Harald Lesch und der Sinn des Lebens

In der zweiten Folge der Doku-Reihe „Die großen Fragen“ mit Harald Lesch geht es um die Frage: „Was ist der Sinn des Lebens?“

Die Sendung ist ebenso wie die vorige sehr gut gemacht. Harald Lesch beleuchtet als Wissenschaftler von vielen Seiten die Frage nach dem Sinn des Lebens. Er beginnt mit der Beobachtung, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt. Nur wir Menschen sind uns unserer Vergänglichkeit bewusst. „Es gibt keine größeren Fragen als die nach dem Warum und Wozu.“ Das älteste uns bekannte Schriftzeugnis zur Sinnfrage ist das Gilgemesch-Epos, das vor fast 5000 Jahren auf sumerischen Keilschrifttafeln niedergeschrieben wurde. Der König Gilgamesch begibt sich nach dem Tod seines Freundes auf die Suche nach der Unsterblichkeit und erkennt schließlich, dass er sie nur gewinnt, wenn er die Herzen der Menschen gewinnt. So findet er schließlich den Sinn seines Lebens darin, ein guter König zu sein.

Über die Jahrhunderte haben sich viele Philosophen mit der Sinnfrage auseinander gesetzt. Der Philosoph Aristoteles sah den Sinn des Lebens ddarin, Glück zu erleben, Kant dagegen sah ihn in der Pflichterfüllung.

Wir Menschen haben offensichtlich eine genetisch angelegte Neigung dazu, überall eine Bedeutung zu sehen: Wer hat nicht schon in Wolkenformationen oder in bizarr geformten Ästen oder zufälligen Dreckmustern ein Gesicht oder ein Tier erkannt? Selbst das Baby im Mutterleib reagiert schon auf bestimmte Muster: Wenn es ab dem 7. Monat die Augen geöffnet hat, verfolgt es Lichtpunkte, die auf die Oberfläche der Gebärmutter projiziert werden, mit den Augen – aber nur wenn es drei Punkte sind, die in einem Dreieck wie Augen und Nase in einem Gesicht angeordnet sind. Harald Lesch sagt dazu: „Wir wollen unserer Umwelt Sinn verleihen“ (14:00). In der Natur bestimmte Muster zu erkennen sei nützlich, denn „wer einen Feind sofort erkennt, der überlebt.“ Daher sei es besser, zu oft einen Feind zu vermuten, als ihn zu übersehen: „Für unsere Vorfahren war es besser, die Welle für einen Hai zu halten, als den Hai mit einer Welle zu verwechseln.“

Allerdings warnte uns der Philosoph Platon mit seinem berühmten Höhlengleichnis davor, das für die Wirklichkeit zu halten, was wir zu sehen glauben. Platon meinte, dass wir nicht mit den Sinnen, sondern nur mit dem Verstand die wahre Natur der Dinge erfassen können.

Die menschliche Fähigkeit, den Verstand zu gebrauchen, benutzt Lesch als Brücke zur biologischen Forschung. Was lernen wir durch das Erforschen der Natur über den Sinn des Lebens? In der Natur erkennen wir Zweck und Sinn. Lebewesen verhalten sich so, dass sie besser überleben. „Ist also Überleben der Sinn des Lebens“? Nein, denn sonst würden sich nicht viele Tiere für ihren Nachwuchs opfern, wie z.B. die Tintenfische, die nach dem Laichen die Eier bewachen und dabei verhungern. Geht es also um die Erhaltung der Art, wie man lange glaubte? Nein, denn sonst würden Löwen nicht die Jungen besiegter Männchen umbringen. Sie tun dies, damit sie sich schneller mit den Weibchen des Ermordeten paaren können und eigenen Nachwuchs produzieren können. Geht es also um die Vermehrung der eigenen Gene? Dieser Frage geht Lesch anhand von uns Menschen nach. Welche Motive haben diejenigen Menschen, die viele Kinder bekommen? Mit dem Filmteam besuchen die Zuschauer eine Familie mit 8 Kindern. Die Eltern erzählen, dass es ihnen darum geht, Liebe zu geben und zu empfangen, nicht um die Vermehrung der Gene. Lesch verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass wir aus dem Mechanismus des Lebens nicht auf den Sinn des Lebens schließen dürfen. Das wäre ein sogenannter „naturalistischer Fehlschluss“. Die Wissenschaft beschreibt nur, was ist, nicht was sein soll (Minute 26).

Die Frage, wie wir Menschen die Freiheit, unser Leben zu gestalten, nutzen, leitet zum letzten großen Thema des Films über: Wir sind soziale Wesen und möchten zu einer Gemeinschaft gehören. Viele Menschen finden Sinn darin, dass sie anderen helfen. Diese Neigung scheint in unseren Genen zu stecken. Im vergangenen Jahrhundert wurde in Sibirien ein interessantes Zuchtexperiment mit Silberfüchsen durchgeführt. Diese Füchse sind besonders agressiv. Man wollte testen, ob sie sich zähmen lassen, indem man in jeder Generation die am wenigsten agressiven Füchse miteinander paart. Schon nach 10 Generationen wurden die Füchse so zutraulich wie Haustiere und waren viel weniger agressiv. Gleichzeitig veränderte sich ihr Schädel und wurde runder und kürzer. Der Testosteronspiegel, der auch die Schädelform beeinflusst, wurde niedriger. Genau diese Entwicklung beobachtet man auch an menschlichen Schädeln der letzten 200.000 Jahre. Diese Schädel wurden immer weicher in ihren Konturen. Aus einem gestreckten Kopf mit langer Nasenlinie wurde ein rundliches, kompaktes Gesicht. Herr Lesch erklärt das damit, dass Frauen fürsorgliche Männer bevorzugten, die Mutter und Kinder nicht im Stich lassen. Daher bekamen diese Männer mehr Kinder. Auch für die Jagd war Kooperation wichtig.

Es liegt also in unserer Natur, uns für andere einzusetzen. Der Sinn des menschlichen Lebens liegt trotzdem nicht für jeden im sozialen Engagement. Herr Lesch betont, dass wir uns von der Biologie entkoppelt haben und selbst unseren Sinn erschaffen können, z.B. auch durch Kunst oder Musik oder das Erleben der Natur. „Es gibt nicht den einen Sinn, der für alle gilt“ (39:15). Dann stellt er die wichtige Frage „Was, wenn uns diese Freiheit [unseren Sinn selbst zu schaffen] genommen wird? Wenn die Welt über uns zusammenbricht?“, zum Beispiel durch Krieg. „Der zweite Weltkrieg stürzt die Welt in die größte Sinnkriese der Moderne. Das Ausmaß an Leid und Vernichtung erschüttert alles, was als sicher galt.“ Ab dieser Stelle wurde die Sendung für mich enttäuschend. Hier hätte ich erwartet, dass Lesch Beispiele von Menschen bringt, die in schlimmem Leid erleben, dass der Glaube Halt und Hoffnung gibt. Menschen, in denen eine Kraft sichtbar wird, die das menschliche übersteigt und die sogar anderen Menschen Trost geben können. Menschen, die aufgrund der Hoffnung auf die Ewigkeit den Verlust dessen, was ihnen bisher wertvoll war, verarbeiten können. Hier hätte man wunderbar die Brücke zur ersten Sendung und der Frage nach Gott bauen können. Wenn es Gott gibt und wenn jeder Mensch von Gott gewollt und geliebt ist, dann hat unser Leben auch einen objektiven Sinn. Doch stattdessen verweist Lesch auf Camus, der den Mythos von Sisyphos für die Sinnfrage heranzieht: Sisyphos stellt nicht die Frage nach dem Sinn, sondern nimmt sein Leben so, wie es ist. „Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen“, sagt Camus. Lesch meint allerdings dazu, dass glücklich sein allein nicht ausreiche, denn erst das Sinnempfinden verleihe unseren Glücksempfinden Tiefe und Substanz. Das ist auch wissenschaftlich belegt: Sinnfinder leben länger und gesünder. Es steckt Kraft in der Suche nach dem Sinn. Lesch schließt mit den Worten: „Die Frage nach dem Sinn des Lebens hat viele Anworten. Wir entscheiden selbst, welchen Sinn wir unserem Leben geben wollen. Und auch, wenn wir ihn noch nicht gefunden haben: Wir müssen uns nur auf die Suche begeben. Das ist der Sinn des Lebens.“

Das wäre mir vor allem jetzt in meiner Krankheitszeit nicht genug. Ich verbringe immer noch viele Stunden täglich auf dem Bett und bin von meinem bisherigen Leben nun schon seit fast einem Jahr weitgehend abgeschnitten. Wenn mein Leben keinen objektiven Sinn hätte, der unabhängig von allen Lebensumständen gilt, warum sollte ich dann weiterleben, wenn mir das genommen ist, was mich bisher erfüllt hat? Im ersten Teil der Sendung erweckte Lesch den Eindruck, als würde es ihm auch um einen objektiven Sinn gehen: „Ich bin doch wichtig, oder? Warum bin ich denn sonst auf der Welt?(6:20) Lesch verweist darauf, dass die Menschen lange Zeit die Antwort auf die Sinnfrage im Himmel und den Sternen gesucht haben. Er erwähnt sogar die Weihnachtsgeschichte und den Stern von Bethlehem: „Vor rund 2000 Jahren kündigt im Nahen Osten ein besonders heller Stern ein Ereignis an, das die Welt verändern sollte“ (6:56). Vielleicht hatte Lesch ja vor, am Ende der Sendung darauf zurück zu kommen. Wurde dieses Ende Opfer der fixen Idee, dass die Sendung genau 42 Minuten und 42 Sekunden dauern soll?

Über die Grenzen der Wissenschaft und den naturalistischen Fehlschluss, also die Verwechslung von „Sein“ und „Sollen“, hat Einstein eine wichtige Rede gehalten, die ich in einem früheren Blogbeitrag behandelt habe. Ein Beispiel dafür, wie der Glaube in schwerem Leid trägt, findet sich in meiner Besprechung des Buchs „Die Zuflucht“. Eine Liste aller bisherigen Blogeinträge befindet sich hier.

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