Glaubte man im Mittelalter wirklich an die flache Erde?

Haben Sie auch in der Schule gelernt, dass Christopher Kolumbus von kirchlichen Vertretern gewarnt wurde, er würde nicht Indien erreichen, sondern vom Rand der Erde herunterfallen, wenn er immer weiter nach Westen segeln würde? Diese Geschichte ist erfunden, doch sie tauchte ab ca. dem Jahr 1880 in Schulbüchern auf und hat sich bis heute gehalten. Wie entstand dieser Mythos, wieso ist er so weit verbreitet, und was wussten gebildete Menschen und Kirchenvertreter im Mittelalter tatsächlich über die Gestalt der Erde?

Dass die Erde eine Kugel ist, wussten die griechischen Denker schon einige Jahrhunderte vor Christus. Pythagoras und Platon glaubten beide an die Kugelgestalt der Erde. Aristoteles brachte im 4. Jahrhundert v. Chr. ein einfaches Argument dafür: die Erde wirft bei Mondfinsternissen einen runden Schatten auf den Mond. Eratosthenes berechnete im 3. Jahrhundert v. Chr. sogar den Erdumfang: Er beobachtete, dass in Assuan zur Sommersonnenwende ein Brunnen komplett beleuchtet war, während in Alexandria ein Stab einen Schatten warf. Durch Messung des Winkels dieses Schattens und der Entfernung zwischen den beiden Städten konnte er den Erdumfang mit beeindruckender Genauigkeit bestimmen. Das geozentrische Weltbild des Ptolemäus (2. Jhd. n. Chr.), das bis zur Zeit von Kopernikus, Kepler und Galilei weitgehend akzeptiert blieb, beruhte natürlich auch auf der Kugelgestalt der Erde. Ptolemäus ging allerdings von einem zu kleinen Erdumfang (ca. 30.000 km) aus, ebenso wie eine Reihe von späteren Denkern, die wiederum Christopher Kolumbus beeinflussten. Daher glaubte er, er könne auf dem Weg nach Westen Indien erreichen, bevor die Nahrungsvorräte ausgehen.

Auch im Mittelalter ging das Wissen um die Kugelgestalt der Erde nicht verloren, schon allein weil Aristoteles die Lehre der Kirche stark prägte. Man findet die Kugelform der Erde in den Schriften vieler mittelalterlichen Gelehrten, darunter des großen Kirchenlehrers Thomas von Aquin, aber auch in Symbolen wie dem Reichsapfel der Kaiser und in Darstellungen der Himmelskörper, wie z.B. in astronomischen Uhren in Kathedralen. Natürlich findet man auch einzelne Gegenbeispiele von mittelalterlichen Gelehrten, die sich gegen die Kugelgestalt der Erde aussprachen. Der britische Gelehrte William Whewell nennt in seinem 1837 erschienenen Werk „History of the Inductive Sciences“ zwei solche Autoren: Der erste ist der Kirchenvater Laktanz (um 300 n.Chr.), der in dem Werk „Divinae Institutiones“ die Lehre des Christentums verteidigt und sie mit den heidnischen Religionen und Philosophien vergleicht. Im 24.Kapitel des dritten Buches lesen wir, dass die Kugelgestalt der Erde eine absurde Idee sei, weil auf der gegenüberliegenden Seite der Erde die Bäume nach unten wachsen und die Menschen mit dem Kopf nach unten hängen würden. Der zweite Autor ist der spätantike Schriftsteller Kosmas Indikopleustes. In seiner „Christlichen Weltbeschreibung“ argumentiert er angelehnt an das Alte und Neue Testament um das Jahr 550 gegen die Kugelgestalt der Erde. Doch die Lehre der Kirche wurde davon nicht beeinflusst.

Selbst in den Schriften der Aufklärung (18. Jhd.), in der die Kirchen von einigen Autoren hart angegriffen wurden, findet sich nirgends die Behauptung, dass die mittelalterliche Kirche eine flache Erde lehrte. Dieser Mythos entstand erst im 19. Jahrhundert. Der US-amerikanische Schriftsteller Washington Irving schrieb im Jahr 1828 einen historischen Roman über Christopher Kolumbus. In sehr freier Abwandlung und Dramatisierung der tatsächlichen Begebenheiten wird dort erzählt, dass Kolumbus von kirchlichen Vertretern gewarnt wurde, er würde vom Rand der Erde fallen, wenn er immer weiter nach Westen segeln würde.

Dieser Roman wurde in der Folgezeit sehr beliebt, aber es dauerte noch ca. 50 Jahre, bis die Behauptung, man hätte im Mittelalter an die flache Erde geglaubt, weite Verbreitung fand und in die Schulbücher aufgenommen wurde. Der Historiker Jeffrey Burton Russell benennt hierfür zwei Hauptverantwortliche: Das Buch „History of the Conflict between Religion and Science“ (1874) von William Draper, und das Buch „History of the Warfare of Science with Theology in Christendom“ (1876,1896) von Andrew Dickson White. Beide Autoren waren angesehene Wissenschaftler: Der Historiker und Literaturwissenschaftler White war Mitgründer und erster Präsident der Cornell Universität, und der Mediziner und Chemiker Dickson gründete die New York University School of Medicine. Er war außerdem der erste Präsident der American Chemical Society. Beide Bücher wurden internationale Bestseller, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Beide Bücher idealisieren die Geschichte der Wissenschaft als eine Geschichte des Fortschritts, die angeblich durch die Kirche behindert wurde, die ungeachtet empirischer Beweise an überkommenen und unhaltbaren Dogmen festhielt. Draper und White gelten daher als die Begründer der Konfliktthese, dass Religion und Wissenschaft im Widerspruch zueinander stehen, was zwangsläufig zu einer Feindschaft zwischen beiden führen muss. Diese These ist zwar längst durch Historiker widerlegt, findet aber weiterhin Anhänger.

Als die Bücher von Draper und White erschienen, war die Auseinandersetzung um Darwins Evolutionstheorie in vollem Gange, und dies bot den Autoren einen willkommenen Aufhänger für ihre Bücher. Doch selbst die Auseinandersetzung um die Evolutionstheorie kann nicht als Konflikt zwischen Kirche und Wissenschaft verstanden werden, denn die Reaktionen der kirchlichen Vertreter auf Darwins Theorie waren keineswegs immer ablehnend.

Dass der Mythos vom mittelalterlichen Glauben an die flache Erde so weit verbreitet wurde und sich so hartnäckig hält, hängt mit unseren menschlichen Veranlagungen zusammen: Erstens erzählen wir gerne Geschichten weiter, die gut klingen und Helden enthalten. Christopher Kolumbus wird als solch ein Held dargestellt, der den Warnungen trotzt und mutig seinen Überzeugungen folgt. Zweitens betrachten wir gerne unsere eigene Zeit als fortschrittlich und überlegen und verorten daher falsche Überzeugungen und Aberglauben in der Vergangenheit, insbesondere dem „finsteren“ Mittelalter. Und drittens betrachten wir die Wissenschaft als Quelle der Erkenntnis und Motor des Fortschritts und glauben daher gerne Geschichten vom Kampf der Wissenschaft gegen Mächte, die ihr entgegenstehen wollten.

C.S. Lewis schlägt ein gutes Gegenmittel gegen unseren Hang zur „chronological snobbery“ (also dem Gefühl der Überlegenheit über vergangene Zeiten) vor:

Es ist eine gute Regel, sich nach dem Lesen eines neuen Buches kein weiteres zu gönnen, bevor man nicht ein altes gelesen hat. […] Jedes Zeitalter hat seine eigene Sichtweise. Es besitzt die Fähigkeit, bestimmte Wahrheiten zu erkennen, und ist besonders anfällig für bestimmte Fehler. Wir alle brauchen daher Bücher, die die typischen Fehler unserer Zeit korrigieren. […] Niemand von uns kann dieser Blindheit völlig entgehen, aber wir werden sie sicherlich verstärken und den Schutz vor ihr verringern, wenn wir nur moderne Bücher lesen. […] Das einzige Gegenmittel besteht darin, den frischen Wind vergangener Jahrhunderte durch unseren Geist wehen zu lassen, und das kann nur durch die Lektüre alter Bücher geschehen. Quelle: C.S. Lewis, God in the Dock (Grand Rapids, MI: William B. Eerdmans Publishing Co., 1970), S.200-201.

Aus diesem Grund habe ich oben die zitierten Werke von Laktanz und Indikopleustes verlinkt. Besonders die Lektüre von Laktanz vermittelt interessante Einsichten in seine Zeit und Denkweise.


Meine Hauptquellen für diesen Blogbeitrag bilden der Essay The Late Birth of a Flat Earth von Stephen Jay Gould und die Webseite https://blog.histofakt.de/2016/05/12/der-mythos-von-der-flachen-erde/.

Dass die biblischen Autoren sich die Erde flach und nicht als Kugel vorstellten, habe ich in einem früheren Blogbeitrag thematisiert. 

Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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