöpfung und ihre Erhabenheit äußern, und darüber, wie sie mit den ersten Kapiteln der Bibel umgehen. Dies betrübte ihn anscheinend sehr. Seine Finger bewegten sich nervös, und ein gequälter Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit, als er sagte: „Ich war ein junger Mann mit unausgegorenen Ideen. Ich warf mit Fragen und Vorschlägen um mich und hinterfragte immer alles, und zu meinem Erstaunen breiteten sich die Ideen wie Buschfeuer aus. Die Leute machten eine Religion aus ihnen.“

Dann hielt er inne, und nach ein paar weiteren Sätzen über die „Heiligkeit Gottes“ schaute er auf die Bibel, die er die ganze Zeit liebevoll gehalten hatte, und sagte plötzlich: „Ich habe im Garten ein Sommerhaus, in dem ungefähr 30 Leute Platz haben. Es ist dort drüben.“ Er zeigte durch das offene Fenster. „Ich wünsche sehr, dass Sie dort reden; ich weiß dass Sie in den Dörfern die Bibel vorlesen. Morgen Nachmittag möchte ich, dass die Hausangestellten und Hausbewohner und auch ein paar Nachbarn sich dort versammeln. Werden Sie zu ihnen sprechen?“ „Worüber soll ich sprechen?“ fragte ich. „Christus Jesus!“ antwortete er klar und nachdrücklich, und dann etwas leiser: „und sein Heil. Ist das nicht das beste Thema? Und dann sollen Sie Lieder mit ihnen singen. Sie können mit Ihrem kleinen Instrument dazu spielen, nicht wahr?“ Ich werde nie den wunderbar hellen und belebten Gesichtsausdruck vergessen, als er hinzufügte: „Wenn Sie das Treffen für 3 Uhr ansetzen, wird dieses Fenster offen sein, und Sie werden wissen, dass ich mitsinge.“ Wie sehr wünsche ich, ich hätte ein Bild dieses feinen alten Mannes in seiner wunderschönen Umgebung an diesem denkwürdigen Tag machen können!

Das klingt schon fast kitschig…

Vieles spricht dafür, dass diese Geschichte erfunden ist: Wenn Darwin tatsächlich gegen Ende seines Lebens zum christlichen Glauben zurückgefunden hätte, hätte seine Familie, allen voran seine gläubige Frau, davon gewusst, und man würde in ihren Briefen etwas davon finden. Als die von Lady Hope erzählte Geschichte erschien, bestritten Darwins Kinder diese Geschichte und sagten, dass Lady Hope Darwin nie besucht hätte.

Nichts liegt ferner, als dass Darwin seine Theorie als „unausgegorene Ideen“ eines „jungen Mannes“ bezeichnet hätte. Im Gegenteil, er hatte die Theorie der natürlichen Selektion 20 Jahre lang entwickelt, bevor er sie im Jahr 1859 im reifen Alter von 50 Jahren endlich veröffentlichte. Doch Moore schreibt, dass nicht alles an der Geschichte erfunden sein kann. Lady Hope schien wirklich über Darwins Outfit, Haus und Garten Bescheid zu wissen. Aber ob sie das aufgrund eigener Besuche wusste oder durch die Erzählungen anderer, darüber gehen die Meinungen auseinander. Vielleicht hat der beschriebene Besuch ja auch in ähnlicher Form tatsächlich stattgefunden, nur dass sie Darwins Worte umgeformt hat zu etwas, was den von ihr beabsichtigten Eindruck macht. Das werden wir wohl nie herausfinden…

Wie stand es um Darwins Glauben im Laufe seines Lebens? Wir wissen aus Darwins eigenen Äußerungen, dass er den christlichen Glauben erst aufgab, als er über 40 Jahre alt war. Zu dieser Zeit arbeitete er schon seit Jahren an seiner Theorie. Der Anlass, den Glauben aufzugeben, war der Tod seiner 10-jährigen, vom ihm sehr geliebten Tochter Annie im Jahr 1851. Doch er glaubte weiter an Gott. Interessanterweise taucht das Wort „Evolution“ in seinem Buch „Origin of Species“ überhaupt nicht auf. Aber er verwendet mehr als 100mal das Wort „Schöpfung“ und ähnliche Begriffe. Auf der ersten Ausgabe seines Buchs steht gegenüber dem Titel ein Zitat, dass man Gottes Werke ebenso wie sein Wort studieren soll, und ein Satz eines Professors aus Cambridge darüber, dass Gott durch „allgemeine Gesetze“ wirkt. Auch wenn Darwin in seinem Buch gegen die These argumentiert, Gott habe die biologischen Arten durch eine Kette von Wundern geschaffen, vertritt er dennoch eine theistische Position, nämlich die Erschaffung mit Hilfe von Gesetzen.

Später in seinem Leben gab Darwin aber auch seinen Theismus auf und wurde Agnostiker. Doch auch dann noch lebte er in einem freundschaftlichen Verhältnis zu seiner lokalen Kirchengemeinde, spendete sogar für manche Zwecke und ließ zu, dass in seinem Haus christliche Versammlungen stattfanden. Er schrieb nie etwas, das sich direkt gegen das Christentum oder den Glauben an Gott richtete. Wenn es anders gewesen wäre, hätte man ihn wohl nicht im Westminster Abbey begraben.

Literaturhinweise: Das o.g. Buch „Galileo Goes to Jail“ hat noch viele weitere lesenswerte Kapitel zum Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaft. Meine Antwort auf die oben im zweiten Absatz genannten Behauptungen, die Evolutionstheorie sei nicht gut fundiert oder nicht mit dem christlichen Glauben verträglich, gehen aus früheren Blogbeiträgen hervor, z.B. „Darwins Theorie und ihre Vorläufer“ vom 14.11., „Rudimente und der Designer“ vom 19.12., „Von Menschen und Schimpansen“ vom 9.1. und „Zufall und Notwendigkeit“ vom 13.2.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge findet sich hier.


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