Enthält die Bibel moderne Wissenschaft?

Als ich neulich per Zoom einen Vortrag für ein internationales Publikum hielt, sprach mich jemand auf die Bibelstelle Hiob 9,7 an, in der steht, dass Gott „die Sterne versiegelt“. Er meinte, dies sei eine Beschreibung von schwarzen Löchern. Finden Sie das plausibel?

Es gibt viele derartige Versuche, hinter Bibelversen eine Anspielung auf moderne wissenschaftliche Erkenntnisse zu finden. Hier noch zwei weitere Beispiele aus dem Buch Hiob: In Kapitel 26,7 steht, dass Gott die Erde „über das Nichts hängt“. Besagt dies, dass die Erde im Weltall schwebt? Und in Kapitel 38,31 fragt Gott: „Kannst du die Bande des Siebengestirns zusammenbinden oder den Gürtel des Orion auflösen?“ Ich las einmal, dass damit die Bewegung der Sterne beschrieben wird: Die drei Gürtelsterne des Orion behalten ihren Abstand, während die sieben Hauptsterne des großen Wagens sich in verschiedene Richtungen bewegen.

Als ich noch in München lebte, war in meiner Gemeinde ein Mann, der an einem Buch schrieb mit dem Titel „Die Bibel bestätigt das Weltbild der Naturwissenschaft“. Er meinte, die in der Bibel mehrfach vorkommende Formulierung „Gott spannte den Himmel auf“ sei eine Anspielung auf die Expansion des Weltalls und sollte besser mit „Gott dehnte den Himmel aus“ übersetzt werden. Auch die Evolution des Lebens auf der Erde fand der Autor in der Bibel. Wenn es im ersten Kapitel der Bibel heißt „Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut“ und „Die Erde bringe hervor lebendiges Getier“ bedeute dies, dass Gott der Erde das Potenzial verliehen hat, durch natürliche Prozesse Leben hervorzubringen. Die gemeinsame Abstammung aller Lebewesen sei im Vers 1. Mose 2,4 angesprochen, der üblicherweise übersetzt wird mit „Dies ist die Geschichte von Himmel und Erde, da sie geschaffen wurden“. Das hebräische Wort für „Geschichte“ (toledot) wird in den weiteren Kapiteln des ersten Buchs Mose immer im Kontext von Abstammung verwendet und ist wörtlich mit „Generationen“ zu übersetzen.

Was ist von diesen und ähnlichen Bibelauslegungen zu halten? Meines Erachtens sind sie fehlgeleitet, und das aus mehreren Gründen.

  1. Sie sind schlechte Exegese: Den eingangs erwähnten Frager wies ich darauf hin, dass er nicht nur diese eine Stelle aus dem Buch Hiob nehmen dürfe, sondern dass er das gesamte Buch Hiob mit dem Blick auf die Beschreibung der Natur lesen müsse. Direkt vor dem Vers über die „versiegelten Sterne“ ist von den „Pfeilern der Erde“ die Rede, ebenso in Kapitel 38, aus dem das obige Zitat über den Orion und das Siebengestirn ist. Im zweiten oben genannten Kapitel 26 findet man den Text „Er hat am Rande des Wassers eine Grenze gezogen, wo Licht und Finsternis sich scheiden. Die Säulen des Himmels zittern und entsetzen sich vor seinem Schelten.“ (Verse 10+11). Das klingt nicht nach einem modernen Weltbild. Die oben zitierten Verse lassen sich auf vielfältige Weise auslegen, und insbesondere auch so, dass es zu den damaligen Vorstellungen über die Natur und den Kosmos passt.

  2. Sie berücksichtigen nicht den damaligen Kontext: Schreiber und Leser der damaligen Zeit waren von ihrer Kultur und den mit ihr verbundenen Vorstellungen über die Beschaffenheit der Welt geprägt. Die Begriffe und Formulierungen im biblischen Text verstanden sie deshalb im Kontext ihrer Kultur. Was hätte ein damaliger Leser mit Anspielungen auf heutige wissenschaftliche Erkenntnisse anfangen sollen? Er hätte sie gar nicht verstehen können, und sie hätten ihn auch gar nicht interessiert. Der Schweizer Reformator Johannes Calvin sagte einmal, dass Gott seine Botschaft an die Adressaten anpasst und zu ihnen in einer Sprache und in Bildern redet, die sie verstehen. Auf andere Weise kann die Botschaft die Adressaten gar nicht erreichen.

  3. Sie verkennen den Zweck der biblischen Botschaft: Im Blogbeitrag ‚Galileis Brief von 1615‘ zitierte ich die folgende Aussage von Galileo Galilei: An diesem Punkt würde ich das sagen, was ich von einem Kirchenmann von allerhöchster Stellung hörte, und zwar, dass es die Absicht des Heiligen Geistes sei, uns zu lehren, wie wir in den Himmel kommen, und nicht, wie es zur Bewegung des Himmels komme. Ich sehe keinen Grund, warum Gott uns auf übernatürliche Weise Dinge offenbaren sollte, die für unsere Beziehung zu ihm völlig irrelevant sind. Außerdem hat Gott uns ja den Verstand gegeben, damit wir die Geheimnisse der Natur selbst herausfinden können.

  4. Ihnen liegt ein falsches Verständnis von Inspiration zugrunde: Manche Zeitgenossen wollen die Inspiration der Bibel dadurch ‚beweisen‘, dass sie in der Bibel Dinge entdecken, die die damaligen Menschen noch gar nicht wissen konnten. Dazu gehören nicht nur die erwähnten Beispiele zu modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Vor längerer Zeit fiel mir ein Heftchen in die Hände, das angeblich einen ‚mathematischen Beweis‘ für die Inspiration der Bibel enthielt. Der Autor bezog sich darauf, dass die hebräischen Buchstaben gleichzeitig auch Zahlen bedeuten. Er drückte die Buchstaben und Wörter des ersten Kapitels der Bibel durch diese Zahlen aus und entdeckte eine Reihe von mathematischen Zusammenhängen, die ihm so erstaunlich vorkamen, dass sie seiner Meinung nach kein Zufall sein können, sondern mit Absicht in den Text eingebaut worden sein müssen. Andere Autoren meinen, die Bibel enthalte versteckte Vorhersagen zeitgenössischer Ereignisse, z.B. der Ermordung des israelischen Präsidenten Yitzhak Rabin im Jahr 1995. Durch das Buch ‚Der Bibelcode‘ erreichten solche Überlegungen sogar vor einiger Zeit die öffentlichen Medien. Doch diese angeblich so erstaunlichen Zusammenhänge lassen sich ganz natürlich erklären: Man kann in jedem Text, wenn man ihn unter genügend vielen Gesichtspunkten analysiert, verblüffende Zusammenhänge mit mathematischen oder geschichtlichen Fakten finden.

Es gibt auch für den Koran ähnliche Versuche, die göttliche Inspiration zu ‚beweisen‘. Vor einigen Jahren hatte mein Mann wiederholte Diskussionen mit einem Muslim, der argumentierte, der Koran enthalte kosmologisches und medizinisches Wissen, das die damaligen Menschen noch gar nicht haben konnten.

Wenn die Inspiration der Bibel nicht in den bisher genannten Aussagen steckt, worin besteht sie dann? Hierzu werden gerne zwei Bibelverse zitiert, die auch für mich das Wesen der biblischen Inspiration gut beschreiben: „Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt.“ (2. Tim. 3,16+17) und „Das sollt ihr vor allem wissen, dass keine Weissagung der Schrift eine Sache eigener Auslegung ist. Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht worden, sondern getrieben von dem heiligen Geist haben Menschen im Namen Gottes geredet.“ (2. Pet. 1,20-21) Die Bibel erzählt uns also über Gottes Heilsplan, und sie gibt uns Orientierung für unser praktisches Leben. Deswegen liebe ich die Bibel, und deshalb ist sie meine tägliche Lektüre. Die Antwort auf wissenschaftliche Fragen erwarte ich dagegen aus der wissenschaftlichen Fachwelt, von der ich ein Teil sein darf.

Thematisch verwandt sind die Blogeinträge ‚Der Kosmos im Alten Testament‘ und ‚Die verlorengegangene Welt von Genesis 1‘.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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