William Paley und die Uhr

Im Jahr 1802 erschien das einflussreiche Buch „Natural Theology“ des englischen Theologen und Philosophen William Paley. In diesem Buch bringt er sein berühmtes Design-Argument für Gott:

„Angenommen, ich stoße beim Gang durch die Heide mit meinem Fuß gegen einen Stein und werde gefragt, wie der Stein hierher kommt, dann könnte ich antworten, dass ich nicht ausschließen kann, dass der Stein schon immer da gelegen hat. Und diese Antwort ist wohl gar nicht einfach zu widerlegen. Aber nehmen wir nun an, dass ich eine Uhr auf dem Boden gefunden hätte und würde gefragt, wie die Uhr an diesen Ort kommt. Dann käme ich nicht auf die Idee, dieselbe Antwort wie vorher zu geben, nämlich dass ich nicht ausschließen kann, dass die Uhr schon immer da gelegen hat. Warum eignet sich diese Antwort nicht für die Uhr genauso gut wie für den Stein? Doch nur deshalb, weil die Uhr, wenn wir sie untersuchen, aus verschiedenen Teilen besteht, die für einen bestimmten Zweck zusammengefügt wurden, und das können wir über den Stein nicht sagen. Die Teile [der Uhr] sind so geformt und angepasst, dass Bewegung entsteht; eine Bewegung, die so bemessen ist, dass sie die Uhrzeit anzeigt. […] Die Schlussfolgerung ist unvermeidlich, dass die Uhr einen Hersteller haben muss: Irgendwann und irgendwo muss es einen oder mehrere Konstrukteure gegeben haben, die die Uhr für den Zweck entwickelt haben, den wir identifiziert haben; diese Konstrukteure haben verstanden, wie man eine Uhr baut, und sie haben ihre Verwendung geplant.“

Paley wechselt dann von der Uhr zur Natur und argumentiert, dass die Natur viel mehr und viel großartigere Beispiele von Design zeigt als alle menschlichen Erfindungen. Um dies zu illustrieren, wählt er das Auge und vergleicht es mit einem Teleskop. Beide setzen dieselbe Idee um, nämlich mit Hilfe einer Linse ein scharfes Bild auf eine Fläche zu projizieren. Doch das Auge ist deutlich vielseitiger als ein Teleskop: Es kann sich an einen breiten Bereich von Lichtstärken und Entfernungen anpassen. Bei verschiedenen Wirbeltieren ist das Auge jeweils auf ihre speziellen Bedürfnisse abgestimmt: Der Vogel kann sowohl beim Picken als auch beim Fliegen, also bei sehr kleinen und sehr großen Entfernungen, scharf sehen. Das Auge des Fisches ist an den höheren Brechungsindex des Wassers angepasst, das Auge des Aals hat gar eine durchsichtige Hornschicht, die es schützt, wenn er im Boden wühlt. Diese Zweckmäßigkeit der Merkmale von Lebewesen weist laut Paley eindeutig auf einen Designer hin. Er geht sogar noch weiter und versucht, aus den Eigenschaften der Schöpfung einige Eigenschaften des Schöpfers abzuleiten, z.B. seine Güte.

Paleys Argumentation hat bleibenden Eindruck hinterlassen, und sie wird heute noch zitiert. Darwin schrieb, dass die Lektüre des Buchs von Paley eines der Highlights seines Studiums war. Doch genauso alt wie das Design-Argument ist die Kritik daran. Schon vor Paley argumentierten Philosophen der Aufklärung dagegen, Gott aus der Natur beweisen zu wollen. Der bekannte Philosoph David Hume meinte, man könne aus der Zweckmäßigkeit der Lebewesen bestenfalls folgern, dass irgendeine Art von Intelligenz dahinter steckt. Aber ob es ein Gott sei oder viele Götter und ob Gott allmächtig und gut sei, werde aus der Natur nicht klar. Außerdem spricht laut Hume das viele Leid, die Unvollkommenheiten und die Verschwendung in der Natur gegen einen Designer. Es seien auch Mechanismen der Anpassung denkbar, die ohne zielgerichtetes Konstruieren auskommen. Auch Immanuel Kant kritisierte das Design-Argument, allerdings mit anderen Motiven, denn er glaubte im Gegensatz zu Hume an Gott. Aber er meinte, dass man Gott nicht mit Vernunftargumenten aus der Natur beweisen könne. Kants Argumente für Gott waren von moralischer Art.

Paley geht in seinem Buch auf einige dieser Gegenargumente ein. Er meint, auch an einer unvollkommenen Uhr, die nachgeht, könne man noch erkennen, dass sie einen Uhrmacher hat. Nicht zielgerichtete Mechanismen, wie Hume sie vorschlägt, würden nicht funktionieren. Das Leid werde weit überwogen durch Genuss und Freude. Die Freiheit, die Gott seinen Geschöpfen gibt, ginge zwangsläufig mit Unvollkommenheiten einher.

Die Auffassung, dass man Gott aus der Natur erkennen kann, hat eine lange Tradition und kann sich auf verschiedene Bibelstellen berufen. Am bekanntesten ist die Aussage des Apostels Paulus im ersten Kapitel des Römerbriefs (Verse 19-21): „Was man von Gott erkennen kann, ist unter den Menschen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn sein unsichtbares Wesen – das ist seine ewige Kraft und Gottheit – wird seit der Schöpfung der Welt, wenn man es wahrnimmt, ersehen an seinen Werken, sodass sie keine Entschuldigung haben. Denn obwohl sie von Gott wussten, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert.“ In Psalm 19 (Verse 2-4) heißt es: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk. Ein Tag sagt's dem andern, und eine Nacht tut's kund der andern, ohne Sprache und ohne Worte; unhörbar ist ihre Stimme."

Man nennt den Versuch, aus der Natur und mit Hilfe der Vernunft Erkenntnisse über Gott zu gewinnen, „Natürliche Theologie“ („Natural Theology“ in der englischsprachigen Literatur). Seit dem Aufkommen der Evolutionstheorie ist die Natürliche Theologie stark unter Beschuss geraten. Diejenigen, die die Natur auf blinde und zufällige materielle Prozesse reduzieren wollen, greifen Paleys Argumente an und begründen, warum der „Uhrmacher“ überflüssig ist. Richard Dawkins hat sogar ein Buch mit dem Titel „Der blinde Uhrmacher“ geschrieben. Er argumentiert, dass die Evolutionstheorie eine Alternative zum Designargument bietet. Seit Darwin sei es möglich, ein intellektuell befriedigter Atheist zu sein, da natürliche Selektion ausreiche, die scheinbare Zweckmäßigkeit der Merkmale der Lebewesen zu erklären. Evolution sei also ein „blinder Uhrmacher“, der ohne Plan und Ziel arbeitet.

Ist es wirklich so, dass die Evolutionstheorie den Designer überflüssig macht? Die alte Vorstellung, dass Gott jedes Merkmal jeder biologischen Art gezielt so konstruiert hat, dass sie an ihre Umgebung optimal angepasst ist, ist tatsächlich durch die Evolutionstheorie überholt. Statt unveränderlicher Merkmale hat das Leben die Fähigkeit, sich an die jeweilige Umgebung anzupassen. Doch die Komplexität und Funktionsweise der Lebewesen beeindrucken uns Menschen heute genauso wie zu Paleys Zeiten, und für viele sind sie auch heute noch ein Hinweis auf Gott. So berichtet zum Beispiel der Biologie-Professor Siegfried Scherer in seinem Beitrag zum Buch „Naturwissenschaftler reden von Gott“, wie er als atheistischer Biologiestudent beim Sezieren eines Frosches total fasziniert und erstaunt war über die Komplexität, die er dort sah. Rückwirkend interpretiert Scherer dieses Staunen als eine Ahnung über Gott. Das Staunen über die Natur kann einem Menschen sogar den entscheidenden Anstoß zum Glauben geben. Vor längerer Zeit fragte ich einen christlichen Physik-Professor in den USA, wie er zum Glauben gekommen sei. Er antwortete, dass er eine Antwort auf die Frage gesucht habe, wieso die Natur so komplex und geordnet sei. Ihm wurde klar, dass eine Intelligenz dahinter stecken muss.

Nicht nur in der belebten, sondern auch der unbelebten Natur gibt es viel Anlass zum Staunen. Deborah Haarsma, vormals Physikprofessorin an der Calvin-Universität in Michigan und heute die Präsidentin der Biologos-Foundation, berichtet, wie sie als junge Studentin im Physik-Praktikum total fasziniert war, als die Messdaten, die sie im Experiment erhob, genau zu einer mathematischen Funktion passten. Sie als Christin erlebte diesen Moment als eine Begegnung mit der Intelligenz des Schöpfers. Im Blogbeitrag „Woher kommt der viele Kohlenstoff“ vom vergangenen November erzählte ich, wie der Astrophysiker Fred Hoyle durch die Entdeckung der Feinabstimmung der Naturkonstanten in seinem Atheismus erschüttert wurde.

Auch für mich bedeutet das Forschen an physikalischen und biologischen Projekten, dass ich an Gottes Gedanken ein wenig teilhaben darf. Ich sehe die großartige Intelligenz hinter dieser Schöpfung sowohl in den mathematischen Gesetzen, mit denen wir in der Physik die unbelebte Natur beschreiben, als auch in der Komplexität und den Anpassungsmechanismen von Lebewesen. Mir liegt der Gedanke ferne, dass das Verstehen von Naturabläufen Gott als Schöpfer überflüssig machen sollte. Die lange Entwicklungsgeschichte des Universums und des Lebens kann nur funktionieren, wenn die Möglichkeiten für das, was wir heute haben, von Anfang an angelegt sind. Die physikalischen Gesetze und die Anfangsbedingungen des Universums müssen also die passenden Eigenschaften haben. Doch das reicht nicht. Ich meine, dass das kreative Potential des Lebens und die Phänomene „Bewusstsein“ und „Intelligenz“, die im Laufe der Entwicklungsgeschichte des Lebens entstanden sind, auf Basis der Physik allein nicht erklärbar sind. Sie stehen aber auch nicht im Widerspruch mit der Physik. So engmaschig bestimmt die Physik gar nicht alles, was in der Natur passiert. Kreativität und Bewusstsein und Intelligenz haben eine die Physik übersteigende, nichtmaterielle Quelle. Ich finde die christliche Vorstellung, dass Gott das Weltall nicht nur geschaffen hat, sondern es auch beständig trägt und erhält, hier sehr hilfreich. Im Alten Testament steht mehrfach, dass Gott den Menschen und Tieren ihren Atem gibt. Das ist eine schöne Formulierung dafür, dass insbesondere das Leben ständig von ihm abhängig ist.

Freilich sind all diese Argumente kein Gottesbeweis. Viele Wissenschaftler sind zufrieden damit, die Natur ohne Gott zu erklären. Doch für mich ist es stimmiger, die Natur als Schöpfung Gottes zu betrachten. In den Worten von Deborah Haarsma: „Ich meine, dass die christliche Perspektive auf die Gesamtheit des Lebens stärker und überzeugender ist als der Atheismus. C.S. Lewis schrieb: 'Ich glaube an das Christentum, so wie ich glaube, dass die Sonne aufgegangen ist, nicht nur, weil ich sie sehe, sondern weil ich durch sie alles andere sehen kann.'“

Hinweise: Ähnliche Fragen wie in diesen Blogbeitrag wurden schon in den früheren Beiträgen „Rudimente und der Designer“ und „Zufall und Notwendigkeit“ angeschnitten. Das naheliegende Thema Intelligent Design möchte ich in einem zukünftigen Beitrag behandeln.


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