Wenn Physik und Religion sich mischen

So manche populärwissenschaftlichen Darstellungen der Physik erwecken den Eindruck, dass die Physik nun den Platz einnimmt, den einst die Religionen eingenommen haben: Sie gibt angeblich Antwort auf die letzten Fragen nach dem Woher und Wohin und nach der Grundlage von allem Sein. Woher kommt diese Vorstellung? Eine bedenkenswerte Antwort darauf gibt die Wissenschaftsjournalistin Margaret Wertheim in ihrem Buch „Die Hosen des Pythagoras“. Sie weist darauf hin, dass die mathematische Erforschung der Natur schon seit den alten Griechen eine enge Verbindung zur Religion hatte. Diese religiöse Dimension der Physik ging selbst dann nicht verloren, als sich die Wissenschaft im 18. Jahrhundert von der Theologie unabhängig machte. Im Folgenden fasse ich einige Teile der Geschichte zusammen, die Margaret Wertheim erzählt.

Für den griechischen Philosophen Pythagoras (ca. 570-510 v. Chr.) und seine Anhänger war das Universum von göttlichen mathematischen Harmonien erfüllt. „Alles ist Zahl“ war das Motto der Pythagoreer, die alle Wirklichkeit mit natürlichen Zahlen in Verbindung brachten. Ihre kommunistische Gemeinschaft, zu der auch Frauen gehörten, war nicht nur eine philosophisch-mathematische Schule, sondern auch ein Ort religiöser Kontemplation, die darauf ausgerichtet war, die musikalischen Harmonien der himmlischen Sphären zu hören. Man glaubte an Seelenwanderung und lebte vegetarisch.

Auch wenn die Bewegung der Pythagoreer sich nicht sehr lange hielt, beeinflussten ihre Gedanken viele andere Philosophen, darunter auch Platon (428/7-348/7 v. Chr.) und seine Anhänger. Zur Zeit des Neuplatonismus ging platonisches Gedankengut sogar in die christliche Theologie ein, insbesondere über den Kirchenvater Augustinus. Beispiele hierfür sind die Vorstellung, dass die Seele unabhängig vom Körper existieren kann, und die Interpretation des Bösen als die Abwesenheit des Guten.

Stärker noch als Pythagoras beeinflusste der Philosoph Aristoteles mit seinen Vorstellungen zur Physik und Biologie die spätmittelalterlichen Theologen. Insbesondere die teleologische (d.h. auf Zwecke und Ziele bezogene) Ausrichtung seiner Wissenschaft harmonierte mit dem Christentum. Über 400 Jahre lang (also bis ins 18. Jahrhundert) blieb die Naturwissenschaft tief mit dem christlichen Weltbild verflochten. Sie wurde sogar manchmal eine ‚Magd der Theologie‘ genannt.

Als Kopernikus, Kepler und Newton die Gesetzmäßigkeiten hinter den Planetenbahnen suchten, folgten sie der pythagoräischen Idee vom Kosmos als einer großen mathematischen Harmonie. Kopernikus bezeichnete die Astronomie als eine göttliche Wissenschaft. Er erwartete, dass die Planetenbahnen ästhetischen Prinzipien folgen und Vollkommenheit und Symmetrie zeigen. Auch für Kepler war klar, dass Gott die Welt nach mathematischen Prinzipien geschaffen hat. Er glaubte außerdem, dass wir Menschen die mathematischen Gesetze der Planetenbahnen erkennen können, weil Gott uns als sein Ebenbild geschaffen hat und uns an seinen Gedanken teilhaben lassen möchte.

Wie groß die Überzeugungskraft eleganter mathematischer Gleichungen war, erkennt man ganz besonders daran, dass das heliozentrische Weltbild allein aufgrund von Newtons Rechnungen akzeptiert wurde, ohne dass es einen empirischen Nachweis für die Bewegung der Erde gab. (Den gab es erst im 19. Jahrhundert.) Diese Rechnungen zeigten, dass die drei Keplerschen Gesetze allesamt aus Newtons Gravitationsgesetz hergeleitet werden können. Auch Galileis Fallgesetze resultieren aus dem Gravitationsgesetz. Diese überwältigende Erklärungskraft einer einfachen Formel begründete den Erfolg der Newtonschen Mechanik.

Doch Newton war nicht nur Naturphilosoph (wie man damals die Physiker nannte), sondern auch Hobby-Theologe. Er betrachtete seine Erkenntnisse als Stärkung für den christlichen Glauben. Er argumentierte, dass keine natürliche Ursache das Sonnensystem so geschaffen haben konnte, dass alle Planeten sich in dieselbe Richtung, in derselben Ebene und in konzentrischen Umlaufbahnen bewegen. Dies müsse ein intelligenter Schöpfer gemacht haben. Von unseren heutigen Planetenentstehungsmodellen, die die drei genannten Eigenschaften auf ganz natürliche Weise erzeugen, hatte Newton noch keine Ahnung… Doch Newton ging noch weiter: Gott war seiner Auffassung nach nicht nur als Schöpfer, sondern auch als Erhalter der Planetenbahnen nötig. Denn Newton meinte, dass die wechselseitige Anziehung der Planeten ihre Bahnen destabilisieren müsse. Deshalb müsse Gott von Zeit zu Zeit eingreifen und die Bahnen korrigieren, z.B. durch Kometen. Newton hatte noch nicht unsere heutigen Computer, mit denen wir berechnen können, dass es Milliarden von Jahren dauert, bis die Planeten tatsächlich durch ihre gegenseitige Beeinflussung aus ihren Bahnen geworfen werden. Die Ähnlichkeit der Überlegungen Newtons mit denen der heutigen Vertreter des Intelligent Design sind interessant…

Die neue Physik wurde sogar dafür verwendet, eine wörtliche Auslegung der Bibel plausibel zu machen. Newton meinte, die Erde begann erst am dritten Tag, sich zu drehen, und deshalb könnten die ersten beiden Tage sehr lang gewesen sein. Ein anderer Denker meinte, ein bestimmter Komet könnte der Auslöser für die Sintflut gewesen sein. Auch dies erinnert an so manche Argumente aus der heutigen Zeit…

Die Newtonsche Physik führte zu einer mechanistischen Naturauffassung: Weil sie von deterministischen mathematischen Gesetzen regiert wird, funktioniert die Welt scheinbar wie ein großes Uhrwerk, das durch seine Zahnräder, Riemen und Federn am Laufen gehalten wird. Zunächst wurde auch dieses Bild der Natur christlich gedeutet: Weil in einem gesetzmäßigen Universum die Natur nur das tun kann, was die Gesetze erlauben, muss alles andere, das außerhalb dieser Gesetze liegt, durch Gott verursacht werden. So erklärte man sich Wunder.

Seit dem frühen 18. Jhd. wurde die Wissenschaft zunehmend von der Religion getrennt. Die Physiker kamen zu dem Glauben, die Natur sei selbsterhaltend und nicht von Gott abhängig. Die Schwerkraft sei eine der Materie innewohnende Kraft, und das Sonnensystem bestehe auch ohne göttliche Einwirkungen weiter. Trotzdem hatten die Physiker weiterhin eine quasi religiöse Einstellung zu ihrem Fach und meinten, dass die mathematische Erforschung der Natur ein ‚göttliches Streben‘ sei. Dies zeigt sich z.B. in Buchtiteln wie „Gott und die moderne Physik“, „Der Plan Gottes“ und „Spielt Gott Roulette?“ Physiker wie Einstein und Hawking haben ihre Arbeit als einen Versuch gesehen, den mathematischen Plan der Schöpfung zu erhellen. Beide befassten sich mit der Kosmologie. Diese Wissenschaft, die die Entstehung und Entwicklung des Universums zu erhellen versucht, rührt in der Tat an die Fragen nach dem Woher und Wohin unserer Welt. Einstein drückte die religiöse Dimension der Wissenschaft so aus: „Ein Zeitgenosse hat nicht zu Unrecht gesagt, dass die ernsthaften Forscher in unserer im allgemeinen materialistisch eingestellten Zeit die einzigen tief religiösen Menschen seien.“ Einstein war aufgrund der mathematischen Eleganz seiner Allgemeinen Relativitätstheorie zutiefst davon überzeugt, dass sie richtig sein müsse. Als er gefragt wurde, wie er reagiert hätte, wenn die Messungen seine Theorie nicht bestätigt hätten meinte er „Da könnt mir halt der liebe Gott leid tun.“ Einstein meinte also, den Plan entdeckt zu haben, den Gott hätte verwenden sollen… Der Nobelpreisträger George Smoot, der mit seinem Team die feinen Strukturen in der kosmischen Hintergrundstrahlung vermaß, die uns über die Frühzeit des Universums informieren, sagte „Es war, als hätte ich ins Antlitz Gottes geschaut.“

Auch Stephen Hawking nennt oft ‚Gott‘ in seinen Büchern. Zum Beispiel fragt er, welche Freiheiten Gott wohl bei der Erschaffung der Welt gehabt hätte. Der Erfolg seines Bestsellers „Eine kurze Geschichte der Zeit“ geht wohl auf diesen religiösen Unterton zurück. Doch Hawkings ‚Gott‘ ist nicht der Gott der monotheistischen Religionen, sondern laut Frau Wertheim bestenfalls „ein pfiffiger Bursche, der in derselben Liga spielt wie Hawking“.

Nicht nur die Kosmologie, sondern auch die Teilchenphysik wird oft mit religiösen Fragen in Verbindung gebracht. Das Streben der heutigen Teilchenphysiker nach einer „Theory of Everything“ bzw. der Weltformel, die alle vier Grundkräfte der Natur und alle Elementarteilchen in einer einzigen Theorie zusammenfasst, ist in den Augen von Frau Wertheim eher ein quasi-religiöses als ein wissenschaftliches Ziel. Der Physiker Robert Wilson assoziierte Teilchenbeschleuniger, die Milliarden von Dollars kosten und mit denen man die Bausteine der Materie erforscht, mit Kathedralen: „Kathedralen wie Beschleuniger werden aus Glaubensgründen und unter hohen Kosten gebaut. Beide bieten geistige Erhebung, Transzendenz und Offenbarung im Gebet.“ Sein Kollege Leon Ledermann nannte das Higgs-Teilchen, das schon in den 1960er Jahren vorhergesagt und schließlich im Jahr 2021 am CERN nachgewiesen wurde, „Gottesteilchen“ und sparte auch sonst in seinem Buch „The God Particle“ nicht mit religiös klingenden Formulierungen.

Der Glaube, dass es eine mathematisch formulierbare Theorie gibt, die die gesamte materielle Wirklichkeit beschreibt und damit quasi die Rolle Gottes als Schöpfer und Erhalter der Welt übernimmt, ist auch in meinen Augen unhaltbar. Ihm liegt die Auffassung zugrunde, dass die Welt hierarchisch strukturiert ist und von der untersten, mikroskopischen Ebene der Elementarteilchen und den Kräften zwischen ihnen gesteuert wird. Hierbei wird übersehen, dass es nicht nur die Einflüsse von ‚unten‘ nach ‚oben‘, also von den Teilen auf das Ganze gibt, sondern auch die abwärts gerichteten Einflüsse vom Ganzen auf die Teile. Die Umgebung, in die ein System eingebettet ist, bestimmt erst, welche Objekte es überhaupt gibt und welche Möglichkeiten der Bewegung und Veränderung sie haben. Diese Umgebung muss nicht rein physikalisch sein. Auf die Materie unseres Körpers z.B. wirkt auch die biologische und sogar die mentale Ebene ein. Ich habe dies in meinem Blogbeitrag „Lassen die Naturgesetze Raum für Gottes Wirken“ diskutiert. Das bedeutet, dass die Physik allein gar nicht alles bestimmen kann, was passiert. Den Ansprüchen einiger Physiker, mit ihren Theorien im Besitz der wichtigsten Geheimnisse des Universums zu sein, braucht man also keinen Glauben zu schenken. Für die Fragen nach der letzten Realität und nach der Ursache von allem Sein ist auch heute noch nicht in die Physik, sondern die Theologie zuständig.

Hinweis: Es lohnt sich, das ganze Buch von Margaret Wertheim zu lesen. Es befasst sich noch mit einem zweiten großen Thema, nämlich der Geschichte der Frauen in der Physik. Frau Wertheim vertritt die These, dass die frühere Verbundenheit der Physik mit Klosterschulen und theologischem Denken dazu beitrug, dass die mathematische Erforschung der Natur als eine Art priesterliche Tätigkeit angesehen wurde, die den Männern vorbehalten ist. Deshalb sei es für Frauen so schwierig gewesen, in dieses Gebiet einzudringen.

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