Wunder im Alten Testament

Wunderberichte sind für mich als Physikerin eine Herausforderung. Es scheint nicht stimmig, dass Gott die Welt gesetzmäßig geschaffen hat und dann immer wieder die von ihm verordneten Gesetze übertritt. Daher bin ich zunächst skeptisch, wenn ich eine Wundergeschichte höre oder lese. Es muss schon einen tieferen Grund für die Abweichung vom normalen Ablauf der Natur geben, damit ich ein Wunder akzeptiere. C.S. Lewis verglich Gott einmal mit einem Dichter, der sich für sein Werk ebenso wie Gott Gesetze vorgibt: das Reimschema und den Rhythmus. Wenn der Dichter an einer Stelle davon abweicht, dann will er damit einen besonderen Effekt erzielen oder etwas Besonderes ausdrücken (vorausgesetzt er ist kein schlechter Dichter, der es einfach nicht besser kann). Er folgt sozusagen der tieferen Logik seines Werks. Mit den Wundern, die Jesus tat, habe ich deswegen keine Probleme, weil ich einen tieferen Grund für sie sehe: sie sind ein Vorgeschmack der neuen Schöpfung ohne Krankheit und Leid, die noch kommen wird. Insbesondere seine Auferstehung aus dem Grab beinhaltet die Verheißung, dass wir alle einst auferstehen werden.

Mit den Wundern des Alten Testaments habe ich mehr Schwierigkeiten. Wenn eine Geschichte wundersam klingt, muss es ja auch nicht unbedingt heißen, dass die Naturgesetze übertreten werden. Die Menschen der damaligen Zeit kannten gar nicht die Unterscheidung zwischen natürlichen Abläufen und göttlichem Handeln. Gott war der Urheber von allem. Das Besondere am „Wunder“ war damals nicht ein möglicher Verstoß gegen Naturgesetze, sondern die Begegnung mit Gottes Realität und Macht. Von daher ist es vermutlich fehl am Platz zu fragen, was damals aus wissenschaftlicher Perspektive genau passiert ist und ob es mit den Naturgesetzen zusammenpasst. Das wird der Absicht des Textes nicht gerecht. Und doch stelle ich mir als Physikerin diese Fragen. Geprägt durch vieles, was ich schon gelesen und gehört habe, fallen die für mich plausibel klingenden Erklärungen in verschiedene Kategorien. Vielleicht hilft die folgende Auflistung auch manchen meiner Leserinnen und Leser.

(a) Koinzidenzen: In einigen Fällen ist nicht das Ereignis an sich wundersam, sondern der Zeitpunkt: Der Durchzug des Volkes Israel durch den Jordan unter Josuas Führung geschah genau dann, als flussaufwärts ein Erdrutsch stattfand und den Fluss aufstaute: Jos.3,16: „da stand das Wasser, das von oben herniederkam, aufgerichtet wie ein einziger Wall, sehr fern, bei der Stadt Adam, die zur Seite von Zaretan liegt; aber das Wasser, das zum Meer der Araba hinunterlief, zum Salzmeer, das nahm ab und floss ganz weg.“ Das Jordantal ist eine geologisch sehr aktive Zone, in der immer wieder Erdbeben und dadurch ausgelöste Erdrutsche passieren, die den Fluss eine Zeitlang blockieren, so z.B. 1547, 1906 und 1927 (siehe diese Webseite). Auch für den Durchzug Israels durch das Schilfmeer unter Mose gibt der Bibeltext selbst eine natürliche Erklärung: 2. Mose 14,21: „Als nun Mose seine Hand über das Meer reckte, ließ es der HERR zurückweichen durch einen starken Ostwind die ganze Nacht und machte das Meer trocken, und die Wasser teilten sich.“ 

(b) Übertreibung als Stilmittel: In meinem Blogbeitrag zur Sintflut habe ich erwähnt, dass die Superlative in dieser Geschichte ein Stilmittel und nicht wörtlich zu verstehen sind: Die Wasser der Flut kamen aus „allen Brunnen der großen Tiefe“ und allen „Fenstern des Himmels“, bis die Flut „alle hohen Berge bedeckte“ und „alles vertilgte, was auf dem Erdboden war, vom Menschen an bis hin zum Vieh und zum Gewürm und zu den Vögeln unter dem Himmel“. Man nennt diese Art von Übertreibung auch „Hyperbel“. Wir kennen sie aus unserer Umgangssprache: „Dein Koffer wiegt eine Tonne“, „Das habe ich dir schon tausend Mal gesagt“, „Wir haben die Gegner fix und fertig gemacht“. Wir finden die Hyperbel in vielen Texten des Alten Orients und auch an vielen weiteren Stellen in der Bibel, z.B. auch in der Geschichte von den 10 Plagen vor dem Auszug Israels aus Ägypten: In 2. Mose 9,6 heißt es: „Da starb alles Vieh der Ägypter“ – aber 13 Verse weiter gibt es doch noch ägyptisches Vieh...

(c) Wir verstehen den Text falsch: Neulich begegnete mir eine faszinierende und überzeugend klingende Erklärung von Josua 10,12, wo Josua der Sonne und dem Mond befahl stillzustehen (gemäß unserer Bibelübersetzung). Wir verstehen diesen Text meist so, dass es Abend war und Josua noch Tageslicht brauchte, um die Verteidigungs-Schlacht zu Ende zu führen. Doch John Walton weist darauf hin, dass das Tal Ajalon, über dem der Mond stand, im Westen des Kampfortes ist, und Gibeon, wo die Sonne stand, im Osten. Also war es Morgen und nicht Abend. Walton erklärt weiter, dass derjenige Augenblick am ersten Tag eines Vollmonds, an dem ungefähr vier Minuten lang sowohl die Sonne im Osten, als auch der Mond im Westen über dem Horizont zu sehen sind, als besonderes Omen galt: War dies der 14. Tag des Monats (d.h. seit dem Neumond), galt es als gutes Vorzeichen, war es ein anderer Tag, galt dies als schlechtes Omen, das Katastrophen ankündigte. Walton vermutet, dass der Tag der Schlacht nicht der 14. des Monats war. Josua betete daher kurz vor Sonnenaufgang darum, dass die Amoriter in den kommenden Minuten dieses schlechte Omen als Ankündigung einer drohenden Niederlage bekommen. Die Formulierung, die Josua im hebräischen Text verwendet, bezieht sich auf ein solches Omen, doch dies ist aus der Übersetzung („Sonne, steh still!“) überhaupt nicht erkennbar.

(d) Der Text erhebt nicht den Anspruch, historisch zu sein: In meinem Blogbeitrag zum Buch Jona habe ich in Anlehnung an C.S. Lewis erklärt, warum dieses Buch nicht als historischer Text, sondern als ein erbaulicher Text zu verstehen ist.

(e) Legendenbildung: Einige Geschichten im Alten Testament klingen für mich so unglaubwürdig, dass ich sie für Legenden halte. Dazu gehört die Ankündigung der Geburt Samsons (Ri. 13), wo der Bote Gottes, der Samsons Eltern die Geburt ankündigt, in der Flamme des Brandopfers, das sie Gott bringen, aufsteigt. Ein anderes Beispiel ist die Geschichte in 1. Könige 13, wo der Löwe, der den ungehorsamen Propheten tötet, neben dem Leichnam und dem Esel des Getöteten stundenlang stehen bleibt, so dass alle Passanten den toten Propheten, den Esel und den Löwen sehen können. Auch mit sprechenden Eseln, schwimmendem Eisen und rückwärts gehenden Sonnenuhren habe ich meine Schwierigkeiten...

(f) „Echte“ Wunder: Andere Begebenheiten des Alten Testaments scheinen mir so zentral und eine so deutliche Begegnung mit Gottes Macht zu sein, dass ich es nicht für angemessen halte, sie durch natürliche Vorgänge zu erklären oder in einen historischen und legendenhaften Teil zu zerlegen. Dazu gehört der Bundesschluss am Sinai (2. Mose 19+20) und das Gottesurteil auf dem Berg Karmel (1. Könige 18). Gerne nehme ich diese Texte so, wie sie dastehen.

Zu einigen Wundergeschichten habe ich keine klare Meinung und lebe mit offenen Fragen. Vermutlich wissen wir auch bei manchen Formulierungen nicht, wie sie von den Verfassern gemeint und den damaligen Lesern verstanden wurden. Viel wichtiger als der wissenschaftliche Blick auf die in der Bibel beschriebenen Begebenheiten ist, dass wir uns durch die Botschaft, die der Text vermitteln will, ansprechen lassen.

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