Jona und der Fisch
Manchmal werde ich gefragt, ob ich als Naturwissenschaftlerin die biblische Geschichte von Jona glaube. Dabei geht es besonders um die Frage, ob Jona wirklich drei Tage im Bauch eines Fisches (oder Wals – damals hat man diesen Unterschied noch nicht gemacht) überlebt haben kann. Wissenschaftlich scheint das unmöglich. Das einzige Meerestier, das vom Durchmesser seiner Speiseröhre her einen Menschen verschlucken kann, ist meines Wissens der Pottwal. Doch wer tatsächlich von einem Pottwal verschluckt wird, stirbt gleich einen zweifachen Tod: Er wird von der ätzenden Magensäure verdaut und hat keinen Sauerstoff zum Atmen. Wenn Gott nicht ein Wunder tut, muss Jona also nach drei Tagen mausetot sein. Im Blogeintrag über die Auferstehung Jesu habe ich erwähnt, dass ich Wunder grundsätzlich für möglich halte. In einem späteren Beitrag möchte ich noch mehr zum Thema Wunder sagen. In diesem Beitrag zu Jona geht es mir aber um etwas anderes: Können wir dem biblischen Text Hinweise darauf entnehmen, ob er als wörtlich aufzufassender Tatsachenbericht gemeint ist?
Dazu betrachten wir zunächst die Geschehnisse des Buchs Jona: Gott gab ihm den Auftrag, nach Ninive zu gehen, um den Menschen dort den Untergang als Strafe für ihre bösen Taten anzukündigen. Doch er wollte nicht und floh auf einem Schiff in die entgegengesetzte Himmelsrichtung. Aber Gott schickte einen Sturm, der nur dadurch zu beruhigen war, dass die Schiffsbesatzung Jona über Bord warf. Ein großer Fisch verschluckte Jona und spuckte ihn drei Tage später wieder an seinem Ausgangsort aus. Als Gott ihm zum zweiten Mal den Auftrag gab, nach Ninive zu gehen, gehorchte Jona. Die Menschen von Ninive glaubten der Botschaft und fasteten und beteten drei Tage lang zu Gott, damit er ihnen ihre bösen Taten vergibt. Als Gott Ninive daraufhin nicht zerstörte, wurde Jona sauer, und Gott gab ihm eine Unterrichtseinheit darüber, dass er Mitleid mit den vielen Menschen und Tieren in der Stadt haben soll. Wer diese Geschichte noch nicht kennt, sollte das Buch Jona in der Bibel jetzt lesen, z.B. hier.
Die Geschichte von Jona spricht mich an: Jona macht so ziemlich alles falsch, was man als Prophet falsch machen kann: Er rennt davon und hat keine Lust, Gottes Botschaft den Menschen zu sagen. Er hat kein Mitgefühl mit den Menschen und redet nur über Gott, wenn er dazu gezwungen wird - und dann in einer ziemlich unsensiblen Art. Trotzdem glauben die Menschen auf sein Wort hin an Gott: die Schiffsbesatzung, der er sagt, dass er den Gott verehrt, der das Meer und das Land geschaffen hat und dass der Sturm kam, weil er vor ihm auf der Flucht ist; und die Leute von Ninive, die auf seine Mini-Predigt hin (es sind nur fünf Worte im hebräischen Text!) zu Gott umkehren. Gott treibt viel Aufwand, um seinen störrischen Propheten zur Raison zu bringen: er schickt den Sturm, den Fisch und die schattenspendende Pflanze. Er gibt Jona nicht auf und genauso wenig die vielen Menschen, die ohne ihn leben und „rechts und links nicht unterscheiden können“. Das Buch Jona zu lesen, macht Spaß, weil es spannend und eingängig geschrieben ist, voll von Übertreibungen, Ironie und Humor.
Die
Hochschultheologie ist sich weitgehend einig darüber, dass das Buch
Jona nicht als historisch zu betrachten ist. Man begründet dies u.a.
damit, dass das Buch Jona keine historischen Zeitangaben mache, dass
das Überleben Jonas in einem Fisch (oder Wal) oder das superschnelle
Wachstum der schattenspendenden Staude nicht möglich sei und dass
das historische Ninive nur eine 12 Kilometer lange Stadtmauer hatte
und nicht einen Durchmesser von drei Tagesreisen. Das Buch sei auf
die persische oder hellenistische Zeit zu datieren (also das 5.-3.
Jh. v. Chr.) und sei eine Lehrerzählung. Auch eine sprachliche
Analyse des Buchs spreche für die späte Datierung. (Diese Dinge
kann man auch im Wikipedia-Eintrag zu Jona nachlesen.)
Bibeltreue Christen vertreten dagegen oft die Meinung, dass man diese Geschichte als historische Tatsache auffassen muss. Hierfür werden eine Reihe von Gründen genannt:
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Die Bibel als Wort Gottes ist zuverlässig.
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Jona, der Sohn Amittais, wird als historische Person des 8. Jh. v. Chr. in den biblischen Geschichtsbüchern erwähnt: Im zweiten Buch der Könige (Kapitel 14 Vers 25) steht folgendes: „Er (d.h. der König Jerobeam II) stellte wieder her das Gebiet Israels von dort, wo es nach Hamat geht, bis an das Meer der Araba nach dem Wort des HERRN, des Gottes Israels, das er geredet hatte durch seinen Knecht Jona, den Sohn Amittais, den Propheten, der von Gat-Hefer war.“
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Sogar Jesus bezieht sich auf das Buch Jona, wenn er von seiner Auferstehung und dem künftigen Gericht spricht. Im Matthäusevangelium steht im 12. Kapitel: „Ein böses und ehebrecherisches Geschlecht fordert ein Zeichen, und es wird ihm kein Zeichen gegeben werden außer dem Zeichen des Propheten Jona. Denn wie Jona drei Tage und drei Nächte im Bauch des Fisches war, so wird der Menschensohn drei Tage und drei Nächte im Herzen der Erde sein. Die Leute von Ninive werden auftreten beim Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen; denn sie taten Buße nach der Predigt des Jona. Und siehe, hier ist mehr als Jona.“ Die Jona-Geschichte wird daher oft als eine prophetische Begebenheit gesehen, die auf Jesus hinweist.
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Die Möglichkeit der Ereignisse des Buchs Jona wird verteidigt: Manchmal wird eine Begebenheit aus dem 19. Jahrhundert zitiert, bei der angeblich tatsächlich ein Seemann von einem Pottwal verschluckt und Stunden später, nachdem der Wal gefangen und getötet war, lebendig in seinem Magen gefunden wurde. Man diskutiert auch die maximale Wachstumsgeschwindigkeit von Pflanzen, um das Ereignis mit der Staude aus dem vierten Kapitel zu erklären. (Doch alternativ könnte man hier auch Wunder postulieren.)
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Der evangelikale Alttestamentler Gleason L. Archer, der wohl einer der prominentesten und kompetentesten Vertreter der Irrtumslosigkeit der Bibel ist, argumentiert außerdem, dass die Sprache des Buchs Jona ins 8. Jh. v. Chr. passt und dass man zu Ninive das erweiterte Stadtgebiet mit den Vororten dazurechnen sollte. (s. sein Buch „A Survey of Old Testament Introduction“)
Doch diese Argumente bibeltreuer Christen für die Historizität des Buchs Jona gehen m.E. an dem Hauptpunkt vorbei: Was ist der Stil und Charakter des biblischen Textes? Erhebt der Text selbst den Anspruch, historisch zu sein? Oder verrät er durch seine Stilmerkmale, dass er mit einer anderen Intention geschrieben ist? Lassen wir einen Experten für antike und mittelalterliche Literatur zu Wort kommen, der gleichzeitig in evangelikalen Kreisen als Apologet des traditionellen christlichen Glaubens geschätzt wird: C.S. Lewis, Professor für Literatur des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Cambridge, schrieb über das Buch Jona folgende Anmerkung: „Jonah, a tale with as few even pretended historical attachments as Job, grotesque in incident and surely not without a distinct, though of course edifying, vein of typically Jewish humour.“ Diese Anmerkung findet sich bezeichnender Weise in einem Text, in dem er die Glaubwürdigkeit dessen, was die Evangelien über Jesus berichten, verteidigt: Der Text hat den Titel „Fern-Seed and Elephants“ und ist z.B. hier zu finden. (In der deutschen Ausgabe des Johannes-Verlags lautet er „Geblök eines Laien“.) Gehen wir die Punkte von C.S. Lewis durch:
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„A tale with as few even pretended historical attachments as Job“, also „Eine Erzählung mit ebenso wenigen auch nur scheinbaren historischen Bezügen wie das Buch Hiob“: Ein Lesen des Buchs Jona unter diesem Gesichtspunkt zeigt es: Es fehlen viele Angaben, die ein Schreiber historischer Ereignisse machen würde und die man in anderen Texten des Alten Testaments findet, nämlich wann Gott zum ersten und zum zweiten Mal zu Jona sprach, welche Könige in Israel und Ninive zu der Zeit regierten, u.ä.
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„Grotesque in incident“, also „Die geschilderten Ereignisse sind grotesk“: In der Tat scheint vieles verzerrt und übertrieben: Jonas schlimmstmögliches Verhalten als Prophet; die sofortige Bekehrung der Seeleute und später der Leute aus Ninive; selbst die Tiere fasten in Sack und Asche; die wundersamen Episoden vom Fisch und der Staude.
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„Surely not without a distinct, though of course edifying, vein of typically Jewish humour.“ übersetzt: „Gewiss nicht ohne eine deutliche, natürlich erbaulichen Zwecken dienende Beimischung von typisch jüdischem Humor“. Man muss tatsächlich an vielen Stellen schmunzeln: Jona flieht genau in der entgegengesetzten Richtung, in die er gehen soll; er schläft, während die Seeleute um ihr Leben bangen, und muss von einem Heiden dazu aufgefordert werden, seinen Gott anzurufen; er glaubt, durch den Tod Gottes Auftrag zu entrinnen, doch der Fisch hindert ihn daran; als Gott Ninive nicht zerstört, macht Jona ihm Vorwürfe und sagt, das hätte er schon so kommen sehen; er hat kein Mitleid mit den Leuten von Ninive, aber mit der Staude, die so schnell vergeht.
All dies spricht auch in meinen Augen dafür, dass dies ein mit erbaulicher und unterweisender Absicht geschriebenes literarisches Werk ist. Wenn es so ist, stellt sich dennoch die Frage, ob es einen historischen Kern gibt. Da die Geschichte an eine historische Person (Jona, Sohn des Amittai, der im zweiten Königebuch erwähnt ist) anknüpft, ist es denkbar, dass sie eine langjährige Überlieferung über diesen Jona aufgreift und literarisch und didaktisch verarbeitet. Doch diese Frage ist für mich sekundär, da mich der Text in jedem Fall als Gottes Wort anspricht und mir Impulse für meinen Glauben gibt. Die göttliche Inspiration eines Textes muss nicht an ein wortwörtliches Verständnis gebunden sein. Gott kann auch Schreiber anderer Textsorten außer Tatsachenberichten inspirieren.
Wenn die Geschichte über Jona ein Lehrstück ist und sich nicht so wie beschrieben ereignet hat, was bedeutet das für die oben zitierten Aussagen Jesu über Jona und Ninive? Hier gibt es mehrere Denkmöglichkeiten: (a) Zumindest die Episode mit dem Fisch und die Bekehrung der Leute von Ninive durch Jonas Predigt haben sich tatsächlich ereignet. (b) Der Fisch steht symbolisch für eine Todes- und Rettungserfahrung Jonas, und in diesem Sinn ist das Ereignis historisch geschehen. (c) Jesus weiß zwar, dass die Geschichte nicht historisch ist, aber er benutzt sie, um seine Botschaft durch ein allen bekanntes Beispiel zu unterstreichen und zu veranschaulichen, ohne dass es hierbei wichtig ist, ob diese Geschichte tatsächlich so passiert ist. (d) Jesus hat für die Zeit seines Lebens auf der Erde die göttliche Eigenschaft der Allwissenheit aufgegeben und macht seine Aussagen über Jona und Ninive ohne Kenntnis darüber, ob diese Geschichte historisch ist. (e) Jesus hat diese Dinge nie gesagt, sondern sie wurden ihm später von der Gemeinde in den Mund gelegt.
Die Antworten (a)
und (e) schließe ich aus, und daher schwanke ich zwischen (b), (c)
und (d). Hier können Sie angeben, welche Antwort Sie bevorzugen.
Doch besser noch als das Diskutieren über all diese Fragen wäre es, die Botschaft des Buches Jona einfach mit in den Alltag zu nehmen. Mir sagt das Buch Jona insbesondere drei Dinge: Erstens: Ich darf darauf vertrauen, dass Gott auch mich mit großer Liebe und Beharrlichkeit dorthin bringt, wo er mich haben will, so wie er es mit Jona getan hat. Zweitens: Selbst wenn meine Versuche, anderen Menschen von Gott zu erzählen, unvollkommen sind, kann Gott dadurch diese Menschen ansprechen, so wie die Seeleute auf dem Schiff und die Leute von Ninive. Drittens: Gottes Liebe und Erbarmen gelten allen Menschen, und er will, dass auch ich beides ausstrahle.
P.S. Die Geschichte aus dem 19. Jahrhundert über den Mann, der im Magen eines Pottwals überlebte, scheint übrigens nicht historisch zu sein. Eine sehr ausführliche Untersuchung dieser Geschichte durch einen theologisch konservativen Autor findet man hier.