Galileis Brief von 1615

Im Jahr 1615 schrieb Galileo Galilei einen sehr lesenswerten Brief, in dem er erklärte, wie er das Verhältnis von Naturwissenschaft und Bibel sieht. Der Anlass waren Angriffe von Kirchenvertretern auf die neue Lehre, dass die Erde um die Sonne kreist. Galilei hatte wichtige Entdeckungen gemacht, die diese neue Lehre bestätigen, doch Galileis Gegner wollten dies nicht wahrhaben. Ihr Widerstand stütze sich u.a. auf die Bibel. Sie waren so sehr daran gewöhnt, die Bibel vom alten, geozentrischen Weltbild her zu interpretieren, dass sie annahmen, dieses Weltbild sei explizite Lehre der Bibel. Galilei hielt dem entgegen, dass die Aussagen der Bibel über die Natur vielfältig ausgelegt werden können. In seinem Schreiben beruft er sich mehrfach auf die Kirchenväter, insbesondere auf Augustinus, um zu zeigen, dass seine Auslegung der Bibel nicht im Widerspruch mit der überlieferten christlichen Lehre steht.

Nicht nur zu Galileis Zeit, sondern auch heute kommt es vor, dass Christen mit Berufung auf die Bibel gut etablierte wissenschaftliche Erkenntnisse ablehnen. Im Gegensatz dazu zeigt Galilei, dass man gleichzeitig die Autorität der Heiligen Schrift und die wissenschaftlichen Erkenntnisse akzeptieren kann. Da beides von Gott kommt, kann es seiner Auffassung nach keinen Widerspruch zwischen beiden geben. Im folgenden gebe ich eine Kostprobe der Argumente von Galilei. Eine deutsche Übersetzung des gesamten Briefs ist leider nicht frei zugänglich, aber eine englische. Für die folgenden Zitate verwende ich das Buch „Galileo Galilei, Lettera a Cristina di Lorena, Brief an Christine von Lothringen“, italienisch-deutsch, übersetzt von Thomas Steinhauser, Hrg. Michael Titzmann und Thomas Steinhauser, (Verlag Karl Stutz 2008). Die Zitate von Galilei sind jeweils kursiv gesetzt, und die Seitenzahlen beziehen sich auf das genannte Buch.

  • Gott hat uns den Verstand gegeben, damit wir ihn gebrauchen: Ich bin nicht der Meinung, es sei notwendig, zu glauben, dass derselbe Gott, der uns mit Sinnen, mit Redegabe und Verstand ausgestattet hat, unter Hintanstellung des Gebrauchs seiner Gaben gewollt habe, uns auf andere Art die Botschaften zu geben, als durch jene, der wir folgen können; oder zu glauben, dass wir auch noch in den die Natur betreffenden Schlussfolgerungen, die uns entweder durch sinnliche Erfahrungen oder zwingende Beweise vor das körperlich oder geistige Auge gestellt werden, die sinnliche Wahrnehmung und das Denken verleugnen müssen. (S.111)

  • Die neue Lehre lässt sich nicht unterdrücken: Wenn es reichen würde, den Mund eines Einzigen zu verschließen, um diese Meinung und Lehre von der Erde zu tilgen (...) wäre es ja ganz einfach, so etwas zu veranlassen. Aber die Dinge laufen anders: Denn, um eine derartige Bestimmung durchzuführen, wäre es nicht nur nötig, das Buch des Copernicus und die Schriften der anderen Autoren, welche dieselbe Lehre verfolgen, zu unterdrücken, sondern man müsste die Astronomie als Wissenschaft insgesamt untersagen. Und darüber hinaus müsste man den Menschen verbieten, gen Himmel zu schauen. (S.137)

  • Wissenschaft und Bibel können sich nicht widersprechen, da beide von Gott kommen: Beide, die Heilige Schrift und die Natur, gehen gleichermaßen vom göttlichen Wort aus, die eine als Werk des Heiligen Geistes, die andere als minutiöse Umsetzerin der Befehle Gottes. (S.109)

    Weil Wissenschaft und Bibel sich nicht widersprechen können, muss man bei einem scheinbaren Widerspruch zwischen der Bibel und klaren wissenschaftlichen Erkenntnissen seine Bibelauslegung hinterfragen: [Da] sich zwei Wahrheiten nicht widersprechen können, ist es Aufgabe der weisen Bibelausleger sich anzustrengen, um bis zur wahren Bedeutung der Heiligen Worte durchzudringen. Sie wird zweifellos mit jenen Schlussfolgerungen aus dem Bereich der Natur übereinstimmen, deren wir vorher durch klare Sinneswahrnehmung oder zwingende Beweise gewiss und sicher geworden sind. (S.119)

  • Die buchstäbliche Bedeutung einer Bibelstelle muss nicht die richtige sein: Bei diesem Thema scheint mir an erster Stelle bedenkenswert, dass es sowohl auf das allerheiligste gesagt als auch auf das umsichtigste festgestellt ist, die Heilige Schrift könne immer dann niemals lügen, wenn man ihre eigentliche Bedeutung durchschaut habe; die ist aber, was man – wie ich glaube – nicht leugnen kann, oftmals verborgen und sehr verschieden von dem, was der reine Wortsinn vermittelt. Daraus folgt, dass es manchmal jemand, der in ihrer Auslegung immer auf der Stufe der bloßen buchstäblichen Bedeutung stehen bleiben will, fälschlicher Weise so erscheinen lassen könnte, als wären in den Schriften nicht nur Widersprüche, sondern auch noch schwere Häresien und Gotteslästerungen enthalten. Denn dann wäre es notwendig, Gott sowohl Füße, als auch Hände und Augen zuzuordnen (…) (S.105-7)

  • Die Bibel passt sich bei Aussagen über die Natur dem Verständnis der damaligen Hörer an: Die vom Heiligen Geist eingegebenen Sätze [über Gottes Hände und Augen etc.] wurden von den Verfassern der Heiligen Schriften auf diese Art ausgedrückt, um sich an die geistigen Möglichkeiten der äußerst rohen und ungelehrten breiten Bevölkerung anzupassen. (….) Wer möchte dann allen Ernstes darauf bestehen, dass eben diese Schriften noch beim beiläufigen Reden über die Erde, das Wasser, die Sonne oder andere Dinge der Schöpfung ein derartiges Bemühen zurückgestellt und sich dafür entschieden habe, sich mit aller Strenge auf die Bedeutung der Worte im reinen und engen Sinn zu beschränken? Besonders wenn beim Anführen dieser Teile der Schöpfung Dinge behandelt werden, die einerseits eben nicht die hauptsächlichen Aufgaben der Heiligen Schriften, das heißt die Verehrung Gottes und das Seelenheil, betreffen und andererseits dem allgemeinen Verständnis äußerst fern liegen. (S.107-9)

  • Der Schlussteil des vorigen Zitats macht einen weiteren wichtigen Punkt: Der Zweck der Heiligen Schrift besteht darin, uns über Gott und das Seelenheil zu lehren und nicht über die Natur. Dies unterstreicht auch das folgende bekannte Zitat: An diesem Punkt würde ich das sagen, was ich von einem Kirchenmann von allerhöchster Stellung hörte, und zwar, dass es die Absicht des Heiligen Geistes sei, uns zu lehren, wie wir in den Himmel kommen, und nicht, wie es zur Bewegung des Himmels komme. (S.117)

  • Die Kirchenväter haben Zurückhaltung bei den Aussagen über die Natur geübt: [Die Kirchenväter sind] äußerst vorsichtig vorgegangen, weil sie wussten, wie sehr zum Nachteil und wie sehr gegen das vornehmste Ziel der Katholischen Kirche das Vorhaben wäre, aus Schriftstellen solche die Natur betreffenden Schlussfolgerungen festzulegen, zu denen entweder mittels Erfahrung oder mittels zwingender Beweise nach einiger Zeit das Gegenteil des nackten Wortlauts aufgezeigt werden könnte. Sie haben vielmehr folgende Vorschrift erlassen, um die anderen zu unterweisen: (S.161)

    (Jetzt wird Augustinus zitiert) „Wir lesen in der Heiligen Schrift von so manchen dunklen, unseren Augen allzuweit entfernten Dingen, über die wir auch in dem gesunden Glauben, in den wir eingeweiht sind, verschiedene Meinungen haben dürfen. Aber in keine von ihnen sollten wir uns kopfüber hineinstürzen, dass wir gleich am Sinn der göttlichen Schrift verzweifeln, sobald unsere Meinung vielleicht durch eine sorgfältige Untersuchung in Wahrheit umgestoßen wird.“ (Aus De Genesi ad Litteram, 1. Buch, 18. Kapitel, Übersetzt von Carl Johann Perl. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 1961)

  • Wenn wir mit Verweis auf die Bibel Dinge über die Natur behaupten, von denen gebildete Menschen wissen, dass sie falsch sind, machen wir den Glauben unglaubwürdig. Hier bringt Galilei die folgende häufig zitierte Aussage von Augustinus, die ich auch gerne in meinen Vorträgen über Glaube und Wissenschaft verwende: „Oft genug kommt es vor, dass auch ein Nichtchrist ein ganz sicheres Wissen durch Vernunft und Erfahrung erworben hat, mit dem er etwas über die Erde und den Himmel, über Lauf und Umlauf , Größe und Abstand der Gestirne, über bestimmte Sonnen- und Mondfinsternisse, über die Umläufe der Jahre und Zeiten, über die Naturen der Lebewesen, Sträucher, Steine und dergleichen zu sagen hat. Nichts ist nun peinlicher, gefährlicher und am schärfsten zu verwerfen, als wenn ein Christ mit Berufung auf die christlichen Schriften zu einem Ungläubigen über diese Dinge Behauptungen aufstellt, die falsch sind und, wie man sagt, den Himmel auf den Kopf stellen, so dass der andre kaum sein Lachen zurückhalten kann. Dass ein solcher Ignorant Spott erntet, ist nicht das Schlimmste, sondern dass von Draußenstehenden gedacht wird, unsere Autoren hätten so etwas gedacht. Gerade sie, um deren Heil wir uns bemühen, tragen den größten Schaden, wenn sie unsere Gottesmänner daraufhin als Ungelehrte verachten und zurückweisen. Denn wenn sie einen von uns Christen auf einem Gebiet, das sie genau kennen, bei einem Irrtum ertappen und merken, wie er seinen Unsinn mit unseren Büchern belegen will, wie sollen sie dann jemals diesen Büchern die Auferstehung der Toten, die Hoffnung auf das ewige Leben und das Himmelreich glauben, da sie das für falsch halten müssen, was diese Bücher geschrieben haben über Dinge, die sie selbst erfahren haben und als unzweifelhaft erkennen konnten.“ (De Genesi ad Litteram“, 1. Buch, 19. Kapitel).

  • Und zum Schluss noch eine psychologische Überlegung von Galilei: Wir tendieren dazu, solche Bibelstellen zu entdecken, die unsere vorgefasste Meinung zu bestätigen scheinen: Was nun andere Stellen der Schrift betrifft, die dieser [heliostatischen] Position zu widersprechen scheinen, so habe ich keine Zweifel, dass dieselben Theologen, die, solange sie dieses Position für falsch halten, solche Stellen als unvereinbar mit Auslegungen, die mit ihr in Einklang stehen, beurteilen, ihr außerordentlich gut entsprechende Interpretationen finden würden, wenn sie als wahr und bewiesen anerkannt wäre. Besonders dann, wenn diese Theologen zu ihrem Verständnis der Heiligen Schriften einige Kenntnisse über die astronomischen Wissenschaften hinzufügten. Und so, wie es ihnen in der Gegenwart scheint, in der sie sie für falsch halten, beim Lesen nur auf Stellen zu treffen, die dieser Position entgegenstehen, würden sie, wenn sie sich eine andere Meinung gebildet hätten, darin – wie zufällig – gleich viele übereinstimmende finden. (S.183)

Meines Erachtens sind all diese Argumente Galileis auch heute noch bedenkenswert.

In einigen meiner früheren Blogeinträge wurde die Interpretation der biblischen Aussagen über den Kosmos ebenfalls thematisiert. Diese sind „Kopernikus, Galilei und die Bibel“, „Der Kosmos im Alten Testament“ und „Der Mythos vom historischen Konflikt zwischen Wissenschaft und Kirche.

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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